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Baum
Jakob kniet auf dem Boden (und malt). Sein Papier liegt vor ihm, die Buntstifte daneben. Blau, beschließt er, jawohl blau!, und er greift die Farbe mit der ganzen Faust, verkrampft, drückt die (stumpfe) Spitze fest aufs Blatt und reißt die Faust zu seinem Körper zurück. Der blaue Strich auf seinem Bild gefällt ihm, sehr sogar, er lacht. Jakob nimmt die Rot, will einen roten Kreis über den blauen Strich malen, doch der Kreis misslingt. Er weiß, dass er den Stift nicht so verkrampft halten darf, denn ein Kreis ist ein Kreis und nicht verkrampft und Jakob ist noch nie ein Kreis gelungen. Rund, ein schön geschwungener Bogen, gleichmäßig. Er weiß, dass er keinen Kreis malen kann, weil niemand es kann. Niemand kann einen Kreis malen und doch versuchen es alle, gleichmäßig, rund, diese Menschen, versuchen Kreise zu malen und haben keine Ahnung, was überhaupt ein Kreis ist.
Baum!, denkt Jakob, als er den blauen Strich und das rote, verwackelte Oval sieht. Baum, Baum!, spricht er leise vor sich hin, zu sich oder zu seinem Blatt, er weiß es selbst nicht, würde es aber am liebsten zu seinem Blatt gesagt haben, weil er dann auf eine Antwort des Baumes hoffen könnte. Er könnte ein Gespräch führen mit seinem Baum, von Jakob zu Baum, der Baum würde ihn verstehen und eigentlich ist der Baum ja auch ein Mensch. Ein Mensch mit einem blauen Körper und einem roten Etwas als Kopf. Aber der Mensch ist taub, nur Jakob kann hören und er hört, dass der Mensch auf seinem Bild nichts sagt, weil er, der Mensch auf dem Bild, keinen Mund hat und Jakob hört lange zu, horcht genau hin und genießt es nichts zu hören, hier auf dem Boden, weil er weiß, dass er dann, wenn er nichts hört, alleine ist mit seinem Menschen, der ein Baum, der ein Mensch ist. Ein dürrer blauer Stamm, eine rote Krone, - Baum, Baum!, sagt Jakob vor sich hin, leise, um die Stille nicht zu stören, in der er mit dem Menschen alleine ist.
Dann fährt draußen auf der Straße ein Auto vorbei und Jakob hört, dass er doch nicht alleine ist mit seinem Baum, dass er seinen Baum mit anderen Menschen teilen muss, die nicht einmal verstehen, dass es ihn (den Baum) und ihn (Jakob) überhaupt gibt und wenn sie es verstünden, wäre es ihnen gleich. Jakob könnte ihnen den Baum vor Augen halten und sie würden ihn nicht erkennen, - „toll“, würden sie sagen, „toll, Jakob, ein Strich und ein Kreis“, und wenn er sagte, „Baum, Baum!“, würden sie sagen: „Ja, Jakob, ein hübscher Baum!“, und wenn er sagte „Mensch, Mensch!“ würden sie sagen: „Ja, Jakob, ein hübscher Mensch!“, und wenn er sagte, „Auto! Auto!“ würden sie sagen: „Ja, Jakob, ein hübsches Auto!“, und seinen Kopf tätscheln, weil sie nicht verstehen, dass es ein Baum ist, weil sie nicht wissen, was ein Baum ist, obwohl die Äpfel, die sie essen auch von einem Baum sind, aber sie wissen auch nicht, was Äpfel sind, und essen Äpfel, und sie wissen auch nicht, was Autos sind und fahren Autos, und tätscheln Jakob den Kopf, weil er einen Strich und einen misslungenen Kreis gemalt hat, der aber ein Baum ist, ein Baum mit blauem Stamm und roter Krone, den sie nicht sehen. Jakob greift die Orange, fest in der Faust, und haut sie senkrecht aufs Papier. Apfel, Apfel!, Baum, Baum!, Apfelbaum, Apfelbaum!, und er fühlt schon ihre Hand auf seinem Haar, wenn sie ihm sagen: „Ja, Jakob, ein hübscher Apfelbaum!“ und dann fragen sie ihn, warum der Apfel orange und nicht grün und warum der Baumstamm blau und nicht braun und die Krone rot und nicht grün ist, weil sie nicht verstehen, dass ein grüner Apfel in einer grünen Krone unsichtbar ist. Und Jakob lächelt verlegen und gibt zur Antwort: „Apfel orange!“ und sie sagen: „Nein, Jakob, ein Apfel ist grün oder rot. Eine Orange ist orange!“, weil sie keine Ahnung haben, wie orange aussieht oder was ein Apfel ist. Aber was eigentlich ist denn orange? Jakob weiß keine Antwort mehr. Er blickt auf sein Bild, der orangefarbene Fleck dort, wo er den Stift aufgestoßen hat, der Apfel, „Apfel orange!“, sagt Jakob, aber das reicht nicht, auch wenn ein Apfel orange ist, weiß Jakob noch immer nicht, was orange ist, aber er kann sie doch nicht fragen „Orange?“, weil sie ihn wieder nur tätscheln würden: „Orange Jakob, eine Orange ist orange, verstehst du?“, und er würde nicht verstehen, weil sie nicht verstehen, dass nicht eine Orange, sondern ein Apfel orange ist und selbst wenn eine Orange orange wäre, es nicht ausreicht zu sagen „Eine Orange ist orange, Jakob“, um seine Frage „Was ist orange?“ zu klären.
Ein Baum ist ein Ding, das auf der Wiese steht oder im Wald, ein Apfel ein Ding, das an einem Baum hängt. Aber eine Farbe? „Blau, blau!“, der Baumstamm ist blau und sie sagen: „Nein, Jakob, ein Baumstamm ist braun!“ und er fragt: „Blau?“ und sie: „Der Himmel, Jakob, sieh nur, der Himmel ist blau!“ und Jakob will alleine sein mit seinem Baum, will ihn nicht teilen müssen mit Menschen, die nicht verstehen, dass ein Baumstamm blau ist, weil sie gar nicht wissen, was blau ist, weil kein Mensch weiß oder wissen kann, was blau ist. Sie glauben nur zu wissen und fahren blaue Autos, tragen blaue Hosen und Hemden und haben sich nie gefragt, wie blau wirklich aussieht, haben nie gedacht, das Blau nur ein Name ist und in jedem Kopf anders aussieht, grün vielleicht oder orange. Sie sagen: „Der Himmel ist blau, Jakob!“, obwohl der Himmel in ihrem Kopf grün oder orange oder rot aussieht und nur weil sie nicht wissen, dass der Himmel nicht blau, sondern himmelfarben ist, behaupten sie, dass der Himmel blau ist, auch wenn die Farbe des Himmels in jedem Menschenkopf anders aussieht. Jakob nimmt die Grün und zieht oben von links nach rechts einen Strich aufs Papier, drückt so fest auf, dass kurz vor dem rechten Bildrand die Mine bricht und Jakob sagt: „Himmel, Himmel! Rot, rot!“, weil in seinem Kopf der Himmel rot erscheint, bevor der Kopf die Himmelsfarbe in die Einheitsfarbe seiner Gedanken umwandelt, die Einheitsfarbe, die den Menschen in ihrem ganzen Spektrum denken lässt und dem Himmel die gleiche Farbe wie dem Baumstamm wie der Krone wie dem Apfel gibt. „Apfelbaum, Apfelbaum!“, sagt Jakob, als er das Papier zusammenrollt, um es ihnen zu zeigen, damit sie ihm den Kopf tätscheln, „Blau, Jakob, der Himmel ist aber blau!“ und Jakob ist es gleich, welche Farbe der Himmel hat, weil sie es sowieso weglegen, auf den Stapel mit all seinen anderen Bildern. „Aber ein hübscher Baum, Jakob!“