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Aus dem Fenster
Als er von tosendem Lärm geweckt wurde, fand er sich in einem kleinen Raum wieder. Trotzdem er wegen des plötzlichen Geräuschs aus tiefem Schlaf gerissen wurde, war er sofort bei vollem Bewusstsein. Mit klarem Blick suchte er die Decke ab, wusste jedoch nicht was er dort zu finden glaubte. Das Grau des nackten Betons überwog bei Weitem die wenigen Stellen, an denen der Putz noch nicht abgeblättert war und man konnte erkennen, dass die Wand ursprünglich weiß gewesen war. ,Wie Schade, dass der Raum so verkommen ist.’ ,dachte er sich, als er weiter die Decke entlang sah. Er wusste zwar, dass das Zimmer schon immer renovierungswürdig war, so stark wie heute war es ihm jedoch noch nie aufgefallen. Er richtete sich in seinem Bett auf und inspizierte das restliche Zimmer. Auch die übrigen Wände waren in einem desolaten Zustand und er überlegte, ob er vielleicht deshalb in den nächsten Tagen mit dem Vermieter sprechen solle.
Der fleckige Grauton der Wände wurde zusätzlich dadurch verstärkt, dass vor dem einzigen Fenster des Raumes alte, vergilbte Vorhänge hingen, deren Farbton dem des freigelegten Betons nahe kam. Wegen der Undurchdringbarkeit der Vorhänge konnte er weder mit Sicherheit sagen, welches Wetter draußen herrschte, noch wie spät es war. Er besaß keine Uhr, sondern folgte immer seinem Gespür, das ihn heute im Stich ließ. Grade als er im Begriff war aufzustehen, um die Vorhänge bei Seite zu ziehen, erweckte der neben dem Fenster aufgestellte Schreibtisch seine Aufmerksamkeit. Ein konzentrierter Blick wanderte über unzählige Schriften und Unterlagen, die nicht nur über dem Tisch, sondern auch weit darüber hinaus verteilt lagen. Er war fassungslos. ,Habe ich nicht erst gestern alle meine Unterlagen geordnet? Soll die stundenlange Arbeit umsonst gewesen sein? Schuf ich womöglich mehr Unordnung als Ordnung?’ Resignierend saß er mit gekrümmten Rücken in seinem Bett, als er seinen ursprünglichen Gedanken wieder fasste und beschloss aufzustehen, um die Vorhänge aufzuschieben.
Er stakste in seinem Schlafrock zum Fenster, dabei immer darauf bedacht, nicht auf die herumliegenden Blätter zu treten, um die Unordnung nicht weiter zu steigern. Seine Füße sogen unfreiwillig die Kälte des Bodens auf. Er lüftete die Vorhänge, darauf hoffend, einige Lichtstrahlen erblicken zu können. Wider aller Erwartungen versperrte ihm der Regen an der Scheibe die freie Sicht. Die Tropfen liefen herab, wie ein nie enden wollender Strom, der in einem weit entfernten Gletscher seinen Ursprung hatte.
Er wollte sehen, was draußen geschah. Er eröffnete die Fensterflügel und überblickte von seiner im 2. Stock gelegenen Wohnung einen Teil der wolkenverhangenen Stadt. Für einen Moment glaubte er, ein Sonnenstrahl würde durch die dicke Wolkenschicht brechen, doch im nächsten Augenblick vernahm er das zornige Grollen eines nahenden Gewitters. Auf der ihm gegenüberliegenden Straßenseite entdeckte er auf einem Plakat die Ankündigung eines Zirkusses. Dies musste das Getöse gewesen sein, dass ihn aufgeweckt hatte. ,So gerne wollte ich den Zirkus vorbeiziehen sehen!’, dachte er voller Bedauern. ,Nun habe ich ihn schon wieder verpasst.’
Er erinnerte sich daran, dass der neben dem Plakat stehende Kirschbaum in den Frühjahrsmonaten eine herrliche Blütenpracht geboten hatte, die er von seinem Fenster aus wochenlang bewundern konnte. Nun hingen nur noch vereinzelt eingerollte, braunzertrocknete Blätter an den ansonsten kahlen Zweigen. Ein Windstoß glitt über sein Gesicht und bahnte sich seinen Weg zum Kirschbaum hin, wo eines der welken Blätter hinab in den Rinnstein des Gehwegs glitt. Wie ein kleines Boot steuerte es auf den Fluten und wurde stetig weiter getragen. Er verlor es erst aus dem Blick, als das Blatt zwischen den drohenden Gitterstäben in die Dunkelheit eines unterirdischen Abflussschachtes verschwand.
Er sehnte sich nach der Frische des Gewitters. Er lehnte sich weit aus dem Fenster, um nicht die stickige Luft seines Zimmers einzuatmen und tat einige tiefe Atemzüge. Der Regen prasselte auf seinen Kopf, während er wieder den Wind spürte. Sein Blick sank nach unten auf den Fußweg. Noch einmal holte er tief Luft. Er ließ seinen Blick über das Pflaster schweifen, dann fixierte er die einzelnen Steine. Für einen kurzen Augenblick konnte er die Ameisen auf dem Unkraut zwischen den Steinen sehen.
Er atmete aus.