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Bastelstunde
Es ist Montagmorgen und acht Uhr. Langsam und vorsichtig, um den Schlüssel nicht zu verkanten, stecke ich diesen in das Türschloss. Sofort lässt sich die Glastüre mühelos öffnen. Ein nach Desinfektionsmittel und Bodenpolitur riechender Nebel liegt in der Luft. Die Putzfrau muss eben erst gegangen sein. Ich bin ganz allein, die anderen sind noch nicht da. Es wird nicht mehr lange dauern, vielleicht noch dreißig Minuten, dann ist die Ruhe vorbei.
Ich öffne die erste Türe, die in den dunklen Gang rechts von mir mündet, dahinter liegt mein Büro. Um diese Uhrzeit ist es draußen noch dunkel, also schalte ich das Licht an. Sowie sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt haben, erfolgt wie jeden Morgen dasselbe Ritual. Erst mal sehen, ob es heute etwas Besonderes gibt. Nein, voraussichtlich ein ganz gewöhnlicher Montag.
Ich setze mich auf meinen Stuhl vor dem Schreibtisch und sehe das Wochenprotokoll an. Meine Ohren vernehmen ein leises Schaben, langsam verlasse ich mein Büro und horche in die Dunkelheit, woher die Geräusche kommen. Typisch, Frau Benning, eine leicht untersetzte, ins Alter gekommene Frau, hat mal wieder ihre Schlüssel vergessen. Schnellen Schrittes, um ihrem Klingeln zuvorzukommen, eile ich den dunklen Flur entlang. Erwartungsvoll und mit einem freudestrahlenden Gesichtsausdruck steht sie vor verschlossener Türe. In ihren Armen hält sie Papierreste, Wolle und andere diverse Bastelartikel, die sie achtsam an ihren all zu großen Busen drückt. Schnell öffne ich ihr die Türe. Im letzten Moment bekomme ich eine Papierrolle zu fassen, die im Begriff war, Frau Benning aus der Hand zu gleiten. „Guten Morgen Sabine.“ – „Guten Morgen Anna, na wie war dein Wochenende?“- „Zu lange. Du weißt ja, ich bin nur glücklich, wenn ich hier bin.“- „Freu dich, es geht ja bald los.“
Langsam, bedacht, nicht alles zu verlieren, schiebt sie sich an mir vorbei, watschelt wie eine Gans des Nils Holgerson den Gang entlang, in ihr Reich. Dort angekommen, lautes Gerumpel - ,,Ist nichts passiert, alles heil,“ ruft Frau Benning.
Inzwischen entriegle ich die Eingangstüre. Die Erste wird sicher wieder die kleine Sabine sein. Kurz danach öffnet sich die schwere Glastüre und wider Erwarten ist es heute Mike, der sich mit seiner Mama müde durch den Eingang zwängt.
„Guten Morgen Frau Nagel.“- „Guten Morgen Mike, guten Morgen Frau Maier, Sie sind aber früh dran!“ antworte ich, und sehe, dass der Morgen für Frau Maier wohl noch ein wenig zu früh ist. „Ich hab nur ein paar Stunden geschlafen, Mike hatte wieder so schlimme Asthmaanfälle.“- „Gehen Sie heim und legen Sie sich doch noch ein paar Stunden hin.“ - „Ja, das werde ich tun. Danke Frau Nagel“.
Nach kurzem Abschied von Mike dreht sie sich um und geht. „Wenn du dich umgezogen hast, kommst du in meinen Raum Mike, ich gehe schon mal vor.“ Er nickt kurz. Mike ist ein ruhiger, zurückhaltender Junge. Kurze, blonde Haare, die immer steil in Richtung Himmel zeigen. Sein Körperbau ist eher der eines dreijährigen Kindes statt eines fünfjährigen, was auf eine dauernde Einnahme von Cortison zurückzuführen ist.
Ich bereite inzwischen die Bastelgruppen vor. Die Gruppen sind nach Alter gebildet, die Mäuschengruppe, drei bis vierjährige Kinder. Die Igelgruppe, vier bis fünfjährige, in die auch Mike eingeteilt ist und die Froschgruppe, die aus fünf bis sechsjährigen Kindern besteht. Jede Gruppe versammelt sich an einem Tisch. Langsam kommt Leben auf. Mike, der mir tatkräftig geholfen hat, die Tische und das Material zu verteilen, sitzt nun gelangweilt auf einem Kinderstuhl und schaut mich mit seinen immer traurigen Augen an. In dem Moment geht die Türe auf. Marlies und Sabine rennen kichernd herein. Marlies, unser kleinster Wirbelwind und das Oberhaupt ihrer Kindergang, mustert Mike sogleich. Immer für einen Streich bereit, stellt sie sich hinter ihm auf und zieht furchterregende Masken. Sabine trippelt von einem Fuß auf den anderen, weil sie vor lauter Lachen auf die Toilette muss. Sie vergöttert Marlies, weil diese immer neue Späße weiß. „Nun lass Mike in Ruhe, er hat nicht gut geschlafen.“-„Ja,ja“ antwortet Marlies patzig. „Komm, wir geh`n in die Kuschelecke!“ befiehlt sie und zieht Sabine am Arm weg. Nach und nach treffen die übrigen Kinder ein: der immer grantige Freddy, die forsche Anne, der schüchterne Toni und die immer über alles erhabene Petra. Es ist inzwischen neun Uhr. Insgesamt sind es achtundzwanzig Kinder, jedes für sich ein Unikum und einzigartig.
Die Basteltische sind nun alle rundum belegt. Das Material dafür haben wir auf ihnen verteilt. Es herrscht eine Unruhe wie in einem durchgeschüttelten Bienenstock, doch mit dem in die Hände klatschen, habe ich wie immer Erfolg und Ruhe kehrt ein. „Kinder, wenn ihr nun anfangen wollt mit Basteln, müsst ihr einen Moment zuhören. Frau Benning und ich werden euch Schritt für Schritt zeigen, wie ihr es machen könnt. Seht uns einfach zu, und wenn ihr Fragen habt oder nicht weiterwisst, meldet euch.“ Ich setze mich an den Tisch gegenüber von Frau Benning und beginne mit meiner Bastelarbeit. Mike steht neben mir, den Blick fest auf den Tisch gerichtet. Langsam, ich kann es an seinem Gesichtsausdruck erkennen, ordnen sich seine Gedanken und beginnt das Papier so zu falten, wie es benötigt wird. Hoch konzentriert blickt er immer wieder zwischen meinen Händen und seiner Arbeit hin und her und achtet akribisch darauf, alle Handgriffe, die er bei mir abschaut, genau so zu wiederholen.
Da alle Kinder mit sich und ihrer Arbeit beschäftigt sind, nütze ich die Gelegenheit mich bei Frau Benning über mein altes Auto zu beschweren. „Anna, was soll ich denn machen? Ich fürchte, die bevorstehende Reparatur meines Autos ist die Mühe gar nicht mehr wert, doch für ein neues hab ich noch kein Geld.“ „Mir geht es auch nicht besser Sabine, meine Kücheneinrichtung müsste dringend erneuert werden, und Kurt rückt das Geld nicht raus.“ Ohne den Blick von seiner Bastelarbeit zu nehmen, mischt sich Mike ein: „Warum sitzt ihr denn dann bei uns rum und bastelt, geht doch arbeiten. Mein Vater verdient viel Geld, wir haben sogar zwei Autos.“