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Atya
„Weißt du“, sagt der gealterte Graf, die Hand in die Seite gelegt, „an mir liegt es nicht“, und glaubt, damit alles geklärt zu haben. Stille folgt. Erst kurz, dann über die Zeit, die es braucht, eine Antwort zu fassen, hinaus. Der Bedienstete, der rechts von der Tür, schweigend, namenlos und bestimmt nicht angesprochen, überlegt, ob er noch Wein holen soll, beschließt jedoch – den Abstieg in den feuchten Keller scheuend - es sein zu lassen.
„Ich mach doch gar nichts. Ich bin einfach da. Ich kann doch erwarten, dass man sich mir gegenüber einigermaßen vernünftig verhält.“ Der Graf überdenkt diesen Satz noch einmal und wiederholt das letzte Wort mit dem akustischen Äquivalent eines Ausrufezeichens. „Verhält!“
Der Graf stellt sein Glas ab und geht mit weichen, eleganten („zu eleganten für einen Mann“, dachte Doris –Gott habe sie selig- die Köchin jedes Mal) Schritten zum Fenstersims. Die Vorhänge.
„Du bist dumm, Edgar“, eine glasklare Stimme durchschneidet den Raum, „Dumm. Dumm und eingebildet“, folge der Spur aus glitzernden Äther, die sie hinterlässt, „aber mach dir nichts draus“, bis zum mit dunkelrotem Samt beschlagenen Sofa, auf dem Valeria, die blutjunge Schwester des Grafen, liegt, „es fällt niemandem auf“.
„Ich werde doch noch Wein holen“, denkt der Butler und lässt den Edgar und die Baronesse allein.
Der Graf am Fenster /die Vorhänge/ blickt auf den Wald hinab. Alles, von dem Schloss bis zu den sich vage am Horizont erhebenden Wäldern, gehört ihm. Alles, einfach alles. Zum Beispiel der Wald. Und der Regen. Edgar liebt den Regen.
Seine Lippen ziehen sich zu einer feinen Linie zusammen. „Ich hasse dieses Wetter.“ „Du siehst auch ganz blass aus“, Valeria setzt sich auf. Ihr Kleid rutscht dabei ein wenig runter und entblößt ihre porzellanfarbene Schulter, „trink mal wieder.“
Er leckt sich über die Zähne: „Ja, ich müsste wirklich mal wieder.“ Die Flagge mit dem Familienwappen hängt schon seit Jahren auf Halbmast. Nach langen, verzweifelten, doch ergebnislosen Versuchen dem Abhilfe zu schaffen, hatte sich Edgar in sein Schicksal ergeben. Seine Flüge wurden kürzer und leidenschaftsloser und am Ende hörte er ganz auf die Burg zu verlassen.
Die Vorhänge, sie sind so weich.
In diesem Augenblick fühlt sich der Butler auf einmal so jung wie noch nie. Es ist, als laufe er die Treppe zum ersten Mal hinunter.
„Ich hab ja sooooo gut geschlafen“, sagt die Baronesse und streckt sich, sichtlich entspannt.
„Ist ja auch fast schon Mitternacht. War wohl spät gestern, Schwesterherz?“ „Schon möglich. Im Gegensatz zu dir führe ich nämlich ein Leben.“ Sie beugt sich vor und das goldene Zeichen über ihrem Dekolltée baumelt hin und her.
„Ich könnte glatt zwei Stufen auf einmal nehmen“, denkt er und – von seiner eigenen Spitzbübischkeit überrascht- tut es auch. „Ha, sogar drei!“
„Der Regen wird auch nicht weniger, er scheint einfach nur kurz Luft zu holen…“ Valeria überlegt, blinzelt, „Du langweilst mich, Edgar. Die Welt ist nicht geschaffen worden, nur um dir das Leben schwer zu machen.“ „Das verzögerte Sterben, meinst du wohl.“ Zieh sie zu, zieh sie bloß zu.
„Ich weiß gar nicht, was ich hatte. Es ist hier gar nicht so feucht.“ Besonders die Stufen scheinen gerade trocken und sicher zu sein, wie …nun ja… etwas, was sehr sicher und trocken ist.
„Was wäre, Schwesterherz, wenn ich eines Tages Appetit auf dich bekäme?“ Dunkelviolett wäre heute gut für die Fingernägel. „Du würdest in mir keinen Tropfen von dem finden, was du suchst. Ich bin wie du, vergiss das nicht.“ Die Brust des Grafen hebt und senkt sich erregt. Er tritt auf sie zu. Die Regenwolken lassen einen kleinen Spalt Mond zwischen sich dringen. „Fass mich nicht an!“ Seine Fingernägel werden länger. Ein Blitz, zu früh, kein Problem. Ihre auch. Ein Blitz, diesmal richtig, und die Erinnerung ist wieder da. Der Mob, der Mob und Vater und Fackeln und der Zug auf das Schloss. Nein, nein, tut das nicht, ihr versteht es nicht. Und Pflöcke und Silber und Papa in die Vorhänge gewickelt. Am Fuße der Treppe. Und Schluss. Edgar beruhigt sich.
„Ich nehme den `12er. Und die letzten Stufen zur Treppe kann ich überspringen!“, und springt los mit einer Motorik die man dem alten Mann nicht zutrauen würde.
„Ist es jetzt nicht sowieso Zeit für, du weißt schon … das Opfer?“, fragt Valeria und streicht sich über das lange, tiefschwarze Haar.
Zu Recht.
Der alternde Graf verdeckt die Fenster. Er atmet in ruhigen, beherrschten Zügen.
„Nicht nötig.“