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Augenblick
Es war einmal, nein, es war nicht einmal, sondern öfters, um genau zu sein, machte sie es an sechs Tagen in der Woche. Sie tanzte vor Männern. Und sie zog sich aus. Und sie zeigte wirklich alles her dabei. Seit fünf Jahren. In wie vielen Männeraugen hatte sie schon den Widerschein ihres Körpers gesehen! Obwohl deren Augen, wenn sie heiß wurden, nicht mehr blank waren, also gar nicht mehr spiegeln konnten. Sie wurden trüb, bekamen eine Oberfläche wie Löschpapier, so dass das Bild ihres weißen Körpers restlos von ihnen aufgesogen wurde.
Sie hatte es einfach. Sie war weder besonders schön, noch hatte sie einen makellosen Körper, noch hatte sie eine professionelle Tanzausbildung genossen, wie so viele andere Tänzerinnen, die in den Etablissements, Clubs und Discos der Stadt auftraten. Und trotzdem, kaum trat sie auf die Bühne, begann es um sie herum vor Spannung zu flirren wie die Luft über dem Asphalt an einem heißem Sommertag.
Um es gleich zu sagen: Es bedeutete ihr nichts, dass sie die Hosen der Männer zum Wölben brachte. Nein, noch präziser, es bedeutete ihr in DEM Augenblick nichts, wo es passierte. Eigentlich sollte ja eine „erotische“ Tänzerin jedem Mann im Publikum das Gefühl geben, dass sie genau ihn mit ihren aufreizenden Bewegungen meinte. Aber kaum begann die Musik zu spielen, „Lady Marmelade“, „Foxy Lady“, „Je t´aime“ oder etwas Ähnliches, kaum ließ sie zum ersten Mal ihre Hüften in einer Acht kreisen, begann auf der Bühne ihr Reptilienleben. Sie schien kein stützendes knöchernes Gerüst zu haben, derart weich waren ihre Bewegungen, weich und träge, dem Rhythmus immer nur etwas verzögert folgend. Und vor ihre Augen schob sich ein dunkles, dünnes Häutchen, so dass sie nicht mehr sah, was im Publikum passierte. Sie schuf beim Tanzen einen abgeschlossenen Kosmos um sich, innerhalb dessen sich die Spannung staute und wieder entlud. Sie brauchte kein Außen dazu. Früher verwendeten Landgendarmen im Dienst Taschenlampen, vor deren gelbes Licht man ein rot oder grün eingefärbtes Glasplättchen schieben konnte. In ähnlicher Weise konnten die Männer im Publikum sehen, wie sie auf der Bühne einen Schleier vor ihr innerstes Licht fallen ließ, wenn sie wie zufällig ein Bein auf einen goldenen Sessel stellte, um das feucht schimmernde Innere ihrer weiblichen Mitte zu präsentieren.
Aber später, wenn sie gegen vier Uhr früh daheim ihre Wohnungstür aufschloss, stiegen Bilder von Männern aus dem Publikum in ihr auf. Auf der Innenseite ihrer Augen begann jetzt erst der Film abzulaufen, den sie schon einige Stunden zuvor aufgezeichnet hatten. Die Blicke der Männer, ohne Scham, konzentriert und voller unschuldiger Neugier, leuchtend, drangen erst jetzt in sie ein. Und während sie noch ihre Tasche ablegte, hatte sie schon ihre rechte Hand zwischen ihren Beinen und sie hörte nicht mehr auf, sich zu reiben, bis sich ihr Unterleib warm und voll anfühlte und sie endlich einen kleinen Seufzer ausstieß. So machte sie es fast jeden Tag. Jedoch vermied sie es, während sie masturbierend durch ihre Wohnung ging, ihrem Bild in einem der zahlreichen Spiegeln zu begegnen.
An einem verregneten Frühlingstag aber, es war Ende April, wurde ihr bei dieser gewohnten Tätigkeit bewusst, dass sich in letzter Zeit immer ein bestimmtes Gesicht vor alle anderen geschoben hatte. Dieser Umstand irritierte sie, sie ließ ihre Hand fallen und setzte sich kerzengerade auf einen ihrer Küchenstühle. Lange Zeit träumte sie vor sich hin, sie versuchte, sich an jedes Detail am Äußeren dieses Mannes zu erinnern, aber es gelang ihr nicht. Nur an eines konnte sie sich deutlich erinnern: die absolute Leere in seinen dunklen Augen.
An diesem Abend tanzte sie wie immer, es war keinesfalls so, dass dieser Mann etwas an ihrem einsamen Dasein auf der Bühne geändert hätte. Aber immerhin bemerkte sie es, als er in den nicht besonders großen Raum trat, in dem die kleinen Tische mit den schmutziggelben, etwas überdimensionalen Lampen standen. Er setzte sich in einen dieser genau abgegrenzten Lichtkegel, und es sah aus, als ob er sich auf einer winzigen Bühne niederließe. Sie bemerkte das Missverhältnis zwischen seinem massigen Oberkörper und seinen kurzen Beinen, die glanzlose Schwärze seiner Haare, seinen breiten Gang.
Es war ruhig im Zuschauerraum, die Mädchen, die jetzt noch an der Bar standen, würden erst nach ihrer Vorstellung lächelnd und schlängelnd an die Tische treten, um das zu ernten, was sie auf der Bühne gesät hatte. Sie selbst war laut Arbeitsvertrag nur zum Tanzen verpflichtet und zu nichts sonst. Jetzt drehte sie sich das letzte Mal mit dem Rücken zum Publikum, um ihr Hinterteil unter den nun anfeuernden Rufen der Männer in immer schnellere Vibrationen zu versetzen, ein letztes Mal beugte sie sich vor, fuhr dabei mit den Händen an den Innenseiten ihrer Oberschenkel hoch, um ihre schwingenden Backen mit einem festen Griff zur Ruhe zu bringen und sie weit zu spreizen. Dann senkte sich der rote Plüschvorhang, der an der Stelle, wo ihn die Kordeln während der Vorstellung auf die Seite hielten, etwas abgestoßen war, über dieses Tableau aus lebendigem, zitternden Fleisch, das in der Mitte akkurat geteilt war.
Für einen Augenblick verharrte sie hinter dem Vorhang noch in dieser Stellung, sie keuchte ein wenig, dann richtete sie sich rasch auf, teilte den weichen Stoff, der nach Staub roch, stieg von der Bühne und ging zum Tisch des Mannes, ohne den Blick von ihm zu wenden. Er sah ihr dabei aufmerksam und ohne Überraschung ins Gesicht. Dabei wippte er, wie es die Angewohnheit vieler junger Männer ist, mit einem Bein auf und ab. Die Mädchen an der Bar, unschlüssig, ob sie mit ihrer Arbeit schon beginnen sollten, kicherten, froh über die willkommene Verzögerung und erregt ob der Erwartung, was jetzt kommen würde. Denn noch niemals zuvor hatte sich die Tänzerin in den Zuschauerraum begeben.
Die Tänzerin setzte sich auf den Schoß des Mannes. Seine Erektion drückte ihr den harten Stoff seiner Hose an die Scham. Er sagte mit einem breiten Grinsen: „Na, Mädel?“ Sie aber schlang mit ernstem Gesicht ihre Arme um seinen Nacken und tauchte ihre Nase in den Raum zwischen weißem Hemdkragen und braunem Hals. Sein süßer, schwerer, fast etwas modriger Geruch besetzte in der Sekunde die innerste Stelle ihres Herzens. „Hey“, sagte er unsicher, „was gibt´s denn da zu schnuppern?“ Sie sah, wie sein rosafarbener Mund die Worte formte, legte ihre Lippen darauf und schickte ihre Zunge als Boten vor. Er tappte ihr auf die mit Goldflitter bestäubte Brust, aber seine Zunge wich wie ein Tier im Käfig vor ihrer zurück. Ein zusammengerolltes, hartes, kaltes Etwas. Ihr Gesicht und ihre Brust überzogen sich mit einem frischen Schweißfilm, sie löste ihre von seinen Lippen. An ihren Unterarmen stellten sich die Haare auf. Während sie etwas ungelenk aufstand, sah sie ihm nochmals in die Augen. Sein blanker Blick machte aus ihrem Körper zwei weiße, fein gedrechselte Gliederpuppen mit äußerst glatter Oberfläche. Da sie keine Kleidung trug, die sie ordnen hätte können, warf sie nun mit einer raschen Bewegung ihre Haare in den Nacken, dann ging sie auf die Bühne zurück. Dort ließ sie noch einmal ihre Hinterbacken vibrieren, lachte kurz auf und verschwand hinter dem Vorhang.
An diesem Abend begleitete er keines der Mädchen in ein Zimmer im oberen Stock. Vielmehr ging er bald nach Hause und bürstete sogleich den goldenen Glitter von seiner Kleidung. Aber noch einige Tage lang fand er immer wieder blitzende Teilchen in seinem Gesicht und in seinem Haar, die er dann missmutig und mit spitzen Fingern abzulösen versuchte.
Die Tänzerin rief am nächsten Tag ihren Chef an, teilte ihm kurz mit, dass sie nicht mehr zur Arbeit erscheinen werde, und besorgte sich Unterlagen für ein Philosophiestudium.