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Aufbruch in die Neue Welt
Wo wären wir heute, wenn man zu Kolumbus gesagt hätte: Christoph, bleiben Sie hier. Warten Sie mit Ihrer Entdeckungsreise, bis unsere wichtigsten Probleme gelöst sind…. Bill Gates
„Sanctissimus Pater, gestatten Sie eine Betrachtung der Historie. Sie wird es uns erlauben, die neuen Entwicklungen richtig zu erfassen. Nur über die Historie gewinnen wir eine richtige Einschätzung…“ Papst Innozenz VIII. hob leicht den Kopf und sah Kardinal Rodrigo mißtrauisch an. Er blickte in die Runde. Die übrigen Kardinäle mochten ihm mit ihren Blicken weder Zustimmung noch Ablehnung signalisieren. Innozenz ergriff das Wort:
„Wir haben nun 500 Jahre gekämpft, um dem Mittelmeerraum und Europa die heilige Botschaft zu überbringen. Noch immer regt sich Widerstand. Wenn jetzt etwas Neues hinzutritt, verlieren wir die Kontrolle. Seit rund eintausend Jahren liquidieren wir jede Nachricht von den Ländern jenseits des großen Meeres. Wir haben die ptolomäischen Karten aus Alexandria sicher unter Verschluß. Die phönizische Literatur und ihre Wissensträger sind ebenso ausgeschaltet wie die kykladischen Abenteurer. Mehrere Jahrhunderte lang haben wir in allen großen Häfen Kundschafter postiert gehalten, die jeden Neuankömmling von den fernen Ländern sofort gemeldet haben. Anfangs haben die Menschen aus Lima und auf den karibischen Inseln Kundschafter nach Cadiz, Alexandria und Naxos entsandt, um nachzufragen, warum der Kontakt ausblieb. Wir haben niemanden zurückkehren lassen; so haben sie ihre Nachforschungen schließlich aufgegeben. Ich sage Euch: Die Welt, unsere Welt, ist sicherer in den Grenzen, die sie heute innehat.“
Einige Kardinäle räusperten sich. Rodrigo erhob sich von seinem Stuhl:
„Sanctissimus Pater, meine lieben Brüder“, er sah beschwörend in die Gesichter der Kardinäle, „wir stehen an der Schwelle zu einer neuen Zeit. Schon verbreitet sich die Kunde, daß Fischer von den Kanarischen Inseln und von Madeira Handel mit den Völkern dieser fernen Länder treiben. Die Iren wollen auf den Routen des heiligen Mönchs Brendan die Länder erkunden; es heißt, daß sie regelmäßig hinüberfahren. Allerdings suchen sie ganz andere, nördlicher gelegene Länder auf, als die Völker des Mittelmeeres. Auch geht die Kunde, daß es hinter diesen Ländern ein weiteres Meer gibt, dessen Ausmaß noch größer sein soll als das am Ausgang des Mittelmeeres. Die Minoer haben diesen Raum als erste erkundet und siedeln dort seit dreitausend Jahren. Ihre Reiseberichte wurden auch in der Bibliothek von Alexandria gesammelt und liegen heute in unseren Archiven. Meine Empfehlung an Euch ist: ergreift die Gelegenheit, die sich uns bietet, unterstützt den Genueser Kaufmann, den ich Euch gern vorstellen möchte, lasset uns den Schritt nach draußen wagen, bevor es andere tun.“
Einen kurzen Augenblick überlegte Innozenz, dann sagte er: „Wir wollen uns diesen jungen Genueser einmal ansehen. Dann können wir gemeinsam entscheiden, ob eine Unterstützung seines Vorhabens zu unserem Wohle sein wird.“ Mit einem Wink schickte er einen Diener hinaus, den wartenden Gast herein zu holen. Nach einigen Minuten betrat ein spielerisch wirkender Mann den Saal, dessen Kleidung bessere Tage gesehen hatte. Er kniete vor dem Papst nieder und sah dann in die Runde, wobei in seinen Augen ein gewisser Schalk spielte. Die Kardinäle sahen sich ob dieses Mannes erstaunt an. Wie konnte Rodrigo es wagen, ihnen einen derart zwielichtigen, gauklerhaft wirkenden Mann vorzustellen, noch dazu für eine so entscheidende Unternehmung?
„Cristoforo Colombo“, stellte Rodrigo den Besucher vor und übernahm die Rolle dessen, der Colombo befragte und den Kardinälen damit eine Beurteilung seiner Absichten und seiner Eignung ermöglichen sollte. „Warum glauben Sie, sollte eine Expedition über das große Meer unternommen werden?“
Colombo stellte sich stolz hin und sah mit seinen tiefliegenden verschmitzten Augen in die Runde. Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel.
„Seit langem wissen wir, daß diese reichen und fruchtbaren Länder jenseits des Ozeans existieren. Schon Cicero schrieb, daß die Phönizier ihr Gold aus den fernen Ländern jenseits des großen Meeres holten, deren Lage sie geheim zu halten verstanden. Durch meine eigene große Erfahrung und meine Kenntnisse des Meeres sehe ich mich in der Lage, diese Länder zu finden.“
„Verfügen Sie über weitergehende Kenntnisse als die, die wir alle davon haben?“, fragte Rodrigo nach.
„Ja, ich glaube, so ist es. Durch meine Heirat mit Dona Felipa Perestrelo e Moniz, die Tochter des Gouverneurs von Madeira, des gesegneten Bartolomeu Perestrelo, habe ich Zugang zu den über die Jahrhunderte gewonnenen Kenntnissen der Seefahrer von Madeira. Ich verfüge über genaue Karten der Länder jenseits des Meeres, wie sie in Europa noch niemand zu Gesicht bekommen hat.“
Innozenz hatte schon jetzt genug gehört und gab ein kleines Handzeichen. Der Diener führte Colombo aus dem Saal. Kardinal Rodrigo sah den Papst protestierend an und setzte sich. Innozenz gab das Ergebnis der Kardinalsrunde bekannt: „Meine lieben Brüder! Wir müssen davon ausgehen, daß dieser junge und gewissenlose Abenteurer in der Hand von Dokumenten ist, die die Stellung der Kirche gefährden können. Ich ordne an, diese sicherzustellen und mit Colombo wie üblich zu verfahren. Ich danke Euch.“ Die Kardinäle erhoben sich, verneigten sich vor dem Papst und verließen den Saal.
Der Diener hatte Colombo den bereit stehenden Wachen übergeben. Diese führten ihn durch viele lange Gänge, enger werdende Flure und viele Treppen abwärts in die dunkelsten Keller des Vatikan. Hier gingen sie an hinter Zellentüren jammernden und stöhnenden Menschen vorbei. Angst schlich ihm durch die Glieder. Schließlich gelangten Sie zu einer besonders schummrigen Zelle. Die Wachen bedeuteten ihm, daß er hier zu verbleiben habe. Colombo setzte sich auf deren Geheiß auf die Pritsche. Die Wachen gingen hinaus und verriegelten geräuschvoll die Zellentür. Er hatte schon oft in Zellen gesessen und war sich stets sicher gewesen, daß das nur vorübergehend sein konnte. Jetzt war alles anders. Er war im Zentrum der Macht gefangen, und niemand, schon gar nicht ein Freund mit dem nötigen Einfluß, ihm zu helfen, wußte von seinem Verbleib. Das Schließen der Tür hatte etwas tödlich Endgültiges.
Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah Colombo, daß an der gegenüberliegenden Wand Schädel aufgestapelt waren. Aus dunklen Augenhöhlen schauten die Köpfe ihn an. Neben den Schädeln waren noch einige Orden, Säbel und Gürtel gelagert. Es sah fast so aus, als wären hier die Reste von Seefahrern versammelt. Er brauchte nicht lange, um zu verstehen, was das für ihn bedeutete. Plötzlich, es waren erst einige Minuten vergangen, wurde es laut an der Zellentür. Mit lautem Knarren wurde sie geöffnet; herein trat eine junge, äußerst schöne Frau in edlen, fast verführerischen Kleidern. Sie sah Colombo verschmitzt an:
„Hallo, Fremdling, haben Sie es sich schon gemütlich gemacht? Sie haben hier die feinste Gesellschaft. Sie werden angeschaut von all jenen, die in den vergangenen Jahrhunderten die Idee hatten, über das Meer nach den vergessenen Ländern zu suchen. Was meinen Sie, was Ihre Vorgänger Ihnen alles erzählen könnten!“ Colombo war aufgestanden und hatte schnell eine Verbeugung gemacht, die die Dame überhaupt nicht beachtete. „Kommen Sie!“, forderte ihn die junge Frau auf. Colombo tat, wie ihm geheißen, und folgte ihr. Die Wachen begleiteten die zwei, aber jetzt wirkte es, als seien sie zum Schutz von Colombo bestellt worden. Colombo wurde aufwärts geführt, über viele Treppen und durch verwinkelte Gänge. Es war unmöglich für ihn, die Orientierung zu behalten. Schließlich wurde er in ein großes Zimmer geführt. Die Sonne schien mild und warm durch die großen Fenster herein. Ein großes Himmelbett bestimmte den Raum, getragen von vergoldeten geschnitzten Füßen. Darauf lagen mit Goldbrokat verzierte Decken ausgebreitet, an den Fenstern fesselten seidene Vorhänge seinen Blick. Die Dame neben ihm sah ihn belustigt an und wandte sich ihm zu, so daß er nun Mühe hatte, in ihr Gesicht und nicht auf ihren offenherzig dargebotenen Busen zu schauen. Sie wies ihn an, Platz zu nehmen. Erst jetzt bemerkte er die reichlich gedeckte Tafel und setzte sich; die Dame setzte sich hinzu. Colombo schaute seine Gastgeberin fragend an.
„Mein Name ist Francesca“, beantwortete die Dame eine naheliegende, aber sicher nicht die drängendste Frage ihres Gastes. „Kardinal Rodrigo hat mich beauftragt, Sie hier zu beköstigen und dafür zu sorgen, daß es Ihnen gut ergehe.“
„Wie lange werde ich hier festgehalten?“, fragte Colombo.
„Festgehalten werden Sie gar nicht. Sehen sie Wachen? Na also. Sie sind unser Gast. Und, den Umständen entsprechend, werden Sie so lange unser Gast sein wollen, bis sich Ihre Lage geklärt hat. Sie werden doch verstehen, wie es Ihnen erginge, wenn Sie uns jetzt verließen?“ Das war deutlich.
„Sind Sie in den Diensten des Kardinal Rodrigo?“, fragte Colombo. „Ja, so kann man es nennen“, antwortete sie mit einem schnippischen Grinsen.
„Werde ich Kardinal Rodrigo sprechen können?“, setzte er nach.
„Nein, zunächst nicht. Sie werden verstehen, der Kardinal ist im Augenblick außerordentlich beschäftigt. Wenn seine Dienstgeschäfte erfolgreich sind und sich alles zum Guten wendet, werden Sie sein Gesprächspartner sein. Bis dahin mögen Sie sich gedulden.“
Die folgenden Tage waren wie im Traum vergangen. Colombo hatte kein Gefühl mehr dafür, wie lange er in diesem schönen Gemach verbracht hatte. An gutem Essen und Bediensteten hatte es nicht gefehlt. In einem angrenzenden Raum befand sich eine kleine Bibliothek, so daß er sich die Zeit mit Lesen vertreiben konnte. Er orientierte sich schnell in der interessanten Auswahl hervorragender Bücher. Ein großer Tisch mit Intarsien und kunstvoll geschnitzten Beinen stand an einem Fenster, von dem aus man einen herrlichen Blick auf die Gärten genießen konnte. Gleich waren ihm Stapel von Büchern aufgefallen, die dort lagen, als hätte jemand gerade darin gelesen. Er erkannte mit großem Erstaunen, daß es Werke und Dekrete vergangener Päpste waren. Einige waren von Felix V., andere auf einem zweiten Stapel von Alexander IV. und Alexander V. Als Francesca ihn darin lesen sah, blickte sie ihn belustigt an: „Ja, Kardinal Rodrigo zieht sich manchmal hierher zurück. Er studiert die Werke alter Päpste, um nach einem passenden Namen zu suchen – für sich.“ Colombo war erstaunt über diese frivole Art, mit so schwerwiegenden Geheimnissen umzugehen. Er warf ihr einen verwunderten Blick zu; jedoch mehr verriet Francesca nicht.
Jeden Abend war eine bezaubernde Mätresse in sein Gemach gekommen und hatte gefragt, ob er ihre Gesellschaft wünschte. Meistens hatte er dies bejaht; er lebte immer nach der Devise, daß es ein Morgen vielleicht nicht gäbe und alles Schöne gleich genossen werden wolle. Dann war es soweit: Kardinal Rodrigo bat Colombo zu einer Unterredung. Er wurde in den Saal geführt, in dem auch die Audienz des Papstes stattgefunden hatte. Einige Kardinäle, etwa halb so viele wie bei der Audienz des Papstes, saßen auf Stühlen im Raum, Kardinal Rodrigo saß in seiner Kardinalsrobe auf dem Stuhl des Papstes.
„Wie sie wissen, verehrter Colombo, war der Heilige Stuhl immer den Menschen gegenüber aufgeschlossen und interessiert, die neues wagen und die heilige Botschaft in fremde Länder zu tragen suchen. Seien Sie unserer Unterstützung gewiß“, sagte Rodrigo feierlich. Colombo schaute sich um. Die Gesichter der Kardinäle schienen wie einst; er konnte darin nichts lesen. „Nun, welche Unterstützung haben sich meine Brüder für unseren Gast überlegt?“, fragte Rodrigo in die Runde.
„Sanctissimus Frater, wir könnten ihn ausrüsten und die Expedition bezahlen“, meldete sich ein Kardinal. Kardinal Rodrigo schüttelte mißbilligend das Haupt.
„Seit wann ist der Vatikan dafür da, etwas zu bezahlen?“, fragte er unwirsch zurück. „Laßt das spanische Königshaus die Expedition ausrüsten. Wofür halten wir uns denn dieses Adelsvolk?“ Und, an Colombo gewandt:
„Wir sind sicher, daß Ihnen in Spanien alle erdenkliche Unterstützung gewährt werden wird. Machen Sie einen Vertrag, der Sie zufrieden stellt. Wir werden das Königshaus in der Angelegenheit in diesem Sinne beraten.“- Jetzt hatte Colombo eine Frage:
„Verehrter Kardinal Rodrigo, wenn ich es recht verstehe, darf ich mir Eurer Freundschaft sicher sein. Aber habe ich auch die guten Wünsche der ganzen Kirche mit mir? Was wird sein, wenn ich zurückkomme?“ Rodrigo lächelte verständnisvoll.
„Sie werden einige Monate unterwegs sein, guter Freund. Sollte es, was Ihre Unternehmung angeht, wirklich Unterschiede in den Auffassungen geben, so wird die Zeit sie bis dahin geheilt haben.“ Und, nun wieder an die Kardinäle gewandt: „Habt Ihr Euch weitere Gedanken gemacht, die dem Gast dienlich sein könnten?“ Schließlich stand ein Kardinal auf:
„Sanctissimus Frater, wir haben den Vorschlag, Colombo mit den Karten und Logbüchern der Ägypter, der Minoer und der Phönizier auszustatten, die wir aus Alexandria übernommen haben und die sicher von großem Wert für die Orientierung auf der Reise sein werden.“ Kardinal Rodrigo nickte zustimmend.
„Versorgt ihn für die Fahrt, wie man einen Freund versorgt. Dieser junge Mann wird die Frohe Botschaft und das Wirken des Heiligen Stuhls in neue, große Länder tragen. Eine neue Zeit steht uns bevor. Wir werden nach über eintausend Jahren der Isolation die Freundschaft zu den Völkern jenseits des großen Meers wieder aufleben lassen. Wie hatten doch die letzten unserer Abgesandten den Mayas und den Inkas erklärt, bevor sie heimkehrten? Richtig: ´Wir kommen wieder´, haben sie ihnen versprochen. Wohlan, die Welt wartet auf uns!“
Nachtrag:
Am 17. April 1492 unterzeichnete Colombo in Granada einen Vertrag mit dem spanischen Königshaus, in dem er alle seine Forderungen für die Unterstützung der Expedition, die Rechte an den zu erobernden Kolonien sowie der erbeuteten Edelmetalle durchsetzte.
Am 25. Juli 1492 starb Papst Innozenz VIII.
Am 3. August 1492 brach Colombo zu seiner ersten Reise nach Amerika auf.
Am 11. August 1492 wurde Kardinal Rodrigo Borgia zum Papst Alexander VI. ernannt.