Ausschnitt eines Abends
„Ich geh nicht mit und damit Punkt“, sage ich.
„Gut“, antwortet Michael, aber es ist kein wirkliches „gut“, es ist ein „gut“, das ihm Zeit verschaffen soll. Wir sitzen zusammen auf unserer kleinen Terrasse. Er auf dem Stuhl neben der Terassentür, ich rechts davon in unserem Acapulco Sessel im Stil der 50er Jahren. Ich liebe diesen Platz. In der Mitte von uns steht ein kleiner, kreisrunder Tisch mit weiß-roten Mosaikmuster, passend zu den beiden Stühlen, und unpassend zu meinem, der eher in eine Lounge passen würde. Es ist halb 11 Uhr abends, die lange Kerze auf den Flaschenhals einer alten Weinflasche gesteckt, flackert in der Dunkelheit. Ich rauche, Michael nippt an seinem Radler.
Er lehnt sich ein Stück vor, ich mich zurück, winkle die Knie an. Michael räuspert sich.
„Ich verstehe nur nicht“, fängt er an, „warum du nicht mitwillst“.
„Weil ich keine Lust habe. Weil ich müde bin, weil es mir zu anstrengend wird und weil es das letzte Mal schon furchtbar war“, antworte ich.
„Wieso denn furchtbar? Wir hatten einen netten Abend, das hast du im Nachhinein selbst gesagt“
„‘Nett‘ für die Umstände. Dafür, dass ich es schlimmer erwartet hatte“.
„Du tust so als würde ich dich weiß Gott wohin mitschleppen wollen. Das Einzige, was ich will, Lina, ist, dass wir mal rauskommen, dass DU mal rauskommst und wir einen schönen Abend mit Freunden haben. Seit Woche, nein, seit Monaten verkriechst du dich hier in der Wohnung. Denkst du, das tut dir gut?“, fragt Michael. Pause. Ich antworte nicht. Ziehe demonstrativ an meiner Zigarette. Darin war ich schon immer gut. Fragen im Raum stehen zu lassen, Stille erst herbeizuführen und sie dann auszuhalten. Michael seufzt erschöpft und fragt dann: „Wie lange soll das noch so weitergehen?“.
Der Rauch meiner Zigarette steigt in weiß-grauen weitgefassten Kreisen die Wand entlang nach oben, bis er sich auflöst. Auflösen. Schöne zwei Bedeutungen, 1. Auflösen und etwas ist weg und 2. Auflösen und etwas handfestes ist da. Der Kommissar hat den Fall aufgelöst, der Fall ist zwar aufgedeckt, aber statt ihm steht nun eine Lösung parat.
„Ich habe dich etwas gefragt“, sagt Michael nun hörbar genervt.
„Ich weiß aber nicht, was ich sagen soll“, antworte ich patzig.
„Dann versuch‘s doch wenigstens! Wie stellst du dir das denn in Zukunft vor? Wie lange willst du dich hier noch einigeln?“
„ICH WEIß es nicht! Es ist nicht so, dass ich das aus Spaß mache“. Ich sollte kleinlaut sein, aber stattdessen werde ich laut. Das ist immer mein Problem, ich habe von allem zu wenig oder zu viel, mir fehlt das Mittelmaß.
„Gut“, sagt Michael wieder. „Und was soll ich Laura und Moritz dieses Mal sagen? Corona hattest du schon letztes Mal“.
Ich werde sauer. Die Wut steigt in meinem Bauch hoch und bahnt sich den Weg in meinen Kopf. Mir wird heiß. „Es ist mir verdammt noch mal egal, was du ihnen sagst! Sag, dass ich ausgewandert bin, dass ich auf einen Igel getreten bin oder sag ihnen doch einfach wies ist, dass ich psychisch krank bin, mein Gott“.
„Linchen“, sagt Micheal beschwichtigend, „ich will dir doch nur helfen“
„Es hilft mir aber nicht, wenn du mich unter Druck setzt“ entgegne ich immer noch wütend.
Er streckt seine Hand nach mir aus, ich weiche ihm aus und stecke mir stattdessen eine neue Kippe an. Kurz ist es ganz still. Nur das Klicken des Feuerzeuges ist zu hören, dann das Verglimmen der ersten Glut.
„Und wenn du es wenigstens mal versuchst?“, fragt Michael besänftigend, „Mir zuliebe?“. Traurig schaut er mich an. Erst jetzt fällt mir auf, wie schlecht er aussieht. Blass und abgeschlagen, dunkle Schatten unter seinen Augen. ‚Das kommt vom vielen Corona-Lügen‘, denke ich boshaft. Obwohl ich es besser weiß. Er arbeitet zu viel und ich bin keine große Hilfe. Seit zwei Monaten verlasse ich das Haus nicht mehr bzw. wenn, dann nachts. Tagsüber ist mir alles zu hell, zu laut. Wenn ich nachts durch unser Viertel gehe, komme ich zumindest etwas zur Ruhe. Ich mag es, wach zu sein, wenn alles um mich herum schläft, die Bahnen nicht fahren, alle Geschäfte verschlossen sind und das Dunkle hinter den Fassaden und Fenstern eine Art Frieden ausstrahlt. Als würde die Welt kurz stehenbleiben. Eine Geisterstadt, in der es nur mich gibt.
„Mir zuliebe“, hatte er gesagt. Ich überlege kurz. Schließe die Augen. In meinem Kopf dröhnt es.
„Ich möchte nicht mit“, sage ich schließlich matt.
„Gut“, antwortet Michael. Und dieses Mal ist es ein abschließendes „gut“, keines, um sich Zeit zu verschaffen, dafür ein resigniertes.
Ich drücke die Zigarette aus, stehe auf und gehe zu ihm. Setze mich auf seinen Schoß und mache mich ganz klein, lege meinen Kopf an seine Brust. Sie ist warm, sein Herz schlägt beruhigend. Er streichelt mir über den Kopf. „Ist schon gut“, sagt er. Erst jetzt merke ich, dass ich weine. Lautlose Tränen, die über mein Gesicht auf sein hellgraues T-Shirt fallen und kleine dunkle Flecken hinterlassen.
‚Es ist unfair, was ich hier mache‘, denke ich. Ich weiß, dass Michael mir nicht böse sein kann, wenn ich weine. ‚Manipulation‘, denke ich. Aber es fühlt sich nicht so an. Es fühlt sich echt an. Meine Wut ist verblasst, an ihrer Stelle ist nun Traurigkeit und Leere. Und Michaels warme Brust, ein Stück Geborgenheit, die mein Herz aufsaugt wie ein Schwamm. ‚Ich brauche ihn so sehr‘, denke ich. Meine Lippen bleiben stumm. Dafür schau ich nun hoch und küsse ihn flüchtig.
„Komm, wir gehen schlafen“, sagt Michael, drückt mich ein Stück weg, nicht fest, nur ein vages Signal, dass die Zeit jetzt rum ist, dass der Moment vorbei ist. Wir stehen auf. Ich lösche das Kerzenlicht und folge Michael in die Wohnung.