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Außerhalb der Zeit
Die meisten Geschichten haben einen Anfang und ein Ende. Diese hat nur ein Dazwischen – und vielleicht nicht einmal das.
„Susan.“
Gewimmel in der Einkaufspassage, hunderte Menschen, aber seine Stimme habe ich sofort erkannt. Er sieht mich einfach nur an, mit seinen bernsteinfarbenen Augen. Wie damals. Mitten auf der Straße, ich werde geschoben und gerempelt – und doch sind da nur er und ich. Zwischen uns die vergangenen Jahre.
Er wird gleich gehen, denke ich. Er wird sagen, dass es schön war, mich wieder einmal zu sehen.
„Fahren wir an den See?“ Er fragt, als wäre es völlig normal. Als würden wir ständig zusammen irgendwohin fahren.
Er wird ein bisschen rot und zum ersten Mal löst er seinen Blick von mir und sieht auf den Boden. „Tut mir leid. Blöde Idee.“
„Gerne“, sage ich.
Das Autoradio wummert die aktuellen Charthits vor sich hin. Es ist viel zu laut, um sich zu unterhalten, aber das macht nichts. Worte braucht es nicht, es ist einfach nur schön, dass er da ist.
Draußen ziehen Wälder, Kornfelder und Bauernhäuser vorbei. Die Vergangenheit ist so greifbar, als könnte ich einfach zurückreisen und alles anders machen. Aber so läuft das Leben nicht. Vielleicht gibt es uns eine zweite Chance. Ich muss lächeln. Irgendwo in meinem Hinterkopf sehe ich mich schon im Brautkleid. Aber das wäre keine Chance, sondern ein Märchen.
Der Gedanke, er könnte längst verheiratet sein, sticht plötzlich in meinem Herz. Vielleicht ist er ein Familienvater, der ein bisschen Abwechslung sucht. Meine Hände beginnen unkontrolliert zu zittern. Ich werde wütend und stelle das Radio abrupt ab.
Er sieht mich an und da sind Fragen in seinen Augen. Er sagt nichts und wendet seinen Blick wieder der Straße zu. Ich beginne zu schwitzen.
„Das Gedudel macht mich wahnsinnig“, sage ich, weil ich das Gefühl habe, irgendetwas sagen zu müssen. Er nickt nur.
Die Sonne ist schon längst hinter dem Horizont verschwunden, als wir uns auf einen Steg setzen und unsere Beine in das Wasser baumeln lassen.
Wir sitzen nah beieinander, zu nah. So nah, dass ich seinen Atem spüren kann. Nur eine kleine Bewegung und ich könnte seine Haut berühren und meine Finger in seinem weizenblonden Haar vergraben. Er sieht mich an. Seinen Blick zu ertragen fällt mir schwer und ich starre in den Himmel und lasse meine Beine so heftig baumeln, dass ich uns nass spritze. Wir lachen.
Und dann ist es wieder still und ich kann den Mond sehen, der zwischen ein paar Birken hindurch spitzelt. Wir müssen reden, denke ich.
Er räuspert sich, öffnet den Mund, schließt ihn wieder, streicht mit den Fingern über das Holz und ich weiß, dass er gleich etwas sagen wird, aber ich weiß nicht, ob ich es hören möchte. Er kramt aus seiner Hosentasche eine zerdrückte Zigarettenschachtel heraus.
„Möchtest du?“
„Du rauchst?“, frage ich.
„Nicht wirklich. Manchmal.“
Ich nehme eine Zigarette und lehne mich rauchend an ihn. Damals, denke ich, saßen wir auch so da.
Es war kalt und sein Arm lag auf meiner Schulter. Irgendwo in der Nähe: laute Musik und grölende Klassenkameraden. Schulabschluss, Zeltparty und vor uns die große Freiheit. Sie schmeckte bitter an jenem Abend. Ich wusste nicht, wohin mein Weg mich führen würde, in welche Stadt, zu welchem Studium. Nur eines wusste ich: Er hatte in meiner Zukunft keinen Platz.
Vielleicht denkt er gerade auch an diesen Abend. Vielleicht hört er noch einmal die Worte, die ich damals sagte. Dass es keine Chance für uns gibt, Jans wegen. Weil Jan der Richtige ist, während er mir nur ein bisschen Herzklopfen und ein paar wehmütige Träume bedeutet. Ich möchte gerne reden, darüber, dass ich mich schon ein paar Monate später von Jan getrennt habe. Aber es spielt keine Rolle.
„Hast du es je bereut?“, fragt er mich. Seine Stimme klingt beiläufig, aber das Schimmern in seinen Augen zeigt, wie wichtig es ist. Mehr als nur eine Frage.
„Manchmal“, sage ich.
Aber nicht oft, denke ich. Wie viel Platz kann das Bereuen einnehmen, wenn man mit dem Menschen nur ein paar flüchtige Augenblicke geteilt hat?
Ich denke gelegentlich an ihn, wenn ich nachts nicht schlafen kann und an jenen Tagen, die einem all die vergebenen Chancen des Lebens vorhalten.
„Schade, dass wir nicht die Zeit zurückdrehen können“, flüstere ich. Es ist ein blöder Satz, ich weiß das.
„Möchtest du das wirklich?“
„Nein.“ Wir grinsen und die Geister verschwinden wieder in der Vergangenheit. Er klopft mir auf die Schultern, als ich mich am Rauch verschlucke.
„Du kannst immer noch nicht rauchen“, sagt er.
„Und ich fühle mich wie siebzehn.“
„Komm“, sagt er, steht auf und hilft mir hoch. „Wir bleiben heute Nacht hier.“
„Hier? Es ist viel zu kalt.“
„Da hinten ist ein Gartenhaus.“
„Wem gehört es?“
Er zuckt nur mit den Schultern, ich muss kichern und jetzt fühlt es sich wirklich an, als wäre ich in die Vergangenheit gereist.
Er sieht unter Steinen nach und hebt schließlich mit einem triumphierenden Lächeln den Schlüssel hoch.
„Wusste ich es doch“, sagt er.
Meine Hände sind feucht und mein Herz klopft viel zu schnell. Es hilft auch nichts, dass ich mir in Erinnerung rufe, dass ich inzwischen erwachsen bin.
Die Luft in dem Häuschen ist abgestanden, ich taste nach dem Lichtschalter.
„Nicht“, sagt er. „Vielleicht gehört das Haus jemandem in der Nähe.“
Er schließt die Tür hinter uns und versperrt sie von innen. Es ist dunkel und ich kann ihn kaum sehen, nur fühlen kann ich ihn. Und dann nimmt er mich in den Arm. Er hält mich ein bisschen fester, als es nötig wäre und ich spüre seinen Herzschlag und seinen Atem. Und ich rieche ihn, seine Haut, ein Geruch, für den ich keinen Namen kenne. Ich weiß nur, dass ich ihn schön finde.
Am anderen Ende des Häuschens finden wir ein Matratzenlager. Er legt sich hin und ich kuschle mich ganz dicht an ihn. Vor ein paar Minuten dachte ich noch, wir würden miteinander schlafen. Jetzt weiß ich, dass es dazu nicht kommen wird. Es genügt auch so. Einfach bei ihm zu liegen und sich für einen Moment vorzustellen, dass es immer so sein könnte. Jeden Abend.
Der Zauber ist verflogen, als wir am nächsten Morgen aufstehen. Ich bin nicht mehr siebzehn Jahre alt. Sein Blick weicht meinem verlegen aus. Und während ich gestern mit der Stille zufrieden war, so überschlägt sich heute meine Stimme. Ich rede und rede und all das, obwohl es nichts mehr zu sagen gibt.
Schweigend sitzen wir im Auto und ich sehe ihn noch einmal an. Und ich versuche den Menschen hinter seinen schönen Augen zu finden, aber es gelingt mir nicht. Weil ich ihn nie kannte.
Ich möchte weinen, und weiß nicht einmal genau warum. Vielleicht, weil ein wir nur außerhalb der Zeit existiert.
„Schade“, sagt er, als er vor meinem Haus anhält. Sanft berühre ich ihn an der Wange und mein Herz trickst mich pochend aus, spielt mir vor, dass es doch eine Chance geben könnte. Er beugt sich vor und unsere Lippen treffen sich. Vielleicht irgendwann, denke ich.