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Babylon
Als Georg vor ein paar Tagen weinend nach Hause kam, nahm ihn sein Vater in die Arme. Ein Streit unter Gleichaltrigen auf dem Pausenhof. Ein aufgeschürftes Knie, ein dummer Spruch, eine Ohrfeige. So etwas hatte es zu seiner Zeit auch gegeben, dachte Georgs Vater. Aber damals war nicht heute.
Sie gingen den Fußgängerweg entlang. Er begleitete seinen Sohn gerne zur Schule. Etwas Zeit, den zwitschernden Vögeln zuzuhören und sich zu unterhalten. Georgs Vater genoss jede Minute, die er mit seinem Sohn verbrachte. Und wenn sich Georg auf dem Weg ins Schulhaus noch mal zu ihm umdrehte, um zu winken, hatte ihn das früher über den ganzen Tag getragen.
„Als ich in deinem Alter war, kostete ein Eis eine Mark und fünfzig Pfennig“, sagte er zu seinem Sohn.
„Im Sommer saß ich gerne auf dem Rasen im Freibad in der Sonne, sah den Mädchen beim Schwimmen zu und lutschte mein Eis. Heute kostet ein Eis an der Tankstelle drei Euro und schmeckt nach Wasser und Farbstoff. Die Welt ist nicht mehr dieselbe wie noch vor zehn oder zwanzig Jahren, weißt du? Die Dinge verändern sich. So wie du von Tag zu Tag größer wirst, dreht sich auch die Welt um dich herum weiter.“
Er machte eine Pause und dachte an diese Videos. Intense trench-warfare POV footage, Massenschlägerei 1 auf einem Dorffest in Südthüringen, Massenschlägerei 2 auf einem Schulhof in Kassel, ein Imagefilm, in dem zwei Dutzend muskelbepackte Anfang Zwanzigjährige sich dabei filmten, wie sie morgens um halb fünf oberkörperfrei im Schnee Liegestützen machten und sich anheulten. Sie nannten sich das Rudel. Jeden Abend sah er sich diese Videos an. Jeden Abend klappte er irgendwann seinen Laptop zu, legte sich ins Bett und konnte nicht einschlafen. Gestern hatte er sich einen Porno angesehen. Irgendwann hatten die Darstellerinnen begonnen, sich mit Exkrementen einzureiben und er hatte abgebrochen. Als sein Sohn ihn heute Morgen vom Frühstückstisch mit einem Mund voller Schokomilch angegrinst hatte, war ihm direkt wieder schlecht geworden.
Deshalb sagte er: „Leider hat sich die Welt ein bisschen zu weit gedreht, Georg. Leider ist alles ein wenig aus den Fugen geraten.“ Er sagte: „Damit müssen wir uns abfinden“, und dachte an sozial verwahrloste Familien aus den Brennpunktbezirken der Stadt. An Jugendliche, die zwischen leeren Energydrinkdosen und benutzten Pizzakartons herumsaßen, den überforderten Eltern feixend ihre Zwillen zeigten und gelangweilt angaben damit Stahlkugeln auf Hunde zu schießen. Er kannte solche Familien. Ein paar davon schickten ihre Kinder auf Georgs Schule. Beim letzten Elternabend hatte ihm so jemand gegenüber gesessen. Er hatte sich vorgestellt, wie Georg und deren Tochter in der Schule nebeneinandersitzen mussten. Am Abend hatte er seinen Sohn so lange auf Läuse untersucht, bis ihm seine Frau gesagt hatte, dass er spinne und gefälligst das Kind in Ruhe lassen solle.
Er sagte: „Man muss sich auf alle Gegebenheiten einstellen, Georg. Die letzten Jahre waren schlimm. Aber wer weiß, was noch passiert? Vielleicht ist morgen die nächste weltweite Lungenkrankheit im Anmarsch? Vielleicht entwickelt sich im Moment irgendein potenziell tödlicher multiresistenter Keim im antibiotikaverseuchten Fleisch, das wir täglich im Supermarkt in unsere Einkaufswägen schmeißen? Die haben das Kiffen legalisiert, Georg, während in den Staaten schon ganze Straßenzüge voll halb toter Abhängiger sind. Und ganz theoretisch könnte gerade irgendwer zwischen Morgen- und Mittagsgebet bunte Kabel in einen Klumpen Plastiksprengstoff stecken. Nicht, dass das wirklich alles passieren muss, aber es könnte passieren und genau das ist der Punkt. Die Welt hat sich verändert. Sie ist unsicher und gefährlich geworden, sogar hier bei uns.“
Georg sah seinen Vater mit großen Augen an. Mittlerweile waren sie bei der Schule angekommen.
„Stell dir vor, wir beide stehen an einer Wegkreuzung. Einer Abzweigung, an der sich die Straße in verschiedene Richtungen teilt. Da müssten wir uns wohl entscheiden, wo wir lang wollen, stimmts?“
Georg nickte vorsichtig.
„Solche Entscheidungen gibt es auch im Leben. Als ich deine Mama geheiratet habe, war das zum Beispiel so eine Abzweigung. Ich habe mich damals für eine Richtung entschieden. Und am Ende standest dann du, kleiner Mann und hast auf uns gewartet.“ Er tippte Georg gegen die Brust und lächelte. Schnell wurde er wieder ernst.
„Und vor einer ähnlich wichtigen Entscheidung stehen wir jetzt. Vor einer wichtigen Abzweigung für dich, Georg.“
Er beugte sich zu seinem Sohn herunter und legte eine Hand auf dessen Schulter.
„Aber keine Angst, Sportsfreund. Du bist noch klein und deshalb helfe ich dir, in die richtige Richtung zu gehen.“
Ein paar Nachzügler aus Georgs Klasse liefen an ihnen vorbei. Auf ihren viel zu großen Rucksäcken waren grüne Dinos und rote Sportautos gedruckt. Gemütliche Bären mit schwarzen Sonnenbrillen prangten auf Turnbeuteln und winkten. Misstrauisch sah Georgs Vater ihnen hinterher. Eine Generation von Kindern, die darauf getrimmt wurde, sich ab dem Sandkasten gegen ihre Konkurrenten durchzusetzen, um sich im späteren Leben die besten Plätze zu sichern. Er dachte an Drittklässler, die mit Smartphones ihre Mobbingopfer filmten, um schon mal die zukünftige gesellschaftliche Rangordnung festzulegen. Gewaltaffin und empathielos geworden durch zahllose Livestream-Übertragungen von Massenerschießungen irgendwo am anderen Ende der Welt. Er dachte an die jungen Verlierer dieser Verteilungskämpfe, die, von Rache getrieben, Ziegelsteine von Autobahnbrücken in die Windschutzscheiben voll besetzter Familienautos warfen. Die freitagabends Obdachlose anzündeten, sich montags in Jugendstrafeinrichtungen wiederfanden und als einige der wenigen Lektionen eine lebenslange Methamphetaminsucht mitnahmen. Für den Anfang reichte manchmal eine einfache Demütigung auf dem Schulhof. Er hatte die Regeln nicht gemacht.
„Was tust du, wenn ein Klassenkamerad dich um einen Stift bittet?“, fragte er. „Du tust den Teufel, ihm einen zu leihen. Denn den siehst du nie wieder. Und wenn sie merken, dass sie das mit dir machen können, dann hast du ein Problem. Denn dann ist es beim nächsten Mal nicht mehr nur ein Stift, sondern dein ganzes Mäppchen, das sie dir wegnehmen. Wenn dir wer blöd kommt, dann komm ihm auch blöd! Zeig ihm nicht, dass du Angst hast, sondern sei mutig und setz dich durch! Es ist ganz wichtig, dass du lernst, dich alleine zu behaupten. Das gehört zum Älterwerden dazu. Vor allem, weil deine Mama und ich nicht immer da sein können. Also wehr dich, auch wenn das bedeutet, dass du vielleicht mit jemandem streiten musst, verstehst du?“
Georg nickte unsicher. Der Gong kündigte den Beginn der ersten Stunde an und sein Vater erhob sich. Sie mussten zum Ende kommen, aber das war in Ordnung. Er glaubte, dass er die richtigen Worte gefunden hatte.
„Also, wenn dich in Zukunft jemand doof behandelt oder sich wie ein Idiot benimmt, was machst du dann?“
Georg presste die Lippen aufeinander und überlegte. Er wollte nichts Falsches sagen.
„Ich … ich wehre mich.“
„Richtig!“ Sein Vater sah ihn liebevoll an und griff in die Tasche seines Mantels.
„Und genau deshalb nimmst du in Zukunft das hier mit“, sagte er und drückte seinem Sohn ein Springmesser mit einer fünfzehn Zentimeter langen Klinge in die Hand.