Auf dem Dach
Wie tief es da nach unten geht. Die Autos sehen aus wie Spielzeuge. Und die Kinder auf dem Spielplatz sind nur kleine bunte Ameisen. Sie buddeln im Sand und turnen auf dem Klettergerüst herum, von dem die Farbe schon vor langer Zeit abgeblättert ist. Einige Mütter sitzen auf der Bank daneben. Sie nutzen die Pause von der Hausarbeit, um zu rauchen und den neusten Tratsch auszutauschen.
Ob sie auch über mich reden? Ob sie es schon wissen?
Zwei Kinder fangen an zu streiten und sich mit Sand zu bewerfen. Dann beginnt das eine Kind zu weinen, weil es Sand im Auge hat. Die Mutter geht hin, um es zu trösten und um auf die andere Mutter zu schimpfen, die ihr Blag nicht erzogen hat. Die schilt daraufhin ihr Kind aus, das prompt auch zu weinen anfängt. Mit dem heulenden Nachwuchs an der Hand gehen die Frauen in das Hochhaus zurück, nicht ohne sich weiter zu zanken. Die Stimmen dringen nicht bis hier hoch, doch das stumm ablaufende Theater ist mir so vertraut, dass ich fast glaube, die Worte hören zu können.
Wie winzig sie aussehen und wie unwichtig ihre Probleme von hier oben scheinen. Wenn ich unten gewesen wäre mit meiner kleinen Schwester, hätte ich ordentlich mitgeschimpft und sie gegen die anderen verteidigt. Jetzt erscheint es mir fast unwirklich, daß man sich über solche Kleinigkeiten so aufregen kann.
Niemand weiß, daß ich hier oben bin. Wie lange wird es dauern, bis sie mich vermissen? Wer wird mich vermissen?
Das Maul werden sie sich zerreißen. Sie haben es ja schon immer gewußt, daß aus mir nichts werden kann, werden sie sagen.
Ein kleiner Ameisenmann geht zu seinem Auto, steigt ein und fährt weg.
Einmal ist eine Katze aus dem Fenster gefallen, aus dem achten Stock. Sie ist in den Büschen gelandet und hatte nur ein paar Kratzer. Nach ein paar Tagen turnte sie schon wieder auf dem Fensterbrett herum, ohne Angst vor der Tiefe. Ich weiß nicht, ob ich sie für ihrem Mut bewundern soll. Vielleicht ist sie ja einfach nur zu dumm, um zu begreifen, wieviel Glück sie hatte und daß sie beim nächsten Fehltritt tot sein kann. Aber manchmal glaube ich, die Dummen sind eh die glücklichsten, weil sie sich nie Gedanken darüber machen, was alles passieren kann.
Ich habe mir so viele Gedanken gemacht über mein Leben, was ich alles erreichen will und vor allem darüber, wie ich aus der Hochhaussiedlung herauskomme. Und dann, wenn ich es richtig geschafft habe, komme ich zurück in einem großen Wagen und mit teurer Kleidung und dann würden alle sagen, ich habe es ja immer gewußt, aus der wird mal was werden. Und ich hätte Geschenke mit und würde von Partys erzählen, wo Champagner getrunken wird statt Bier und alle würden mich beneiden.
Wie es wohl ist, so durch die Luft zu fliegen? Ob es einem vorkommt wie in Zeitlupe und das ganze Leben vor einem abläuft, wie immer behauptet wird? Aber welches Leben soll da schon ablaufen? Ich fange doch gerade erst an und habe trotzdem das Gefühl, es wäre schon vorüber. Die Weichen sind gestellt. Keine Karriere, Windeln wechseln statt Schulabschluß und Sozialhilfe statt selbst verdientem Geld.
Es ist so unfair. Jeder macht mal einen Fehler, aber warum muß ich so sehr dafür büßen? Ein Kumpel von mir ist betrunken Auto gefahren, dabei konnte er kaum noch stehen. Seinen Wagen hat er zu Schrott gefahren, aber da er den Führerschein danach eine Weile los war, mußte er ja eh den Bus nehmen. Und jetzt macht er eine Lehre zum Kfz-Mechaniker. Damit er den nächsten Wagen selbst reparieren kann, sagt er.
Und eine Freundin von mir wollte unbedingt mal Drogen ausprobieren und hat Fliegenpilze gegessen, weil die angeblich high machen sollen. Sie hat aber bloß furchtbaren Durchfall bekommen. Inzwischen kifft sie regelmäßig, aber keinen interessiert es. Sie weiß auch schon, wo sie nach der Schule hingeht. Eine Gärtnerei nimmt sie. Sie meint, dann könnte sie lernen, wie man Hanf anbaut. Ich glaube, sie wird eher lernen, wie man sich bückt und endlos Unkraut zupft. Aber immerhin kommt sie raus hier, wenn auch mit schmutzigen Fingernägeln.
Es wird schon langsam dunkel. Vermißt mich denn immer noch niemand? Wie es wohl ist, wenn ich vermißt gemeldet werde? Ob sie mit Blaulicht kommen und die ganze Umgebung absuchen? Nein, das machen sie wohl eher bei kleinen Kindern. Ein Teenager, der über Nacht wegbleibt, ist noch kein Grund zur Sorge. Und wenn ich eh schon schwanger bin, was soll da noch passieren?
Wie es wohl ist, wenn man auf dem Boden aufschlägt? Ob mein Kopf aufplatzt wie eine Milchtüte? Vielleicht lande ich auch mit den Füßen zuerst und breche mir die Beine oder den Rücken. Dann sitze ich den Rest meines Lebens im Rollstuhl. Ob das Baby den Sturz wohl überleben würde? Bestimmt nicht. Dann säße ich einsam in meinem Rollstuhl und wünschte, daß ich das Kind noch hätte, weil ich so alleine bin. Aber bei der Höhe bin ich sicher tot.
Bald ist es so dunkel, daß ich den Boden nicht mehr sehen kann.
Wer wird mich wohl finden? Der Bäcker aus dem dritten Stock, der immer mitten in der Nacht zur Arbeit gehen muß oder morgens die Kinder auf dem Weg zur Schule? Oder ist der Aufprall so laut, daß alle gleich herausgerannt kommen? Nein, sicher gibt das nur einen dumpfen Schlag, wie ein nasser Sack. Und mein Lieblings-T-Shirt wird zerrissen und voller Blut sein. Ich hätte heute etwas anderes anziehen sollen, dann könnte meine Schwester das Hemd bekommen. Ihr hat die Sonnenblume darauf immer gut gefallen. Aber wahrscheinlich würde sie es eh nicht tragen. Wer trägt schon die Kleidung einer Toten? Bestimmt kommen die Sachen in die Altkleidersammlung. Und der Rest kommt in den Müll. Meine Muschelsammlung im Badezimmer stört Mama sowieso immer beim Putzen. Dann wird alles, was ich gern habe, weggeworfen und nichts erinnert mehr daran, daß es mich einmal gab.
Ob mich jemand vermissen wird? Mama und meine Schwester sicherlich. Papa nicht. Wie soll man auch jemanden vermissen, den man nie sieht? Und der Vater meines Kindes wird froh sein, so einfach aus der Affäre zu kommen. Wie konnte ich ihm nur vertrauen? Er ist genauso verantwortungslos wie mein eigener Vater. Ich habe mal gehört, Frauen würden sich immer Männer suchen, die wie ihre Väter sind, aber ich dachte, da ginge es um das Aussehen und in der Hinsicht sind sich die beiden ja gar nicht ähnlich.
Nie sieht man Sterne hier. Selbst wenn keine Wolken am Himmel sind, kommt von den Straßenlaternen und den Fenstern zu viel Licht, um die Sterne zu sehen. Nur der Mond, den kann man sehen.
Ob mir das Baby wohl ähnlich sehen wird? Vielleicht bekommt es seine Augen, die mal so liebevoll gucken können und mal so kalt. Ich hoffe, es bekommt meine Nase. Ich mag meine Nase. Obwohl die für einen Jungen zu niedlich wäre. Ob es ein Junge wird? Dann muß ich mit ihm auf Bäume klettern üben und Fußball spielen gehen. Oder es wird ein Mädchen, das genauso guten Schokoladenkuchen backt wie meine Mutter.
Oder es wird ein Mädchen, das große Pläne hat und sich dann von einem Mistkerl mit hübschen Augen schwängern läßt.
Aber ich werde gut auf sie aufpassen. Und wenn es ein Junge wird, werde ich ihm beibringen, daß man Mädchen anständig behandelt. Und wenn mein Kind etwas größer ist, werde ich mir eine gute Arbeit suchen und mein eigenes Geld verdienen und dann komme ich hier heraus.
Und meine Muschelsammlung nehme ich mit.