- Beitritt
- 15.03.2008
- Beiträge
- 858
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Ausgefadet
Tibor stellte den kurzen Speer in die Ecke und öffnete die Riemen des ledernen Rundschilds. "Kommst genau richtig", sagte Laura. Sie füllte gerade zwei Teller mit einem Brei, dessen Geschmack zuverlässig hielt, was der muffig-säuerliche Geruch versprach. Tibor kannte den zu gut, manchmal gab es wochenlang nichts anderes. Auf der guten alten Erde war eine seiner größten Freuden gewesen, ein blutiges Steak mit kaltem Bier runterzuspülen. Hier herrschten andere Sitten, man musste nehmen, was zu kriegen war.
"Wie wars?", fragte sie.
"Ein paar hab ich erwischt. Die hatten aber kein Kwi. Das gleiche Spiel wie die ganze Woche: Du siehst die Viecher, um sie flimmert es, wie sonst auch. Aber wenn du hingehst, um sie zu kehlen, spürst du schon, die sind leer."
"Mist", sagte Laura.
"Ja, das ist es." Sie aßen schweigend, bis das Kind durch die Dämmerung schrie. Laura stand auf und ging zur Kleinen. Tibor fragte sich einmal öfter, ob es eine gute Idee gewesen war, sich den beiden anzuschließen. Nicht weil ihn die Kleine störte. Die Vorräte waren einfach zu knapp. Es war hier schon schwierig, genug Essen zu bekommen, noch schwieriger aber, Kwi zu kriegen. Und wer kein Kwi im Kreislauf hat, wird von diesem ungastlichen Stern automatisch abgestoßen. Zuerst dematerialisiert sich nur ein Körperteil, der Arm oder so, und man kann die weitere Dematerialisierung aufhalten, wenn man sich neues Kwi reintut. Wer aber nichts ertauschen, erbetteln oder von den nativen Bewohnern dieser Welt absaugen kann, dem bleibt nichts anderes übrig, als hilflos mitanzusehen, wie sein Körper zu einer anderen Welt fadet oder ins Nichts hinaus.
Und jeder zusätzliche Verbraucher reduzierte die Zeit, die der Kwivorrat reichen würde. So einfach war das.
Als er mit dem Essen fertig war, ging er auf den Balkon zu Laura und der Kleinen. Laura hatte ein kleines Feuer gemacht.
"Wir haben kaum noch Vorräte", sagte sie. Tibor winkte ab.
"Ich weiß. So knapp wie diesmal wars noch nie. Anderen gehts noch dreckiger - die in den besseren Jahren nichts zurückgelegt haben. Ich hab heut mit einem der vorletzten Generation gesprochen ..."
"Und?"
"Nichts besonderes. Über die letzte Generation hat er geschimpft. Dass wir nicht genug Ressourcen für alle hätten. Eben das dreckige Treten am unteren Ende der Hierarchie. Aber mittendrin weggefadet ist er."
"Vollständig?"
"Nein, er ist im ersten Stadium. Nur die linke Gesichtshälfte hat sich dematerialisiert. Sah aus wie bei Enterprise, wenn jemand gebeamt wurde. Ich konnte durch den halben Kopf die andere Straßenseite sehen."
"Enterprise", sagte sie. "Wenn es nur so wäre. Die wurden nicht nur weg-, sondern irgendwann auch wieder zurückgebeamt."
"Ja", sagte er. "Das hier ist eben keine Fiktion."
"Und jetzt?"
"Weitersuchen."
Laura nickte ihm zu und sagte, dass sie schlafen wolle. Tibor lächelte sie an, sah ihr hinterher und danach in die Nacht. Ein paar kleine Feuer verrieten andere Fader, die verstreut in der fast leeren Metropole lagerten. Zuckende Glühwürmchen im Sumpf des Unbehausten. Er dachte eine Weile über das Leben auf diesem Planeten nach, dann ging er leise in den Schlafraum.
Laura lag eingerollt auf der Seite und atmete gleichmäßig. Tibor legte sich neben sie auf den Rücken, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schloss die Augen.
Er brach früh am Morgen auf und pirschte einige Stunden durch die Straßen, ohne irgendetwas Lebendiges zu sehen, bis auf einmal ein paar Geflügelte im Tiefflug über dem Dach einer Lagerhalle auftauchten. Groteske Kreaturen, mit unsinnig langen Hälsen und riesigen Schnäbeln, deren lederne Schwingen mit jedem Flügelschlag wie Segel in einer Bö knallten. Prächtige Mistviecher. Voller Wirklichkeit. Um sie herum schien sich die Realität zu verdichten und sie selbst wirkten übernatürlich scharf konturiert. Kwi für mehrere Wochen, schätzte Tibor.
Aber sie waren zu viele und zu groß – mit seinem Speer wäre er diesem Schwarm Teufel nicht gewachsen. Tibor verbarg sich hinter einer Mauer und wartete, bis die Luft wieder dünner wurde. Er war keiner der Kwijäger, die von ihrer Beute zur Strecke gebracht werden.
In der sengenden Mittagshitze stieß er auf ein Rudel rattenähnlicher Kwirati, die zwischen den Mauern eines dachlosen Hauses auf großen Schuttbrocken in der Sonne dösten. Eins stand auf den Hinterläufen und rieb sich die Schnauze mit den Vorderpfoten. Drei, vier Jungtiere spielten vor einem großen Loch, das sich am Fuß eines geziegelten Turms befand. Wahrscheinlich ein Schornstein, dachte Tibor, der sich hinter einem verbeulten Fahrzeug verbarg. Er zählte ungefähr zwanzig Stück.
Tibor schlich um das alte Auto herum, zielte auf das aufrecht stehende Kwirati und rannte los. Geriet auf dem auf der Straße liegenden Geröll ins Rutschen und verzog den Wurf. Er traf, aber nicht wo er gewollt hatte. Das verletzte Kwirati kreischte, machte einen kleinen Satz und kroch mit dem Speer in der Seite Richtung Bau. Tibor schlitterte ein paar Meter über die Schicht aus kleinen Steinen, ruderte mit den Armen um Gleichgewicht, sah seine Beute schon geflohen, zog den langen Dolch und nutzte einen Moment der Balance, um abzuspringen.
Er landete auf einem großen Stein, sprang in langen Sätzen über den Schutt zum Kwirati und kehlte es. Schnell zog er den Inputschlauch, schob den Vakuumverschluss beiseite und saugte das Kwi ab. Das Ratten-Kwirati war randvoll mit dem Zeug.
Im Inneren des Schornsteins winselte was. Die Jungtiere. Tibor zog den Speer vorsichtig aus dem toten Kwirati und ging langsam auf das Geräusch zu. Als er nur noch wenige Schritte entfernt war, hörte er warnendes Grollen aus dem Schatten.
Tibor umrundete den Ziegelturm – der war viel zu tief, mit dem Speer würde er nichts ausrichten. Er suchte das Gelände ab. Ein paar Holzlatten ragten aus einem Schutthaufen. Tibor zog drei lange Bretter heraus und nahm sie mit vor den Bau. Zertrat zwei davon zu Kleinholz, nahm Fasern eines einheimischen, gut brennbaren Krauts aus seiner Gürteltasche, legte es unter den Haufen und zündete ihn an. Wartete einen Moment, bis ein kleines Feuer flackerte und schob es mit dem dritten Brett in den Kamin.
Das Winseln wurde lauter, das Grollen zu einem Fauchen. Es knisterte, dünne Rauchfahnen stiegen auf. Tibor, ganz Auge und Speer, wartete. Als die Kwirati aus dem Schornstein flohen, quollen sie mit einem Mal heraus, schnellten am Feuer vorbei wie ein Fischschwarm stromabwärts an einem Felsen. Tibor stieß den Speer immer wieder in die flirrende Fläche aus Rücken, bis der Strom versiegte. Vier Kwirati blieben liegen, insgesamt hatte er fünf töten können. Das war gut, weit besser als sonst in letzter Zeit. Trotzdem würde es kaum für zehn Tage reichen. Drei Wochen, wenn er nicht teilen müsste.
"Robert war hier ...", sagte Laura.
"Aha", sagte Tibor. "Was will er?"
"Sie haben ein großes Ding geplant. Eine Treibjagd oder eine Expedition. Ich bin nicht sicher. Robert redet immer so schnell, seine Gedankensprünge ... Sie wollen dich als Späher. Er sagte, du bist der beste."
"Schmeicheln kann er."
"Die anderen machen nur mit, wenn du scoutest. Auf dich ist Verlass, sagen sie. Man ist auf dich angewiesen, Tibor, die haben fast keine Vorräte mehr. Titus Tochter verschwindet von Tag zu Tag mehr. In einer Woche ist sie weg, sagt er. Morgen ist das Treffen."
Tibor schüttelte den Kopf. "Sollen die faden. Das geht mich nichts an. Mit denen arbeite ich nicht, die sind unprofessionell."
"Sie könnte meine Tochter sein."
"Ist sie aber nicht."
"Du spinnst doch! Sieh mich an. Was ist los?"
"Ich denke darüber nach", sagte er. "Aber jetzt muss das Kwi in den Speicher."
Tibor stand auf und ging zum Tank. Er steckte den Schlauch ein und verfolgte, wie sich die Gesamtmenge auf der Anzeige erhöhte. Um fast die Hälfte.
Kwirati jagen, dachte er. Mit Robert und den anderen. Er flüsterte es vor sich her, schmeckte die Wörter, und sagte es nochmal, wie um sich an den Geschmack zu gewöhnen. Tibor nahm ein Stück Wurzelholz und begann eine Figur zu schnitzen. Er würde seine Ruhe haben. Laura ließ ihm sein Alleinsein, er ließ Laura ihres. Als es Abend wurde und das Licht zu schwach zum Schnitzen, hörte er auf und sah, dass die Figur den Ratten ähnelte, die er heute getötet hatte. Er ging auf den Balkon und blickte eine Weile auf die Silhouette der finsteren Stadt, ein Anblick, von dem er dachte, dass er sich nie daran gewöhnen wird. Tibor überlegte, ob er sich wieder allein durchschlagen sollte, schob den Gedanken jedoch schnell beiseite. Aber es hilft nichts, dachte er kurz darauf, wenn das Kwi weiterhin so rar bleibt, dann hau ich ab, damit es wenigstens für mich reicht.
Die ganze Bande: Dieses Wikinger-Weib mit ihren Titten in Stahlkörben und den zwei Huskies. Titus, der kleine Scheißer mit den unruhigen Augen. Seine Pupillen wanderten rastlos durch den Raum, über jedes Objekt und jeden Jäger. Er war noch nervöser als üblich, vielleicht, weil sich ab und an sein rechter Arm dematerialisierte. Zwei schweigsame Typen mit gewichsten Schnurrbärten. Robert redete, gestikulierte und trat auf, als hätte er gerade die verdammte Welt erobert – das war nichts Neues. Tibor lächelte schmal, lehnte sich zurück und wartete.
Die Geschichte klang interessant, das Ziel lohnend. Eine Gruppe Jäger war drei Tagesmärsche entfernt auf Höhlen mit Kwirati gestoßen, die auf zwei Beinen gehen und Werkzeuge benutzen. In den Lagern der in Stammesverbänden lebenden Kwirati befinden sich meist große Kwivorräte. Diese höherentwickelten Natives haben Wege gefunden, das Kwi für andere Zwecke einzusetzen: Als Antriebsenergie für primitive Maschinen, als Brennstoff oder Leuchtmittel.
Der Scouttrupp hatte das Terrain ausgekundschaftet und eine Karte gezeichnet, wie man dorthin kommt. Während der Beobachtung fiel den Scouts auf, dass die Haupthöhle mit dem Kwispeicher regelmäßig ihres Schutzes beraubt wird - wenn die Kwirati jagen. Wenige bleiben dann zurück, und unter den Wenigen sind vor allem Alte und Kranke. Der perfekte Zeitpunkt loszuschlagen und das Kwi zu klauen.
Jeder könnte seine persönlichen Speicher füllen - und Robert sagte, dass er zwei seiner Lasttiere mitnehmen und mit großen Speichern ausrüsten würde. Die würden entsprechend des jeweiligen Verdiensts geteilt werden. Stimmt, gestand sich Tibor, das war vielleicht auch ein Grund, warum er Robert nicht mochte. Er war mit Abstand der wohlhabendste von ihnen, war mit dem Organisieren solcher Raids zu Wohlstand gekommen. Lasttiere und solch große Speicher, das war hier heißbegehrter Besitz. In die passte genug Kwi, um eine Familie viele Monate zu versorgen.
Insgesamt klang die Expedition nach einem einfachen Plan, die laut Tibors Erfahrung die besten Pläne waren. Allein konnte das keiner reißen. Und sie brauchten das Kwi, wie jeder.
Tibor spürte seine Hände kribbeln - die erste Vorstufe der Dematerialisierung. Er nahm die Membran vom Mundstück des Outputschlauchs und inhalierte einen Mundvoll Kwi. Bald ließ das Kribbeln nach. Vor sich sah er etwa zeihundert Meter abschüssigen Geröllwegs, der zur Hängebrücke führte. Eine wackelige Holzkonstruktion, deren einziger Pluspunkt ihre Kürze war. Dahinter begann das Territorium des Kwirati-Clans. Tibor lief zur Hauptgruppe zurück.
Zwei Kwirati am Fluss. Sie schöpften Wasser und gingen mit vollen Eimern den Pfad zum Höhleneingang rauf. Der Weg führte eine leicht geneigte Ebene hoch, voller Steine in allen Größen und Formen.
Tibor flüsterte Robert, still zu sein und mit den anderen zu warten. Er verfolgte die beiden, schlich von Deckung zu Deckung. Kwirati-Kids, dachte Tibor. Ihre Wirklichkeit beeindruckte ihn. Die gehörten hierher.
Er hockte sich hinter einen großen Felsen und bedeutete den anderen mit einer knappen Geste aufzuschließen. Die folgten im geduckten Gänsemarsch - wie eine vielgliedrige Schlange sahen sie von oben aus. Als die an der Höhle angekommen war, reichte man ihm die Zügel der Lasttiere.
Dann schnellte die Schlange in die Höhle und spaltete sich in ihre einzelnen Glieder, die auf die Kwirati stürzten und die in ihrem Alltag überraschten Wesen überwältigten, bewusstlos schlugen und fesselten.
Tibor war überrascht, dass kein Jäger in einen Schlachtenrausch geriet. Vielleicht war es die Menschenähnlichkeit der Kwirati, die sie zurückhielt. Er führte die Lasttiere in den hinteren Höhlenbereich, wo er den Kwispeicher ausgemacht hatte. Tibor steckte den Inputschlauch ein, füllte sein Standard-Behältnis und die großen Speicher der Lasttiere und trabte mit ihnen zurück zum Höhleneingang, seinem Posten.
Als er ans Tageslicht trat, sah er eine große Menge aufrecht gehender Kreaturen, die eindeutig in Richtung Kwirati-Lager kamen. Vielleicht dreißig Mann. Einige trugen auf lange Stangen aufgehängte Kwirati, andere schienen verletzt, sie humpelten, wurden gestützt oder sogar getragen. Der Jagdtrupp. Dieser Planet hat uns wirklich auf dem Kieker, dachte Tibor.
Wenn er sofort handelte, würde er die Jäger warnen und eine Abwehr organisieren können. Tibor blickte in die Höhle hinein, sah die schweigsamen Brüder mit den gewichsten Schnurrbärten bei den gefangenen Kwirati stehen; Titus hatte den Inputschlauch in den Speicher gesteckt und hielt mit der rechten Hand den Outputschlauch fest, an dessen Mundstück er gierig saugte. Die rechte Körperhälfte war nur noch Kontur und durchsichtige Fläche. Die Wikinger-Tussi stand daneben und füllte die auf den Rücken der Huskies geschnallten Speicher. Er würde keinen von ihnen vermissen. Tibor traf eine Entscheidung und führte die Lasttiere hinter einen der großen Felsblöcke. Wartete, lauschte.
Die Kwirati kamen den Bergweg hoch. Er spürte ihre Gegenwart. Wenn viele Kwirati in der Nähe sind, scheint sich die Luft zu verdichten wie ein Kraftfeld. Er hörte ihre müden Füße, die schweren Schritte der Verwundeten; kleine Steine, die den Hang hinunterrollten. Spürte das Kraftfeld sich Richtung Höhle verschieben.
Dann ein Schrei. Titus Stimme, die fluchte und nach Hilfe rief. Die Wörter hingen lange in der Luft, echoten in fernen Schluchten. Kampfgeräusche. Tibor hörte Stahl gegen die Steinwaffen der Kwirati treffen. Hektische Bewegungen auf dem freien Feld vor dem Eingang. Das dumpfe Geräusch eines Schädels, der eingeschlagen wurde. Er spürte etwas wie eine Wirklichkeitsverdünnung, als die Kwirati ins Innere der Höhle vordrangen und sich auf die Menschen stürzten.
Tibor wartete ein paar Sekunden, spähte um den Felsen und sah niemanden vor der Höhle stehen. Wie er vermutet hatte, das waren Jäger, keine Krieger. Er griff nach den Zügeln und lief mit den Lasttieren den Weg hinab.
Die Füße möglichst wenig vom Boden abheben, lange Schritte, auf dem Ballen landen, über den Außenrist abrollen, durch die Nase ein und durch den Mund ausatmen. Bald würde der Atem mit den Schritten synchronisiert, und die Gedanken in kalter Bergluft gelöst. So würde er viele Stunden laufen können.
Er ging über die Hängebrücke, suchte auf der anderen Seite einen großen Stein und schlug ihn so lange gegen einen Pfosten, bis der wackelte und aus de
m Boden brach. Tibor kickte den Pfosten mitsamt dem daran hängenden Seil in die Schlucht. Er kontrollierte die Kwi-Speicher. Alle randvoll. Es dämmerte.
Tibor hatte sich die Strecke auf dem Hinweg eingeprägt. Sie war eben genug, dass sie nachts laufen konnten, wenn die Augen an die Dunkelheit gewöhnt waren. Am Tag wollte er schlafen, wenn es wärmer war und weniger Räuber unterwegs waren. In spätestens fünfzig Stunden würde er wieder in der Stadt sein.