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Asche
Seltsam, die alten Stufen hinunterzugehen. Vorbei an Wänden voller Flyern und abgerissenen Plakaten, weiter runter in den Keller, als würde ich nicht selbst gehen, sondern magnetisch angezogen werden von dem, was hinter der Tür liegt. Musik schallt die Treppe hoch, es riecht nach Zigarettenrauch und Bier. Alles ist kleiner geworden, die Stufen, die Gänge. Vielleicht bin ich zu lange weggewesen, aber ich muss noch einmal herkommen, ein Bier und einen Kurzen trinken, wie früher, und dann raus, vielleicht für immer.
Ich wische die Handflächen an meiner Jeans ab und stoße die Tür auf. Das Session ist leer für einen Freitagabend, hinterm Tresen eine hübsche Bedienung. Sie blickt kurz auf, tut desinteressiert, aber ich merke, dass sie mich gut findet. Ansonsten: Ein paar Barfliegen vor ihren Biergläsern, eine Gruppe Fünfzehnjähriger am Kicker, ein Spielautomat dudelt seine Melodie in die Runde. Alles wie früher, sogar einige der alten Poster hängen noch da.
„Kölsch und ‘nen Klaren bitte.“
Sie lächelt vorsichtig zurück. Während sie das Bier zapft, fällt mein Blick auf ihre enge Jeans. Aber da ist dieses merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden, als würden mich die Gestalten auf den Postern anstarren, Lemmy von Motörhead schaut misstrauisch auf mich herab. Dem echten Lemmy hab ich schon die Hand geschüttelt, aber der hier sieht irgendwie anders aus, bedrohlich. Und ich fühle mich, als müsste ich vor ihm Zeugnis ablegen über mich, über meine Wanderjahre. Ich kippe den Kurzen herunter und verschütte etwas von dem Bier, weil meine Hand plötzlich zittert. Und in dem Moment sehe ich ihn.
Er sitzt im Halbdunkel und ich weiß nicht, warum ich ihn sofort wiedererkannt habe. Alt sieht er aus, die langen blonden Haare sind ab, er trägt ein blaues Hemd und kauert über einem Buch. Er muss mich beim Reinkommen gesehen haben. Ich gehe auf ihn zu.
„Wolfgang?“
Er blickt auf, tut überrascht und ruft:
„Bernd. Das gibt’s ja nicht.“
Er mustert meine tätowierten Arme. „Siehst gut aus“, murmelt er.
„Wie geht’s, Dir?“, frage ich, „komm, Bierchen“, drehe mich um zur Bedienung aber er winkt hastig ab:
„Nur ‘ne Cola.“
Ich schaue in sein Gesicht, suche nach dem, was mich früher so fasziniert hat, und die Vergangenheit überkommt mich.
Es ist fünfzehn Jahre früher, mehr Lärm hier unten, Aufregung, überall Leute, denen ich die Hand schüttele, nach ein paar Jahren in der Szene kennen sie mich. Was waren das für Zeiten 1991, 1992, Metallicas „Black Album“, Guns n‘ Roses „Use Your Illusion“, Schlag auf Schlag, ein Hammeralbum nach dem anderen. Rock n‘ Roll überall, ein neuer Sound, die Achtziger überwunden, aber dann denke ich: Jetzt schummelst Du, Bernd, den Sound hast Du damals nicht bemerkt, hast nur auf die Gitarren geachtet, die Riffs, die Soli, und immer wieder auf Wolfgang, den großen Helden.
Und ich sehe ihn, wie er im Session auf der Bühne steht, ein Solo spielt, pures Feuer, der Randy Rhoads von Bonn, lange Mähne, durchtrainierte Arme, E-Gitarre, sehe, wie die Finger seiner linken Hand über die Bünde huschen, die Saiten ziehen, in der Rechten zuckt das Plektrum unendlich schnell, es ist wie Magie, er beschwört die Noten, immer wieder klassische Arpeggios, verzerrt in der verrauchten Luft, Schlagzeug und Bass im Hintergrund und Wolfgang geht völlig auf in der Musik, die Augen geschlossen, eine unglaubliche Präsenz, ein junger Gott, die Weiber lieben ihn. Und ich denke voller Stolz: Mein Lehrer. Ein bisschen von dem Applaus fällt ja auch auf mich herab, als die Kerle ihre Kippen in den Mund stecken, um die Hände zum Klatschen freizuhaben und die Mädels ihre Gläser in die Höhe recken und jubeln.
Kritik gab’s natürlich auch:
„Zu viel Gefrickel“, knurrte Mark und kippte seinen Schnaps herunter, „bisschen unsauber, die Coverversion von ‚Mr. Crowley‘.“
Und das von meinem besten Freund, dessen Lehrer nirgendwo spielte, höchstens in irgendwelchen Blues-Clubs vor alten, bärtigen Männern! Ich erinnere mich, wie ich vor Wut mein Bierglas auf den Tisch gehauen habe und es zerbrochen ist, irgendwer meinte noch, Wolfgang sei in den Achtzigern hängengeblieben, diese ewige Randy Rhoads-Kopie, das Original sei doch schon mausetot, und dieses klassische Gedudel mache heute niemand mehr. Countryeinflüsse seien in, dreckiger Sound. Aber Wolfgang ließ sich nicht beirren, zog sein Ding durch. Irgendwann kommen mal Buch und Lehrvideo, meinte er. Und ich fragte wann es endlich eine CD gäbe. Abwarten und Bier trinken, die Zeit sei noch nicht reif, die Aktien stiegen, die Leute würden schon noch an seine Tür klopfen.
Und heute spricht er von „dunklen Jahren“, schwierigen Zeiten, musste sich ein bisschen umorientieren, aber jetzt ist alles gut. Er wollte doch immer mal was anderes machen, neue Wege gehen. Und Verwaltungshochschule NRW, das sei schon ziemlich spannend. Da sehe man die Dinge mal mit anderen Augen. Ich trinke einen Schluck. Er nickt. Ich denke an meine Sammlung von E-Gitarren, meine Verstärkerwand, die signierten Alben. Irgendwie hatte ich immer erwartet, dass wir uns einmal wiedertreffen würden, aber nicht so.
„Und Du?“ fragt er.
Ich zucke mit den Achseln: „Wohne in San Francisco. Hab ‘nen Job bei einer Plattenfirma. Musik produzieren und so.“
Er winkt ab.
„Alles Mist, kommt doch nur noch seelenloses Zeugs raus heutzutage. Echte Musik ist verloren gegangen.“
Er schwenkt sein Colaglas, als müsste er die unsichtbaren Zutaten mischen. Ich merke, wie etwas in mir hochkocht.
„Machst Du denn noch Musik mit Seele?,“ frage ich und mustere sein Hemd, seine kurzen Haare.
Er lacht abfällig.
„Leck mich,“ dreht sich zur Kellnerin um: „Jägermeister“.
Er wankt aufs Klo. Der Alkohol bekommt ihm nicht gut. Ich checke mein Blackberry. In Kalifornien ist es jetzt neun Uhr und eine Email nach der anderen kommt rein.
„Pete: Can you take care of this?“ tippe ich, als Wolfgang zurückkommt.
„Was’n das?“ fragt er.
„Blackberry.“
Ich will das Gerät in meine Tasche stecken, aber plötzlich greift er mein Handgelenk.
„Kommst dir vor wie der King, nicht wahr? Stolzierst hier rein mit deinem scheiß Gerät und deinen scheiß Klamotten und meinst, es uns allen zeigen zu müssen.“
Er wedelt mit den Armen. Ein einsamer Trinker blickt auf. Die Bedienung wäscht Gläser.
„Komm Wolfgang, bleib locker,“ sage ich.
„Ich sag dir mal was, Bernd“, ruft er, „als du bei mir in die Gitarrenstunden gekommen bist, da warst du nichts. Gar nichts! Ein kleiner, pickliger Junge, nicht mehr!“
Ich will gerade etwas sagen, da reißt er mir das Blackberry aus der Hand, schmeißt es gegen die Wand und lacht wild. Und dann geschieht es. Ich schlage meine Faust in diese grinsende Fratze hinein, die einmal meinem Lehrer gehörte, links-rechts, er fällt, und als die Bedienung ruft „aufhören!“, da hab ich schon 50 Euro auf den Tisch gelegt, mein Blackberry aufgehoben und bin auf dem Weg nach oben. Und ich weiß, nicht nur Wolfgang, sondern auch Randy Rhoads liegt da auf dem Boden, der junge Gott im Session, alles verloren, auf seinem eigenen Territorium geschlagen, ein Schatten, Asche, nicht mehr, aber ich drehe mich nicht um, nur noch die Treppe hoch und raus hier.
In San Bernardino, Kalifornien, liegt er begraben, der echte Randy Rhoads, jung gestorben, keine dreißig, „wie ein Komet verglüht“, hat Wolfgang mal gesagt. Als ich an einem Frühlingstag von LA zurück nach San Francisco gefahren bin, habe ich den Umweg gemacht, ich musste ein bisschen nachdenken. Stille, Sonne, jemand hatte frische Blumen vors Grab gelegt. Ich empfand nichts. Wolfgang hatte mir erzählt, er sei früher einmal hier gewesen. Aber so richtig habe ich ihm das schon damals nicht geglaubt.