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Bandit
Es quietscht und zischt, als der ICE in den Bahnhof einfährt. Ich presse die Hände gegen meine Ohren und schließe die Augen. Aber es hilft nicht. Den Lärm kann ich nicht leiser drehen, die Bilder im Kopf nicht ausblenden.
Ich atme, wie es mich die Psychologin gelehrt hat. Tiefe Atemzüge, eine Pause nach dem Ausatmen. Entspannung - nicht nur fürs Zwerchfell. Dann öffne ich wieder die Augen. Sehe Fahrgäste auf dem Bahnsteig an mir vorbeieilen: Frauen in bunten Kleidern, Männer die Koffer tragen, Kinder mit Basecaps; und Bandit. Er überragt sie alle um Haupteslänge.
Ich streiche meinen Rock glatt, löse mich aus dem Schatten des Fahrkartenschalters, schiele kurz nach allen Seiten und gehe ihm entgegen. Er sieht mich und bleibt stehen, lässt Sekunden verstreichen, bevor er seine Arme öffnet. Die letzten Meter renne ich.
»Danke fürs Abholen.« Er grinst und reicht mir einen Strauß weißer Nelken.
»Kein Problem«, sage ich und lächle ihn an. »Warum die Bahn? Musstest du den Mustang zu Geld machen?«
»Nee, niemals. Hab den Lappen weg. Endgültig.« Er schultert seine Sporttasche. »Frag nicht«, sagt er, noch bevor ich Luft geholt habe.
»Mensch, Bandit, immer baust du Scheiße.«
Mein Onkel schneidet eine Grimasse und folgt mir zum Ausgang.
Bandit heißt eigentlich Konrad und ist das Nesthäkchen unter den Geschwistern meiner Mutter. Da er oft bei uns zu Hause herumlungerte, wurde er für mich mehr ein großer Bruder als ein Onkel. Seinen Spitznamen bekam Bandit von mir – wegen der Ähnlichkeit zu dem jungen Burt Reynolds. Als Kind hatte ich keine Ahnung davon, dass der Name bereits Programm war.
»Hab dir die Couch im Arbeitszimmer bezogen«, sage ich und führe ihn durch die Wohnung. »Ralf nimmt Auszeit. Wollten nächste Woche zum Zelten nach Holland. Gestern ist er nach Lloret geflogen.«
»Ui. Ärger?«
Ich zucke mit den Schultern, nehme den Bilderrahmen vom Schreibtisch und fahre über Ralfs Konterfei. »Verflixtes siebtes Jahr. Wird wieder.«
Der Mond hat die Form einer Sichel und leuchtet hell. Wir gehen auf einen Absacker. Mir schwebt das urige kleine Lokal an der Straßenecke vor, in dem morgen das Familienfest stattfinden soll, doch Bandit will in die Stadt.
Ich parke den Wagen am Neckarufer, und wir schlendern Richtung Altstadt. Über unseren Köpfen, beleuchtet wie eine riesige Skulptur, die alte Schlossruine.
Mit dem Abbau des Stützpunktes ist der Glanz der Manhattan-Bar verschwunden. Jeder wollte ihn hier erleben, den American Way of Life, der von den Wänden widerhallte, beim Spiel der Bands oder auf dem Parkett zu spüren war, über das man beim Tanzen hinwegfegte. Dort, wo früher Sitzplätze reserviert werden mussten, haben wir heute freie Auswahl. Das Licht ist schummrig, der Samt unserer Sessel verschlissenen.
»Neun Jahre, Katja«, sagt Bandit, hebt sein Whiskyglas und betrachtet die schimmernde Flüssigkeit. »Auf die alten Zeiten.«
Ich nicke, proste ihm zu und nippe am Cocktail.
»Hast ordentlich gebechert an dem Abend. Konntest mithalten«, sagt er.
»Du weißt, warum.«
Bandit leert sein Glas in einem Zug und knallt es auf den Tisch, dann beugt er sich zu mir und mustert mich. Lang und durchdringend, als wolle er in mich hineinsehen. Ich habe meine Hände im Schoß gefaltet und halte Bandits Blick stand. Seine Augen sind dunkel, Haare, Schnauzbart und Koteletten leicht ergraut. Mein Onkel seufzt und fragt: »Dieser Typ … Mal was gehört?«
Meine Finger fangen an zu zittern. Ich schiebe sie in die Taschen meiner Latzhose und sehe über Bandits Schultern hinweg eine Animierdame, die sich mit wiegenden Hüften einem Gast nähert. Ihre Oberweite droht aus der Korsage zu fallen; blonde Locken hüpfen auf und ab.
»Zum Glück ist morgen Taufe und keine Beerdigung«, sage ich und spüre, bitter schmeckender Saft die Kehle aufsteigen.
Mein Onkel lehnt sich zurück und sieht mich mit gerunzelter Stirn an. »Du steckst hinter der Einladung, nicht wahr?«
Wir zucken zusammen, als an der Bar etwas zu Bruch geht. Eine Brünette im Negligé-Kleid sammelt Scherben ein und erregt Bandits Aufmerksamkeit.
»Ich hab Lisa gesagt, sie kann sich ’ne neue Patin suchen, wenn sie dich nicht einlädt.«
Bandit lacht auf. »So was dacht ich mir«, sagt er und stiert jetzt ungeniert die Bardame an.
»War nicht leicht, an deine Adresse zu kommen – immer nur Ansichtskarten. Hättest mir ruhig schreiben können, dass du wieder in Deutschland bist.«
Als die Frau ihm zuzwinkert, greife ich nach seinem Arm.
»Drei Jahre haben sie dir aufgebrummt. Warum bist du untergetaucht nach der Haft? Warum wolltest du mich nicht sehen?«
»Du hast sie gehört, die liebe Familie«, sagt er. »Allen voran deine Mutter.«
»Aber ich doch nicht – ey, wir sind Kumpel.«
»Eben«, sagt Bandit und tätschelt mir die Hand.
In der Nacht schlafe ich schlecht. Meine Finger greifen suchend auf die andere Seite des Bettes. Sie ist kalt und leer wie mein Inneres, seit Ralf gegangen ist. Mehr als ein Jahr musste er warten, bis ich mit ihm schlafen konnte. Ich weiß noch, wie überrascht ich war, dass es auch schön sein kann.
Tränen laufen mir übers Gesicht. Ralf. Er hat mich nie bedrängt, über meine Pein zu sprechen. Aber immer gehofft, ich würde es eines Tages tun. Mein Schweigen käme ihm wie eine Lüge vor, sagte er beim Abschied. Und damit könne er nicht umgehen.
Ich stehe auf, gehe barfuß ans Fenster. Die Nacht ist sternenklar, die Straße leer – auch die Stelle neben der Straßenlaterne, am Haus gegenüber. Ich seufze, laufe im Zimmer umher, öffne eine der Schwebetüren des Schranks. Im untersten Regal finde ich das Kästchen, in dem ich Persönliches aufbewahre. Ich hebe den Deckel an. Das schwarz geränderte Kuvert liegt obenauf. Ich entnehme die Karte, stelle sie wie ein Foto auf den Nachttisch und lasse mich auf den Boden sinken.
Katja Bold,
die uns im Alter von 21 Jahren verlassen wird.
Heidelberg, im April 2005
Viermal hat die Kirchturmuhr geschlagen, als ich schlurfende Schritte auf dem Flur höre. Die Klospülung geht, und Bandit schleppt sich zurück in sein Zimmer.
Ich schlage die Bettdecke zur Seite, stapfe durch Schlafzimmer und Korridor. Ohne anzuklopfen öffne ich die Tür. Mit angewinkelten Beinen sitzt er auf dem Bett und raucht. Seine Haare sind zerzaust wie die eines schlafenden Kindes, der Blick hellwach.
»Hast du eine für mich? Ich kann nicht pennen.«
Die Camels kommen samt Feuerzeug angeflogen. Ich lehne mich gegen den Türrahmen, brenne mir eine Zigarette an und nehme ein paar hastige Züge. Dann laufe ich auch in diesem Zimmer umher, bis Bandit nach meiner Hand greift und sie festhält.
Ich setze mich ans Ende der Schlafcouch, schiebe die Füße unter die Decke, die neben meinem Onkel liegt. Auf seinem Knie balanciert er den Aschenbecher. Bandit raucht und taxiert mich. Ich lege den Kopf in den Nacken, inhaliere jetzt tief. Betrachte den Rauch, wie er meinem Mund entweicht und sich seinen Weg nach oben sucht. Ralf und ich haben das Zimmer renoviert. Die Decke weiß gestrichen, die Wände in diesem Wahnsinnsgelb, das uns anfangs die Gesichter verziehen ließ, weil wir das Gefühl hatten, in Zitronen zu beißen.
Erst als Bandit auf meine Hände starrt, wird mir bewusst, dass ich sie auf dem Bauch liegen habe. Wärmend, schützend. Doch da ist nichts mehr, was es zu behüten gibt. Weil ich es nicht retten konnte vor den Fäusten und Füßen seines Erzeugers.
»Was weiß Ralf?«, fragt Bandit.
»Nur, dass ich ’nen Freund hatte, der grob war.«
»Grob?« Er spuckt mir das Wort ins Gesicht. »Und die Todesanzeige in deinem Briefkasten war ein Glückwunschtelegramm, oder was?«
»Das geht nur dich und mich was an.«
Bandit tippt sich gegen die Stirn. »Du irrst dich gewaltig, Katja.«
Ich nehme einige Züge und denke an Ralf, der mir immer zur Seite stehen wollte und jetzt alleine in Spanien ist. »Ja, sieht so aus«, sage ich.
Mein Onkel greift nach den Zigaretten. »Der Dreckskerl hat sich in die Hosen geschissen, hast du’s gesehen?« Er steckt sich die nächste an, wirft mir die Packung auf den Schoß.
»Hab ihn wimmern hörn«, sage ich, beuge mich zu ihm und streife Asche ab. »Die Kripo hat mich befragt, gleich am nächsten Morgen. Ob ich was zum Verbleib der Waffe sagen kann, mit der du rumgeballert hast oder zu deinen Urlauben in Tschechien.«
»Und?«
»Was 'und'? Hab ich Ahnung von deinen Geschäften?«
Bandit zieht die Mundwinkel zu den Ohren. »Der war gut, Katja. Sag schon, wo isse?«
»Da, wo’s keiner vermutet.«
Schon lange sitze ich in der Küche und sehe dabei zu, wie das Tageslicht den Raum ausfüllt. Ich rauche Bandits Kippen und trinke Kaffee. Zu gerne würde ich mein Gesicht an der Scheibe kühlen. Aber ich weiß, wen ich sehen werde, sobald ich mich dem Fenster nähere.
Er lauert vor dem Haus, ist in der Stadt, im Supermarkt. Er hat mich nie angesprochen, nur beobachtet und Präsenz gezeigt.
Der Kaffee ist kalt geworden. Irgendwo klingelt mein Handy. Am Ton höre ich, dass es Ralf sein muss. Dem Zug an der Zigarette folgt der Schluck aus dem Becher. Ich bin zu müde, um aufzustehen.
Die Tür vom Arbeitszimmer wird geöffnet. Bandits Schritte, erst auf dem Flur, dann im Schlafzimmer. Ein verhaltener Fluch. Das Klingeln wird lauter, unerträglich, als er neben mir steht. Ich strecke ihm die Hand entgegen und sehe auf. Seine Stirn ist gerunzelt, die Lippen aufeinandergepresst.
»Souvenir, oder was?«, zischt er. In der Rechten hält er die Todesanzeige, wedelt mit ihr vor meinem Gesicht. »Ich mach den kalt – noch mal so ’n Ding und ich mach den kalt.«
Bandit gibt mir das Telefon, zündet die Karte mit seinem Feuerzeug an und wirft sie ins Spülbecken.
Mein Mund ist trocken. Ich räuspere mich, nehme ab und sage: »Hallo.«
»Wie geht’s dir, Katja?«
»Geht so. Und dir?«
»Du fehlst mir.«
»Echt?«
»Mensch, was denkst du denn? Aber so kann’s nicht weitergehen. Ich will Antworten, verstehste?«
Ich nicke, ziehe noch mal an der Zigarette.
»Katja?«
»Komm bald zurück. Bitte. Dann wird alles gut.«
Bandit kommt aus dem Bad, mit ihm eine Wolke von Ralfs Cool Water. Nur mit einer Jogginghose bekleidet setzt er sich an den Tisch. Ich bringe ihm Kaffee und leiste Gesellschaft. Er ist schlank und drahtig wie Ralf, die Arme voller Tattoos. Das Bild auf seiner Brust kenne ich nicht: Ein Wolf mit hochgezogenen Lefzen. Seine Augen drohen mir. Gleich wird er aus Bandits Körper springen. Spitze Zähne mir die Kehle durchbeißen, scharfe Krallen den Körper aufschlitzen. Nein, ein Herz wirst du bei mir nicht finden.
»Seit wann ist der Wichser zurück?«, fragt mein Onkel.
»Zwei Wochen.«
»Was wirst du tun?«
»Abwarten.«
Graue Wolken schieben sich vor die Sonne, als ich auf die Straße hinaustrete. Bandit lehnt im dunklen Outfit an der Hauswand und raucht.
»Hab das ganze Viertel abgesucht – da is keiner.«
Ich nicke, knöpfe meine Kostümjacke zu und verschränke die Arme vor der Brust. Während wir nebeneinander Richtung Kirche laufen, blicke ich mich unentwegt um.
»Entspann dich, Mädel. Du siehst Gespenster«, sagt Bandit.
»Ich bilde mir das nicht ein. Oder meinst du, ich bin verrückt?«
Bandit bleibt stehen und schaut mich aus zusammengekniffenen Augen an. Dann legt er einen Arm um mich. »Nein, aber ich hab dem meine Knarre ins Maul gestopft und gesagt, beim nächsten Mal drück ich ab. So was vergisst man sein Lebtag nicht.«
Die Kirchenglocken jubeln zum Freudenfest. Bandit und ich sind die Letzten, die ankommen. Unsere Verwandtschaft wartet vor dem Seitentor. Meine Onkel in Anzug und mit Krawatte, die Frauen tragen Zweiteiler. Der Täufling schläft im langen Spitzenkleid auf dem Arm meiner Cousine. Ich muss mir auf die Lippen beißen, um beim Anblick des Babys nicht loszuschreien. Mutter winkt und kommt auf uns zu.
»Dass Ralf jetzt krank werden musste«, sagt sie und nimmt mich zur Seite. Ihrem Bruder schenkt sie einen kurzen Blick mit verkniffenem Mund. »Wolltet ihr morgen nicht in Urlaub fahren?«
Ich nicke und sehe zu Bandit, der bei seinen Geschwistern steht. Die Hände in der Jeans vergraben, seine Stiefel ziehen Kreise. Sie haben ihn per Handschlag begrüßt. Flüchtig, mit gerümpfter Nase und vorgeschobenem Kinn. Er hat ihren Namen beschmutzt und dem Gerede der Leute ausgesetzt. Das können sie ihm nicht verzeihen.
Ich werfe einen letzten Blick über die Schulter, bevor ich das Gotteshaus betrete und erschauere. Greife nach dem Arm meines Onkels.
»Wo?«, fragt er.
»Rathaus.«
»Geh rein und bleib drin«, sagt Bandit und schiebt mich durch die Tür.
Ich verlasse die Kirche lange bevor der Pfarrer Amen sagt. Die wenigen Meter zur Gaststätte renne ich, um mich auf der Toilette endlich auszukotzen.
Als ich zurück in den Schankraum komme, sitzt mein Onkel am Tresen, ein leeres Schnapsglas vor sich. Dreht es, wie ein Roulette-Rad.
»Für mich auch«, sage ich zu dem Mann hinter der Theke. »’nen Doppelten.«
Bandit dreht sich um und blickt in mein Gesicht. »Nee du, der machste ’nen Tee«, sagt er, zieht den Barhocker zu seiner Rechten zurück und wartet, bis ich Platz genommen habe. »Ist gleich stiften gegangen«, raunt er mir zu. »Auf ’n Friedhof gerannt.«
Als der Keeper das heiße Getränk vor mich stellt, verlange ich nach Rum. »Hast ihm ’ne Abreibung verpasst?«, frage ich, nehme den Hochprozentigen entgegen und leere ihn löffelweise ins Glas.
»Nee«, sagt mein Onkel. »Totenruhe is mir heilig.« Er wirft den Kopf nach hinten und lacht. »Was für ’n Schisser. Der hat die Schnauze voll und haut ab, wirst sehen.«
Nach und nach trudelt die Familie ein. Es gibt nur den einen Weg in die Gaststube und der führt an Bandit und mir vorbei. Sie schauen zur Seite, auf Schuhspitzen oder fummeln an Smartphones, bevor sie sich am Fenstertisch niederlassen.
Für sie, wie für alle, die es in der Zeitung lasen, hat Bandit im Suff erst auf eine Kneipe, dann im Hinterhof wild um sich geschossen. Was sonst noch war, in dieser Nacht, wissen nur drei Leute.
»Ich mach ’nen Abflug«, sagt er. »Das wird nichts mehr mit denen.«
»Nein, bleib doch. Wir haben uns lange nicht gesehen«, sage ich und halte ihn am Arm fest. »Bitte. Onkel Konrad – Konni.«
»Lass gut sein, Katja. Das steht dir nicht.« Er greift seine Jacke, geht zum Ausgang, ohne Brüder und Schwester anzusehen. Ich folge ihm vor die Tür.
»Wartet ein Mädchen auf dich?«
Mein Onkel grinst und schüttelt den Kopf. »Nee, was Wichtiges«, sagt er. »Business. Ist echt dringend.«
»Du und deine Geschäfte«, murmle ich und umarme ihn.
Mein Onkel tippt mir auf den Rücken und sagt: »Vergiss nicht, du hast noch was, das mir gehört.«
Ein Taxi kommt um die Ecke und bleibt am Straßenrand stehen. Der Fahrer öffnet von innen die Tür.
»Einer meiner Jungs ist unterwegs. Der bleibt, bis Ralf zurück ist.« Ein kurzes Festhalten, bevor er sich aus meiner Umklammerung löst.
»Nicht nötig. Ich komm klar«, sage ich und blinzle Tränen weg.
»Keine Widerrede. Und für später gilt: Ruft an, wenn was is, verstanden?« Er steigt in das Auto und zwinkert mir zu. »Meine Karre hab ich ja noch.«
Mitternacht ist längst vorbei. Ich stehe vor dem Küchenfenster, hebe mit dem Handrücken die Gardine an. Ralf hat die Kawa vor dem Haus abgestellt. Ihr grüner Lack glänzt im Schein der Straßenbeleuchtung. Seit einer Woche ist er von der Costa Brava zurück und fürs Erste bei seinem Bruder eingezogen. Für mich ist das in Ordnung, denn wir sehen uns täglich. Es ist schön. Ein bisschen, wie sich neu verlieben. Dass er heute Nacht geblieben ist und im Arbeitszimmer schläft, liegt an seinen Kumpels, die vorbeigekommen sind und mit denen wir ein paar Bier gehoben haben.
Als er in die Küche kommt, lasse ich die Hand sinken. Atme durch.
»Hab dich rumlaufen hören«, sagt er, tritt hinter mich und schlingt die Arme um meinen Leib. Seine Berührungen sind sanft und ich weiß, der Schmerz ist in meinem Kopf. Nur in meinem Kopf. Als ich dennoch zusammenzucke und leise keuche, lässt er mich los. Ich spüre, wie sich Ralfs Muskeln anspannen. Eine Bewegung, weg von mir. Nein. Nein. Ralf soll bleiben. Er soll bleiben. Ich taste nach hinten, greife seine Hand und umschließe sie. Halte ihn fest. Atme ein und wieder aus. Lösen. Alles lösen. Dann fange ich an zu sprechen.
Abba singen Dancing Queen. Ich fühle mich wie eine Königin, tanze durch meine Wohnung, wedle mit dem Staubtuch und kreische: Young and sweet, only seventeen … oh yeah! Es riecht nach Putzmittel. Ozean-Frische im Bad, Limette in der Küche und Orange in Wohn- und Schlafzimmer. Ich habe den freien Vormittag genutzt und die Bude auf Vordermann gebracht. Auch das Bett ist frisch bezogen – man weiß ja nie. Heute Abend treffe ich mich mit Ralf in der Stadt. Essen beim Italiener, danach ins Kino. Ich bin aufgeregt wie ein Teenager.
Bevor ich in die Firma gehe, will ich zu C&A. Eine neue Bluse muss her, am besten mit Rüschen. Ralf gefällt das.
In die Stadt fährt man zweispurig und zur Mittagszeit ist wenig Verkehr auf der Umgehungsstraße. Ich sehe in den Rückspiegel und überlege, wie lange der Golf schon hinter mir ist. Sein Nummernschild hängt schief und ich könnte wetten, dass ich es schon gesehen habe. Gleich, als ich aus meinem Wohnviertel herausgefahren bin. Meine Hände werden immer feuchter und als ich auf den Parkplatz des Bekleidungshauses einbiege, tropft mir Schweiß von der Stirn. Der Golf fährt weiter. Ich warte fünf Minuten und beobachte die Straße. Als er nicht wieder auftaucht, steige ich aus.
Ich streife durch die Reihen und finde schnell zwei schöne Oberteile. Vor dem Spiegel halte ich sie hoch und vergleiche sie miteinander. Eine der Blusen ist hinten zum Knöpfen. Ich lächle, schließe die Augen und stelle mir vor, wie Ralfs Finger über den glatten Stoff fahren. Wie er langsam einen Knopf nach dem anderen öffnet. Wie er meinen Rücken entblößt, ihn mit den Lippen liebkost. Als ich Atemluft im Nacken spüre, brauche ich einen Moment, um zu verstehen. Mein Herz rast, die Beine knicken weg. Ich halte mich an einem Wühltisch fest, und in meiner Lunge kommt kein Sauerstoff an.
»Bin wieder zurück, Katilein. Hab dich vermisst«, flüstert er mit rauchiger Stimme in mein Ohr. Dann fasst er grob an meine Schultern und dreht mich zu sich. Zusammengekniffene Brauen, die Augen zu Schlitze verengt. Meine Arme legen sich auf Brust und Unterleib. Ich krümme mich zusammen. Sein Lachen klingt heißer. Dann ist er weg.
Die kurze Fahrt in den Betrieb gleicht einer Ewigkeit. Ich bin nassgeschwitzt und vergesse zu atmen. Schloss-Brauerei. Dabei sieht man hier den alten Kasten nicht mal. Erleichtert fahre ich auf das Gelände des kleinen Familienbetriebes und parke neben dem Firmenschild.
Meine Kollegen sind in der Pause. Ich renne ins Büro zu meinem PC, starte das Programm, hacke in die Tasten und lasse den Drucker rattern. Jetzt noch schnell die Ränder zuschneiden.
Ich durchwühle die Stiftehalter auf dem Schreibtisch, finde und greife den winzigen Ring, an dem zwei Schlüssel baumeln, renne wieder. Diesmal die Treppen nach unten. Der Keller riecht muffig, und es ist kalt. Mit zitternden Fingern öffne ich die Tür, hinter der wir alte Unterlagen horten. Die Wände sind aus Ziegelstein gemauert, Fenster gibt es keine. An der linken Seite Regale bis unter die Decke, rechts stehen Aktenschränke. Aus Stahl. Wuchtig und robust wie Panzer. Vor einem dieser Monster gehe ich auf die Knie und schließe die unterste Lade auf. In ihr liegen gebündelte Kataloge. Ich schnaufe durch, umklammere das Schubfach und versuche, das Ungetüm nach vorne zu ziehen. Nur ein Stück. Nur ein klitzekleines Stück. Ich beiße die Zähne aufeinander, blase Luft in die Backen und spanne den Bizeps an. Es quietscht als würden Fingernägel über eine Wandtafel kratzen. Ich bekomme Gänsehaut davon. Aber egal. Ich kann hinter den Schrank fassen, an die Stelle, wo früher ein Durchgang zum Nebenhaus war. Jetzt ist dort eine Nische. Blind taste ich das Mauerwerk ab, finde was ich suche und zerre es hervor.
Oben höre ich die Stimmen des Braumeisters und der Sekretärin meines Chefs. Ich stehe auf, schnaufe hektisch und klopfe mir den Schmutz aus den Klamotten. Als Ruhe eingekehrt ist, schleiche ich aus der Firma.
Ich sitze im Auto und fahre über die Autobahn. Auf dem Beifahrersitz Vaters alter Rucksack. Bisschen verstaubt, aber eine Brauerei ist auch kein Bankschließfach. Aus der Seitentasche lugt die Karte mit dem schwarzen Rand.
Katja Bold,
die uns im Alter von 30 Jahren verlassen wird.
Heidelberg, im August 2014
Es wird Zeit, Bandit sein Eigentum zu bringen.