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Bachs klassischer Abschied
Der alte Mann war müde geworden.
Langsam schleppte er seinen schlaffen Körper über die Straße. Die Ampel vor ihm war längst wieder auf rot gesprungen. Einige Autos hupten, doch der alte Mann lächelte bloß.
Heute ging ihn die Welt nichts an. Nebensächlich war sie; und verzichtbar.
Mit herunterhängenden Schultern blieb er vor dem kleinen Straßencafe stehen. Erinnerungen kamen auf. Er verdrängte sie. Bald schon sollte er das Cafe wieder so sehen, wie er es immer am liebsten gesehen hatte.
Keuchend schlurfte der alte Mann weiter.
Dann kam die enge Seitengasse, in die er einbiegen musste. Unzählige Müllcontainer standen hier und bildeten einen Hindernisparcours, den er träge meisterte.
Schließlich war das Schild vor ihm.
Hegenbrooks - Filmstudio für Lebenswerkerei
Der kleine Laden befand sich in der ersten Etage. Die Klimaanlage sorgte für angenehme Erfrischung, und die hübsche Frau am Empfang schenkte ihm ein warmes Lächeln.
"Schönen guten Tag", sagte sie.
"Den wünsche ich Ihnen auch", antwortete der alte Mann. - "Kradinzky, ich habe einen Termin."
Die Frau strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und sah auf ihren Bildschirm.
"Sie möchten sich Ihren Lebensfilm anfertigen lassen?"
Der alte Mann nickte.
"Ja, sehr gerne sogar."
Die Frau holte ein Formular aus einer Schublade und reichte es ihm.
"Bitte nehmen Sie noch einen Augenblick platz. Sie werden gleich aufgerufen. In der Zwischenzeit füllen Sie dies hier bitte aus. Stifte liegen dort drüben auf dem Beistelltisch."
Er nickte und lächelte schwach.
"In Ordnung, haben Sie vielen Dank."
Die Fragen dienten lediglich der rechtlichen Absicherung. Zur Antwort standen jeweils zwei Kästchen bereit. Eines für ja auf der linken und eines für nein auf der rechten Seite.
Der alte Mann hakte die linken Kästchen vollständig ab. Nur bei der letzten Frage zögerte er kurz.
Sind Sie damit einverstanden, dass bei der Entnahme der Netzhautkamera, und der damit verbundenen Analyse Ihres aufgezeichneten Lebens, sämtliche - auch äußerst private - Szenen eingesehen und für den finalen Schnitt verwendet werden?
Dann hakte er auch hier auf der linken Seite ab und unterschrieb in dem dafür vorgesehenem Feld.
"Sie können jetzt reingehen, wenn Sie fertig sind."
Sich an den Stuhllehnen aufstützend, drängte der alte Mann sich vorfreudig auf die Beine.
"Danke", keuchte er.
"Den Fragebogen können Sie mir geben", sagte die Frau.
Hinter der Tür war ein stickiger Raum mit einem Schreibtisch in der Mitte. Ein rothaariger Mann, der die Arme hinter dem Kopf verschränkt hatte, begrüßte ihn: "Guten Tag, Herr Kradinzky. Paulson heiße ich. Schön, dass Sie hier sind."
Der alte Mann seufzte.
"Irgendwann musste es ja mal soweit kommen."
Paulson stand von seinem Stuhl auf und reichte Kradinzky die Hand.
"Was sagen denn die Ärzte", fragte er, während der alte Mann den Handschlag schlaff erwiderte.
"Nun ja, wissen Sie, es ist eben, wie es ist. Mit den Organen ist alles in Ordnung, aber der Zellverfall ..."
Paulson ließ sich zurück auf seinen Stuhl fallen und tippte etwas in die Tastatur. Dann pfiff er anerkennend.
"Einhundertachtzig Jahre. Ein schönes Alter. Aber ja, den Zellverfall kann man eben doch bloß verlangsamen. Nichts ist für die Ewigkeit."
Kradinzky wandte seinen Blick ab.
"Nein, da haben Sie wohl Recht."
Paulson räusperte sich.
"Nun gut, haben Sie die Liste dabei?"
Der alte Mann zog mit zittrigen Fingern ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Tasche seines Mantels.
"Hier ist sie. All´ die Schlüsselerlebnisse meines Lebens."
Er machte eine kurze Pause, und fügte anschließend hinzu: "Zumindest die, an die ich mich erinnern kann."
Paulson nahm die Liste an sich, warf einen kurzen Blick darauf, und ließ sie in einer Schublade verschwinden.
"In Ordnung", sagte er. - "Legen Sie Wert auf Musik?"
Kradinzky schüttelte den Kopf.
"Nein, ich will alles so wiedererleben, wie es passiert ist, außer ..."
Der rothaarige Mann sah ihn erwartungsvoll an.
"Außer?"
"Dieses eine Mal, mit Marlene. Es ist die Position 20 auf der Liste, das weiß ich ganz genau, weil ich sie mir immer wieder durchgelesen habe. Damals, in dem Straßencafe, in dem wir uns kennen gelernt haben. Da hätte ich gerne ..."
Kradinzky ließ seinen Blick in die Ferne schweifen und lächelte.
"... da hätte ich gerne Bach. Air on the G String. Leider kenne ich nur den englischen Titel."
Paulson lachte.
"Das sollte kein Problem sein. Mir sagt der Song zwar nichts, aber wir werden ihn finden, und ihn einbauen."
Der alte Mann bekam feuchte Augen.
"Haben Sie vielen Dank. Das bedeutet mir sehr viel."
Paulson strich sich durch die roten Haare und stand erneut vom Stuhl auf.
"Alles klar. Nochmal zur Sicherheit, Sie wünschen sich eine Filmlänge von zwei Wochen, ist das richtig?"
Kradinzky nickte.
"Ja, das ist richtig."
"Okay. Wir werden zirka einen Monat benötigen, und schicken Ihnen den Film dann mitsamt Rechnung per Post zu. Gehen Sie jetzt bitte zu meiner Kollegin am Empfang. Sie wird Ihnen die Netzhautkamera entnehmen. Herr Kradinzky, hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen."
Der alte Mann erwiderte schlaff den Handschlag.
Als er das Studio verließ, ging ihm ein Gedanke durch den Kopf. Die letzten Stunden sollten undokumentiert bleiben. Ein seltsames Gefühl, darum zu wissen, dass nichts mehr aufgezeichnet wurde.
So also ging es zu Ende.
Knarrend öffnete sich die Wohnungstür.
Kradinzky nahm Marlenes Photo und streichelte behutsam darüber.
"Bald werden wir uns wiedersehen, und anschließend komme ich zu dir", sagte er.