Aus den Briefen eines Feenforschers
Studthoff gehörte zu der Sorte Menschen, die niemals etwas geschenkt bekamen und sich alles hart erarbeiten mußten. Genauer gesagt, gehörte er nicht zu dieser Sorte, da er noch weniger als nichts geschenkt bekam und sich alles noch härter als hart erarbeiten mußte. Er hatte nun ein langes tristes Leben verbraucht, ohne je in den Genuß der Dinge, die die irdische Existenz erträglicher machen, zu gelangen. Ich spreche von Luxus. Ich spreche aber auch von ungleich höheren Werten, wie Freunde, Familie und... ja, einfach lieben zu können und geliebt zu werden. Studthoff kannte dies alles nicht. Er war in seinem Überlebenskampf ständig bemüht gewesen, den Mund über der Oberfläche des alles mit sich reißenden Stromes, den man Leben nennt, zu halten, atmen zu können; neben und unter ihm Ertrinkende, über ihm Stärkere, die ihn unter Wasser zu tauchen versuchten.
Denken wir an unsere eigene Situation. Jeder von uns kann doch irgendwann einmal, in einem friedlicheren Teil des Flusses, den ganzen Kopf und sogar die Schultern aus dem Wasser strecken – vielleicht durch ein vorbeitreibendes Stück Holz, an das er sich klammert – richtig tief durchatmen, ohne Wasser zu schlucken. Ein ebenso schönes, wie seltenes Gefühl.
Studthoff war dieses Gefühl jedoch fremd, er hatte nur geschluckt, kaum geatmet. Und er wäre schon bald ertrunken, hätte es da... aber ich will der Reihe nach erzählen.
Gestatten sie mir eine Frage: Glauben Sie an Feen?
Ich kenne Ihre Antwort.
Dennoch oder gerade deswegen sollten Sie diese Geschichte nicht weglegen, sondern lesen und sich mir anschließen.
Studthoff erschien eine Fee (auch wenn Sie nicht daran glauben: Erlauben Sie mir bitte diese Bezeichnung zu verwenden), sie war ein bezauberndes Geschöpf, das auf den ebenso bezaubernden Namen „LaLeLu“ hörte, mit Betonung auf der mittleren Silbe, bitte. Darauf legte sie großen Wert. LaLeLu war eine Fee im besten Sinne. Sie war hübsch, blond, hatte eine gute Figur (ich mein sie war vollbusig, was in diesem Metier nur selten anzutreffen ist) und was das wichtigste war, sie konnte drei Wünsche erfüllen.
Aufmerksame Skeptiker werden jetzt fragen, woher ich denn mein Wissen über Feen, die ihrer Meinung nach sowieso nicht existieren, denn nehme, ja sogar in der Lage sei, Vergleiche bezüglich der Brustgröße anzustellen.
Ein paar Worte dazu:
Ich betreibe seit 16 Jahren Recherchen in dieser Richtung, führe genauestens Buch über Erscheinung und Verhalten dieser für mich faszinierenden Wesen.
Auch wenn ich bis heute nie selbst eine Fee zu Gesicht bekam, was nur eine Frage der Zeit ist, darf ich mich mit Stolz und zu Recht als den führenden Feenforscher unserer Zeit bezeichnen.
Aber zurück zur Geschichte.
LaLeLu, eine wunscherfüllende, zudem vollbusige Fee erschien also dem armen, altgewordenen Studthoff. Purer Zufall? Eine günstige Fügung des Schicksals? Meiner Meinung nach liegt in der Feenerscheinung kein System. Ich meine, welche Fee wem erscheint, ist reiner Zufall. Manch steinreicher Mann ist durch eine Feenerscheinung noch reicher geworden, indem er sich einfach mehr Geld wünschte. Manch armer Mann wurde einfach zu Asche verbrannt, weil die Fee seinen Wunsch nach Weltfrieden als Beleidigung auffaßte. Tja, manche Feen haben auch ihre Launen. Doch nicht so LaLeLu. Sie hatte sich fest vorgenommen, Studthoff alles, wirklich alles zu erfüllen, was er sich wünschen würde. Sie freute sich über diesen Auftrag. Was würde sich wohl ein Mensch wünschen, der sich noch nie im Leben einen Wunsch im Bereich des möglichen gewünscht hatte, wenn nun plötzlich, durch sie, sogar das Unmögliche möglich wurde?
Sie war ganz aufgeregt und zupfte immer wieder an ihrem rosa Glitzerkleidchen, bevor sie durch DAS TOR schwebte. Sie erschien ihm in dem Moment, als er in seiner Küche saß und seine allabendliche Suppe löffelte. Sie war auf alles vorbereitet. Menschen erschraken, schlugen Kreuzzeichen oder liefen schreiend aus der Wohnung, es gab da viele Varianten.
Doch Studthoff sah nicht mal auf. Erwartungsvoll schwebte sie vor ihm, schwebte ein bißchen auf und wieder ab, schwebte zu seiner Linken, schwebte zu seiner Rechten, wurde langsam nervös. Sie zupfte wieder an ihrem rosa Glitzerkleidchen. Wie konnte er sie denn nicht bemerken, der glühende Schein, der sie einhüllte, mußte ihn doch blenden?
Als er nach ewigen Minuten noch keine Reaktion zeigte, wurde sie ungeduldig und glühte noch ein bißchen mehr. Ihr Schein wurde an den tapetenlosen Wänden, der sonst nur durch eine nackte Glühbirne schwach beleuchteten Küche, so stark reflektiert, daß sie ihre Schutzbrille aufsetzen mußte. Wenn jetzt nicht bald was passierte, würde sie wieder davonschweben. Aber rechtzeitig erinnerte sie sich an die Regeln: drei Wünsche waren zu erfüllen. Vorsichtig räusperte sie sich. Sie wollte auch nicht unhöflich erscheinen, sie war ein sehr sanftes, gutmütiges Geschöpf. Irgendwie störte sie ihn ja auch gerade beim Abendessen, oder etwa nicht. Sie mußte sich eben etwas gedulden.
Aber sie hatte noch nie warten müssen. Es war ihr unangenehm. Sie räusperte sich wieder, als sie sich gerade daran erinnerte, daß sie ja hatte warten wollen. Dieser Auftrag war etwas besonderes. Da lohnte sich das Warten sicher. Und jetzt war er ja auch schon fertig mit der Suppe, den letzten Löffel hatte er sich gerade in den Mund geschoben. Was tat er jetzt? Er führte den Teller zum Mund und schlürfte den Rest der Suppe hörbar aus. Das mochte sie nicht. Aber bald würde er das nicht mehr nötig haben. Sie schwebte in Positur und er sah auf.
„Du kommst spät.“
Sie erschrak. Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Und überhaupt klang seine Stimme sehr schlimm. Sie versuchte noch herauszufinden, warum.
„W-Was?“ Sie merkte, daß sie stotterte und während sie die Schutzbrille hastig auszog und wegsteckte, konnte sie den Blick nicht von ihm abwenden. Seine bohrenden Augen hielten sie gefangen. Um Sicherheit zu gewinnen, spulte sie ihren Standardsatz ab:
„Ich bin LaLeLu. Ich bin eine Fee. Ich bin gekommen, um Dir drei Wünsche zu erfüllen.“
Unbeeindruckt stand Studthoff auf und brachte den Teller zur Spüle. LaLeLu hatte dieser Reaktion nichts entgegenzusetzen und verharrte verwirrt auf ihrem Fleck.
Unvermutet schnell drehte sich Studthoff um und bohrte wiederum seinen Blick in sie.
„Du kommst zu spät!“
Die Fee versuchte zu verstehen, als er seine Worte energisch wiederholte:
„Du kommst viel zu spät!“
Er hielt den Blick einen Moment, für LaLeLu ein halbe Ewigkeit und wandte sich dann dem Spülen des Tellers zu. LaLeLu, die versuchte, die Situation unter Kontrolle zu bringen, sagte mit gespielt energischer Stimme:
„Eine Fee erscheint dann, wenn sie erscheint, keine Sekunde früher oder später.“
Sie hatte noch mehr sagen wollen, aber es war ihr plötzlich entfallen und ihre letzten Worte kamen ihr so kläglich vor. Sie wollte es anders versuchen.
„Was meinst Du mit „zu spät“ ?“
Er ließ vom Teller ab und ging langsam auf sie zu. Diesmal war der Blick nicht so stark.
Auszuhalten.
„Mein ganzes beschissenes Leben warte ich auf Dich und nun bist Du hier.“
Jetzt war er ihr ganz nah.
„Aber zu spät!!“
Sie roch die Suppe aus seinem Mund.
„W-Warum?“
Wieder dieses Stottern.
„Sieh mich an. Ich bin ein alter Mann, kurz vor dem Ende, was könnte ich denn noch wünschen wollen?“
Sofort wollte sie einen Katalog von möglichen Wünschen aufzählen, doch ehe sie sprechen konnte, fuhr er fort:
„Während ich wartete, all die Jahre, meine ich, hatte ich viele Wünsche. Wünsche, die nur Du mir hättest erfüllen können, kein Mensch dieser Erde, nur Du.“
Sie schluckte.
„Die Wünsche änderten sich mit dem Alter, doch nun ist es zu spät, ich habe diese Wünsche begraben, sie sind sinnlos geworden.“
Sie glaubte, eine Träne in seinem rechten Augenwinkel glitzern zu sehen, aber sie konnte sich auch täuschen. Sie fragte nicht, welche Wünsche er gehabt hatte, sie interessierte das Jetzt.
„Ich bin nun hier und drei Wünsche gehören Dir. Laß Dein Leben nicht so zu Ende gehen, wie es bisher verlaufen ist.“
Sie freute sich über den Klang ihrer Stimme, der zu der überirdischen Sanftheit, wie sie nur eine Fee besitzen konnte, zurückgefunden hatte. Ihren Augen gab sie ein verheißungsvolles Strahlen. Und offensichtlich wirkte es. Er lächelte. Er lächelte wirklich. Zuerst hätte man es für eine Krampf in den Mundwinkeln halten können, aber nun bestand kein Zweifel mehr.
Dazu paßten auch seine nun folgenden Worte.
„Du meinst, ich habe jetzt drei Wünsche frei?“
„Ja!“
„Drei Wünsche. Ich kann es kaum glauben. Bist Du sicher? Das ist ja herrlich!“
Er freute sich. Das war ein guter Ausgangspunkt. Doch etwas machte sie stutzig:
Hatte er nicht eben gesagt, Wünschen wäre sinnlos und jetzt diese Euphorie? Noch bevor ihr Grübeln zu einem Ergebnis führen konnte, streckte sie ein Fausthieb zu Boden. Was natürlich bedeutete, daß sie jetzt liegend schwebte, denn Feen halten sich nun mal über dem Boden auf.
Sie kam schnell wieder zu sich, doch kaum hatte sie sich in eine senkrechte Position gebracht, traf sie eine Faust, sie hatte das Gefühl als wären es drei gewesen, in den Magen und sie klappte zusammen wie ein Taschenmesser. Nun bäuchlings schwebend, wurde sie unfreiwillig Mitwirkende einer zirkusreifen Nummer, die zuvor einer Erklärung bedarf.
Das Gesetz, welches eine Fee in der Schwebe hält, ist das gleiche, wie das von der Abstoßungskraft zweier Körper gleicher Ladung oder Polung, wie im Magnetismus beispielsweise. Der Alte stemmte ihr also einen Fuß in den Rücken, stieß sie so bis auf den Küchenboden, ließ sie frei und während ihr Körper hochschnellte – die Abstoßungskraft wirkte wie eine Feder – packte er sie am Kragen und schleuderte sie gegen die nächstliegende Wand.
Aua! Das hatte bis jetzt am meisten weh getan. Verwirrt befühlte sie ihren schmerzenden Rücken. Nicht das der Eindruck entsteht, Feen wären blöd, oh nein, sie sind eben auf aggressives Verhalten einfach nicht trainiert, das ist alles.
Studthoff der glaubte, ihr deutlich gemacht zu haben, was er von ihr hielt, wurde ruhiger und sein Atem verlangsamte sich. Er begnügte sich jetzt damit, sie anzusehen. LaLeLu kam es allerdings so vor, als ob er durch sie hindurchsehe. Sie musterten sich gegenseitig.
LaLeLu konnte nicht begreifen, wie ein so alt und schwächlich aussehender Mann so flink und kräftig sein konnte, überhaupt kam ihr dieser Mann wie ein Raum voller Geheimnisse, vor dessen verschlossener Tür sie stand, vor. Sie hatte doch sein Personalakte genauestens studiert, wie hatte er sie dermaßen überraschen können? Ein fremdes Gefühl stieg in ihr auf, quälte sie; sie konnte es nicht unterdrücken und ließ sich vollkommen von ihm einnehmen. Sie verglich es mit anderen, bekannten Gefühlen und sie entschied sich, es Wut zu nennen, weil es dem, was sie bisher für Wut gehalten hatte, am nächsten kam, nur in einer vielfach potenzierten Stärke. Ja, sie war wütend auf diesen Greis, der statt dankbar zu sein, wie jeder andere normale Mensch, sie angriff und zu verletzen versuchte. Unerhört. Eine Frechheit. Eine nie dagewesene Frechheit der hinterfotzigsten Art. Sie errötete, ob des verbotenen Wortes. Dieses neue Gefühl veränderte sie, veränderte sie in einer Weise, die ihr unangenehm war, aber auch zugleich aufregend erschien. Und so faßte sie, von einem Gefühl beherrscht, das sie noch nicht unter Kontrolle hatte, einen für den Menschenverstand absurden Entschluß: Sie würde diesem Arschloch (diesmal errötete sie nicht mehr) drei Wünsche erfüllen und wenn es sein Leben kosten sollte. Sie hatte sich ihr Leben nicht aussuchen können, sie war nun mal dazu bestimmt, im Dienstleistungssektor zu arbeiten. Wie beschissen dieser Job eigentlich war, war ihr nie bewußt geworden, genauso wie die unsinnige Pflicht, immer scheißfreundlich sein zu müssen. Sie hatte nie an den Pflichten einer Fee – ihren Pflichten – gezweifelt, doch jetzt tat sie es. Mit aller Entschiedenheit. Sie wollte ihr kostbares Leben nicht länger damit vergeuden, die schwachsinnigen Wünsche geistig minderbemittelter Menschen zu befriedigen, sie hatte eigene Wünsche, einen ganzen Haufen sogar. Sie wollte nicht länger Fee sein. Sie würde umschulen auf...ach, darüber würde sie später nachdenken. Jetzt mußte sie erst mal diesem Scheusal drei verdammte Wünsche in den Arsch blasen, Zündschnur dran, anzünden und... Ihre morbide Fantasie war kaum noch zu zügeln. Sie hatte sich wirklich sehr verändert, die Gute.
Unglaubwürdig? Ich denke nicht. Meine Freunde: Können wir von uns behaupten, die Frauen auch nur im geringsten zu verstehen? Antwort: Nein. Die feeische Psyche ist noch weitaus komplizierter aufgebaut, ein unvorhergesehener Faktor, beispielsweise ein fremdes Gefühl, ist in der Lage, ihr ursprüngliches Selbst auszulöschen und was dann geschehen kann...nun, sie sehen es ja selbst.
Haß war nun der Antriebsmotor der neuen LaLeLu und der Schlüssel, mit dem man diesen Motor aufzog und die Puppe zum Laufen brachte, war ihr Auftrag. Drei Wünsche! Das war im Moment der einzig klare Gedanke, den sie fassen konnte. Und als ob diese Veränderung nicht schon erstaunlich genug wäre, so muß noch bemerkt werden, daß sie sich allein innerlich abspielte. Ihre Mimik verriet nichts über das tosende Meer ihrer Gefühle.
Der Alte hatte sich wieder abgewendet und spülte an seinem Teller herum.
„Du hast drei Wünsche frei, nach wie vor“ teilte sie ihm kühl mit.
Studthoff hob die Augenbrauen, sichtlich verdutzt, lachte aber dann verächtlich:
„Du hast’s wohl immer noch nicht kapiert, Du Schnepfe. Du bist zu spät dran. Ich will Deine verdammten Wohltaten nicht, hörst Du!“
Nun war es an ihr, ihn mit einem gezielten Fausthieb zu Boden zu strecken.
Als er erwachte, fand er sich an seinen Stuhl gefesselt, die Fee saß seitlich auf seinem Schoß und betrachtete ihre Fingernägel. Sie bemerkte, daß er bei Bewußtsein war und hauchte mit einer Kälte in der Stimme, die ihn frieren ließ:
„Drei Wünsche. Uns wird schon etwas einfallen, nicht wahr?“
Erst jetzt sah sie ihn an, direkt in die Augen und er erschauderte. Er versuchte zu sprechen, doch ein Taschentuch, sein eigenes, welches in seinem Mund steckte, hinderte ihn daran. Sie nahm es heraus.
„Nun? Haben wir einen Wunsch? Oder vielleicht auch zwei oder drei?“
Sie mußte lachen. Es klang wie die Mischung aus dem Hecheln eines Hundes und dem Öffnen einer ungeölten Tür. Fragen Sie mich nicht, wie das klingen soll, es wurde mir so beschrieben.
„Ich muß Dir etwas beichten.“
Studthoff war aufgrund seiner mißlichen Lage kleinlaut geworden.
Ungeduldig hob sie eine Braue.
„Nun?“
„Mein ganzes Verhalten...ich hatte einfach keine Lust mehr. Ständig kommen Feen zu mir. Einfach ständig. Sie wollten mir drei Wünsche erfüllen, genau wie Du. Aber ich weiß nicht, wie man sich etwas wünscht, ich habe es noch nie getan, ich besitze die Fähigkeit zu wünschen einfach nicht. Tage-, wochenlang belagern mich diese Feen, um ihren Auftrag zu erfüllen, aber ich kann ihnen nicht das geben, was sie wollen. Meine Wünsche. Sie begreifen es nicht.“
Er suchte ihren Augen nach Verständnis ab, doch wie befürchtet, fand er nichts und fuhr fort:
„Weil sie mir langsam lästig werden, versteh‘ mich bitte nicht falsch, erfinde ich die „Du kommst zu spät“ – Masche, die auch sehr gut funktioniert. Es bricht mir jedes Mal fast das Herz, wenn ich ihre enttäuschten Gesichter sehe und sie ohne Erfüllung ihres Auftrages abziehen müssen. Doch bei Dir ist plötzlich alles anders.“
„Mir mußtest Du erst eine Tracht Prügel verpassen!“
„Du begriffst nicht sofort und ich verlor die Geduld. Ich bitte Dich, mir zu verzeihen.“
„Dafür ist es zu spät!“
Sie lachte wieder und es klang... nun, schlimmer als zuvor.
Noch während sie lachte, überlegte er, wie er aus dieser Scheiße wieder herauskommen würde. Die Fee war total irre geworden, das war ihm jetzt klar. Andererseits war es ihm einfach unmöglich, sich etwas zu wünschen. Er konnte es eben nicht. Das sollte sie akzeptieren. Aber Akzeptanz setzte Vernunft voraus und wenn er sie so reden hörte...
Verdammt, vielleicht hätte er eben etwas fester zuschlagen sollen! Konnte man Feen totschlagen? Nein, er war kein Mörder. Es mußte einen anderen Ausweg geben. Außerdem war er gefesselt.
„Nun, was ist?!“
Die Fee wurde ungeduldig, war schon längst ungeduldig.
„Wenn du mich losbindest, können sich meine Gedanken freier bewegen und mir fallen sicherlich drei Wünsche ein.“
„Papperlapapp! Dein Körper ist es, der gefesselt wurde, nicht Dein Geist!“
„Bei uns Menschen ist das anders, als bei euch Feen.“
Ja, so konnte es funktionieren!
„Fesselt man unsere Körper, so sperrt man auch unseren Verstand ein und wir werden unfähig zu denken.“
Berauscht von diesem wunderbaren, jungen Gefühl Wut, erschien ihr dies ein glaubwürdiges Argument zu sein.
Ja, lachen sie nur. Ich selbst mußte ein wenig schmunzeln als ich dies erfuhr.
LaLeLu band ihn los und er tat so, als fülle sich sein Kopf mit den aufregendsten und originellsten Wünschen, vergleichbar mit einem Schwamm, der lange Zeit in der Wüste liegend, aufgehoben und in einen klaren Bergsee geworfen wurde und sich nun mit der herrlichsten Feuchtigkeit vollsaugen darf. Zugegeben ein wirres Bild, aber Studthoff half diese Vorstellung bei seinem Schauspiel, da er keine Ahnung hatte, wie sich echte Wünsche in einem Geist breitmachen können.
Gierig erwartete sie die drei Wünsche des alten Mannes, sie wollte die Erfüllung, ihren Auftrag – ihr wurde übel bei dem Gedanken an dieses Wort – so schnell wie möglich hinter sich bringen und sich viel Zeit für die Rache nehmen. Rache für das, was er ihr angetan hatte.
Doch plötzlich geschah alles anders und sehr schnell.
Die Luft in der Küche wurde von einem hohen Summen erfüllt, ein nerviges Geräusch, wie das einer Stechmücke – Sie kennen diese Sorte? – die des Nachts dicht am Ohr vorbeifliegt, nur um den nächsten Stich anzukündigen. Mit diesem Summen erschienen zwei Feen, größer als LaLeLu, wesentlich heller. Studthoff hätte jetzt eine Schutzbrille gut gebrauchen können. LaLeLu erblindete natürlich sofort. Die Feen umgaben sie, hüllten sie vollkommen ein und noch ehe sie wußte, wie ihr geschah, wurde sie von den beiden, nun, als Wissenschaftler sage ich: absorbiert. Als auch der letzte Rest ihres Körpers verschluckt war, erreichte der Lautstärkepegel seinen Höhepunkt. Doch schon Sekundenbruchteile darauf verschwanden die Feen und das Summen so schnell wie ein Augenzwinkern. Nur die Glühbirne versuchte jetzt noch die Dunkelheit zu verdrängen.
Studthoff versuchte gar nicht erst, das gerade erlebte zu begreifen, er tapste zur Spüle und fingerte im kaltgewordenen, schmutzigen Spülwasser zittrig nach seinem Teller.
Doch statt seines Tellers ertastete er etwas, daß sein aufgeregtes, altes Herz noch schneller schlagen ließ, denn Form und Beschaffenheit dieses Gegenstandes waren unverkennbar, einmalig und obwohl er es noch nie berührt hatte, ergriff die Erkenntnis seinen Magen mit eiserner Hand: Es war ein Feenstab! Bedächtig, zitternd hob er ihn aus dem Schmutzwasser, sehr behutsam, so als könnte eine zu schnelle Bewegung den Stab zu Staub zerfallen lassen. Instinktiv umklammerte er ihn fest mit der rechten Hand und spürte...ja, wie sollte er es beschreiben? Etwas durchflutete ihn, stärkte ihn, pulsierte ihn ihm voller Kraft! DAS mußte Macht sein! Die Macht, wünschen und erfüllen zu können, entfachte nun in seinem Inneren einen Wirbelsturm von Wünschen, so stark, daß sie ihn taumeln ließen und er sich setzen mußte. In diesem Moment sah Studthoff den Stab mit anderen Augen, nicht bildlich, nein, er besaß nun wirklich andere Augen, die weitaus empfindlicher waren und ihm das Universum in einem anderem Licht erscheinen ließen. Sein Herz öffnete sich weit. So weit, daß er einen Herzinfarkt bekam und in ein Krankenhaus gebracht werden mußte.
Da ich mich zu jener Zeit zufällig dort aufhielt, um Recherchen anzustellen, erfuhr ich seine Geschichte als erster und letzter. Bis ich sie Ihnen erzählte, natürlich. Er sollte das Krankenhaus nicht mehr lebend verlassen.
Kurz vor seinem Tod überreichte er mir den Feenstab mit der Bitte, ihn mit in seinen Sarg zu legen, wenn die Zeit gekommen sei. Er wollte nicht, daß seine Macht von irgend jemanden mißbraucht werde, er selbst habe ihn ja nicht benutzen können.
Der alte Mann vertraute mir aus irgendeinem Grund.
Als er tot war, behielt ich den Stab und ich will Ihnen auch sagen, warum.
Er ist der einzige Beweis für die Existenz der Feen und ich werde nicht eher zufrieden sein, bis ich durch ihn Kontakt zu ihnen aufgenommen habe. Täglich verbringe ich mehrere Stunden damit, den Stab in meinen Händen zu halten, genau wie Studthoff es getan hat. Unglücklicherweise verspüre ich nicht das geringste, aber ich bin zuversichtlich:
Eines Tages werde ich etwas spüren. Eine überirdische Macht wird mich durchfluten, genau wie Studthoff es beschrieben hat, mich durchdringen, mein Herz weit öffnen – ich habe ein gesundes, kräftiges Herz, es besteht kaum Infarktgefahr – und ich werde Kontakt mit ihnen aufnehmen, ihre Existenz beweisen.
Noch spüre ich nichts.
Aber ich kann warten.
Eines Tages...
Professor Friedhelm Studthoff, einst angesehener Physiker, Biologe und Philosoph („Die Frau – ein emotionales Labyrinth“ (1995) ; „Das Universum in unserem Kopf“ (1997)), momentan und wahrscheinlich längerfristig Insasse einer bekannten Nervenheilanstalt, deren Name aber hier verschwiegen werden soll, versuchte wiederholt, sowohl dieses, als auch in ihrer Intention ähnliche Schreiben, mittels durch utopische Versprechungen bestochene Pfleger nach draußen zu schmuggeln. Die Anstaltsleitung war in der Lage, dieses Vorhaben zu unterbinden, sieht jedoch in dem, in den Manuskripten enthaltenen Gedankengut keinerlei Gefahr für die Deutsche Gesellschaft, was die repräsentative Veröffentlichung eines seiner Briefe in diesem Forum beweisen soll.
Seine Studenten, die aufgrund seiner stetig wirrer werdenden Vorlesungen, eine Untersuchung veranlaßten, die zur sofortigen Einweisung Studthoffs führte, beschreiben, daß er in den letzten Wochen seines Schaffens immer häufiger mit einem merkwürdig aussehenden Stab gesehen wurde, den er stets krampfhaft fest umklammert, mal in der rechten, mal in der linken Hand hielt.
Bei seiner Einweisung veranlaßten die Ärzte, ihm diesen Stab wegzunehmen, was zunächst zu einem hysterischen Anfall und Schreikrämpfen, später zu Lethargie und kindlicher Trauer führte. Man gab ihm den Stab zurück.
Psychologen beschreiben seinen Zustand als zeitweilig depressiv, verwirrt und nicht therapiefähig.