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Beeren und Kies
Am Fenster stand Raphael und rauchte. Wind kam herein und Morgenkühle und die Stimmen von Studenten auf dem Weg zur Uni. Kompakt standen sie an der Haltestelle und als der Bus kam, drängten sie vorwärts, wuselnd wie ein Bienenstaat. Nicht alle bekamen einen Platz und so blieben manche draußen - zwei, drei Einzelgänger in T-Shirt, Shorts und Sommerröcken, an Farben dominierten Weiß und Grün. Der Bus fuhr an und beschleunigte die Straße hinab. Raphael drückte seine Zigarette aus, schnipste den Stumpen aus dem Fenster. Er gähnte.
Allein auf der Matratze wirkte Kira wie ein Mädchen, das in gebrauchten Laken schlief, um zu riechen, was Sex war und was Liebe. Ihr Pony tauchte die Augen in Schatten, als hätte sie nächtelang wachgelegen, ihr Rücken krümmte sich zum Fragezeichen. Zu ihren Füßen häufte sich die Decke und ein Träger ihres Tops war verrutscht, sodass Raphael eine Brust sehen konnte, milchweiß im Gegensatz zum Rest der Haut.
Raphael ging in die Küche. Am Tisch saß Roman, sah fern und aß Müsli. Von Bildstörungen geplagt, sprach ein Politiker zum Volk.
„So früh schon wach?“, fragte Raphael und machte sich daran, Kaffee zu kochen. Er kippte Pulver in den Filter, goss Wasser in die Maschine. Gurgelnd erwachte der Apparat zum Leben.
„Es ist Dienstag.“
„Und?“
Roman wandte den Kopf. Um den Mund war sein Bart von Milch gefärbt. „Vielleicht hab ich dienstags Vorlesung? Nicht jedem ist sein Studium egal.“
„Ja, klar.“ Raphael goss den Kaffee in zwei Tassen. „Vergiss nicht, du bist die Woche dran mit Putzen.“
„Fick dich.“ Grinsend und mit Locken glich er einem Surfer.
Kira hockte am Matratzenrand und wischte sich mit dem Arm übers Gesicht. Das Top hatte sie zurechtgerückt.
„Morgen.“
In ihren Augen hing noch der Schlaf und sie gähnte, dass er ihren Gaumen sah. „Willst du?“ Sie nippte am Kaffee, lächelte befreit. Raphael saß auf dem Schreibtischstuhl und trank seine Tasse in wenigen Zügen leer. Die Flüssigkeit brannte in der Kehle und strahlte Wärme vom Magen abwärts. Für einen Augenblick vertrieb der bittere Geschmack jede Müdigkeit. Kira stellte ihre Tasse ab und ließ sich auf die Matratze fallen, Arme und Beine langgestreckt, als wartete sie auf eine Umarmung.
„Ich hab von zu Hause geträumt. Zwei Kreuzungen entfernt läuft eine Allee durch die Stadt. Da sind meine Eltern mit mir immer Kastaniensammeln gegangen. Jedes Jahr hab ich mich riesig drauf gefreut. Ich hab noch diese Oktobertage im Kopf, wenn der Himmel ganz blau ist und alles ist warm von der Sonne, nur die Luft beißt auf den Wangen. Irgendwann hab ich dann mal gefragt, was Kastanien eigentlich sind. Und meine Mutter meinte, die seien die Kinder der Bäume. Ich hab geweint, weil wir den Bäumen die Babys weggenommen haben. Dieses schmierige Gefühl, direkt nachdem man die Schale abgemacht hat, ich dachte das wären die Tränen der Kastanien.“
„Davon hast du geträumt?“
„Nicht direkt.“ Ihre Stimme rutsche eine Quinte tiefer.
Raphael ging zu Kira. Sie stand auf und warf den Kopf zur Seite, wie um Haare aus der Stirn zu schütteln, ein Relikt ihrer alten Frisur. „Ich geh duschen.“ Raphael wartete am Fenster und rauchte.
„Muss das sein?“ In ein Handtuch gewickelt, kramte Kira in ihrem Kleiderberg nach sauberen Klamotten. Ihre Haare tropften. Auf dem PVC klangen die Einschläge laut und nah.
„Das ist mein Zimmer.“
„Bitte.“
Er schmiss die halbe Zigarette aus dem Fenster. Von unten kam ein: „He du Arsch.“ Auf dem Parkplatz stand eine Frau mit Sonnenbrille und zeigte den Mittelfinger. Neben ihr war winzig klein die Kippe zu sehen. Raphael winkte.
„Wer war das?“, fragte Kira.
„Keine Ahnung. Irgendeine Frau.“
„Du hättest sie also gefickt?“
„Was?“
„Ist dir das nie aufgefallen? Du sagst Frau immer dann, wenn du diejenige ficken würdest. Sonst ist es entweder das Mädchen, weil sie dir zu jung ist, oder die Alte, weil sie zu viele Falten hat. Musst mal drauf achten.“
„Was willst du eigentlich?“
„Ach, Scheiße.“
Raphael trat ans Fenster. Manchmal wollte er Kira schlagen, vielleicht um sie aufzuwecken. Die Vorstellung roter Striemen auf ihrer Wange und der Wut in ihren Augen, hielt ihn davon ab.
„Ich bräuchte ne Minute“, sagte Kira in seinem Rücken. Sie wedelte mit den Klamotten in der Hand.
Raphael setzte sich an den Küchentisch und aß Cornflakes mit Milch bis Kira in die Küche kam. Roman war bereits gegangen.
„Kommst du mit?“, fragte sie.
„Wohin?“
„In die Stadt. Einkaufen.“
„Warum sollte ich?“
„Bitte, ich will nicht alleine.“
„Ruf deine Freundinnen an.“
„Die arbeiten alle.“
Zwischen Müttern, deren Bälger vor Hitze brüllten, zwischen Schulmädchen, die giggelnd und geschminkt im Wege standen, versuchte Raphael zu lächeln, wenn Kira aus der Anprobe kam und tat als wäre sie ein Model und jeder Laden ihr Laufsteg. Schließlich kaufte sie einen Bikini in Braun-Türkis-Orange und ein T-Shirt, durch das er ihren BH sehen konnte.
Später aß Kira Eis – Raphael stand daneben und sah zu, wie ihr Vanille und Erdbeere in der Hand zerliefen. „Scheiße.“ Sie schmiss den Rest der Waffel weg und wusch sich die Hände im Stadtbrunnen. Kleingeld glänzte in der Tiefe und Tauben hüpften über die wassergesprenkelte Brüstung. Wie ein Engel stand der Bronzejunge auf seinem Sockel und strullte ins Becken.
Kira spritze Wasser nach Raphael, er verbarg sein Gesicht hinter der Hand. Kühl liefen Tropfen über die Haut. „Lass das.“ Aber er lächelte dabei und fischte selbst im Brunnen. Kira lief kreischend davon, ließ sich jagen und fange.
Außer Atem setzten sie sich auf eine Bank. Die Sonne stand in ihrem Rücken und heizte Nacken und Hinterkopf.
„Danke, dass du mitgekommen bist. Heute Morgen ging es mir nicht gut.“
„Und jetzt ist besser?“
„Ja.“ Auf ihrem Gesicht klebte nur ein halbes Lächeln und Raphael wollte sie in den Arm nehmen, aber das war nicht seine Art. Stattdessen kramte er in der Hosentasche nach Feuerzeug und Zigaretten, steckte sich eine an und atmete in den Wind, weil Kira Kopfschmerzen vom Qualm bekam.
„Wie lange willst du eigentlich noch bleiben?“ Kiras Augen wurden schmal. „Also ich will dich nicht rauswerfen. Ist nur aus Interesse. Wo willst du hin und so?“
„Ich suche eine Wohnung in Berlin.“
Er hatte erwartet, dass sie in der Nähe blieb, nur eben nicht in seiner Wohnung.
„Ganz schön weit weg.“
„Hm.“
„Warum willst du dahin?“
„Ich halt die Stadt nicht mehr aus.“ Jetzt sah Kira ihn direkt an. Raphael war es zu heiß in der Sonne, er wäre gerne in den Schatten gegangen. Irgendwo spielte eine Drehorgel. „Ich kenn einfach alles hier, die Straßen, die Leute, die Penner im Stadtpark. Und alles ist so eng und verstaubt und irgendwie tot und nichts ändert sich.“
Vielleicht hing es mit ihrem Ex-Freund zusammen; im V-Ausschnitt seines T-Shirts hing stets ein Rosenkranz. Raphael fragte nicht danach, dachte nur an die zwei Mal, die er in Berlin gewesen war - außer Brandenburgertor, Fernsehturm und Reichstag hatte er praktisch nichts gesehen.
„Am Wochenende werd ich mal hinfahren“, sagte Kira.
„Allein?“
„Ne, mit einer Freundin.“
Sie stand auf und er folgte ihr über den sonnenverbrannten Platz, wo Schüler in Gruppen zusammenliefen, Döner und Pizzaecken in der Hand. Im Schatten einer Gasse, sah er den Drehorgelspieler, ein Mann Anfang sechzig, in Frack und Zylinder, der den Hut hob wie ein Gentleman, wenn jemand Münzen in die Spendenbox auf seiner Orgel warf. Er sammelte für die Kindernothilfe.
Raphael stand auf dem Bahnsteig. Er rauchte. Außer ihm wartete nur ein Punk mit gelb-grünen Haaren, dessen gewaltiger Rucksack nagelneu und von Meru war. Jenseits der Gleise rosteten drei Güterwagons im Sommerregen, an ihren Flanken färbte sich das Wasser orange. Die Luft roch nach nassem Schotter. Der Punk stritt am Telefon, vielleicht mit seiner Freundin, jedenfalls sprach er schnell und laut und wiederholte einzelne Sätze wie ein Mantra. Raphael operierte an einem Mückenstich.
Vor der Zeit rollte der Zug heran. Raphael schnippte seine Zigarette fort und hätte sich am liebsten gleiche die Nächste angesteckt. Krachend flogen die Türen auf. Wenige stiegen aus, Kira plus Freundin ganz am Ende des Bahnsteigs. Sie rannte ihm entgegen, sprang ihn an, schlang ihr Gewicht um seinen Hals.
„Die Wohnung ist so toll. Vom Schlafzimmer seh ich den Park und die Küche …“
„Hilf mir lieber mit den Koffern“, rief die Freundin.
Kira stand wieder auf eigenen Füßen und Raphael rieb sich den Nacken. Der Zug fuhr ab.
„Das ist übrigens Janine.“
Ihr Gesicht war kantig, hart, ihre Figur hochgewachsen, knochig. „Zum Glück haben wir nen Mann, der die Arbeit übernimmt.“ Ohne Koffer ging sie zum Treppenabgang.
„Ist die immer so?“
„Mach dir nichts draus. Ich trag schon.“
„Sicher nicht.“
Mit dem Bus fuhren sie zum Wohnheim. Der Regen ließ nach und der Sonnenuntergang brach durch die Wolken – ein Kindergemälde in Rot und Orange. Kira sprach von Berlin. Janine saß mit übergeschlagenen Beinen daneben, an ihrem Handgelenk glänzte eine Uhr. Als der Bus hielt, stieg sie mit aus – diesmal trug sie ihren Koffer selbst - und folgte Raphael und Kira durchs Treppenhaus zur Wohnung.
„Habt ihr was zu trinken da?“, fragte Janine, kaum dass sie auf dem Sofa saß.
„Bier.“ Er hoffte damit durchzukommen.
„Keinen Wein?“
„Ich hol welchen.“
„Rot bitte und süß.“
Raphael verließ das Wohnheim und folgte dem Trampelpfad, der vom Parkplatz direkt zum Supermarkt führte. Der Weg war aufgeweicht und schlammig, jeder Schritt klebte an der Erde. Regen setzte ein und ruinierte seine Frisur, Tropfen verfingen sich in seinen Augenbrauen. Mit zwei Flaschen kehrte er zurück.
Auf dem Sofa saßen Roman und Janine, beide tranken Bier. „Hey danke. Wo habt ihr nen Korkenzieher?“
Roman wies auf die Schublade und Janine machte sich daran, eine der Weinflaschen zu öffnen.
„Wo ist Kira?“
„Zieht sich eben um.“
Mit einem Bier ließ sich Raphael aufs Sofa fallen. Neben ihm trank Janine aus der Flasche, ein Weintropfen lief vom Mundwinkel zum Kinn und wurde mit dem Handgelenk weggewischt.
Kira kehrte in Jogginghose zurück und sprach wieder von der Wohnung, wieder von Berlin - mit Janine hatte sie bereits nach Tapeten und Möbeln gesehen - und Raphael schwieg und trank sein viertes Bier, während er versuchte Romans Hand im Blick zu behalten, die über Janines Oberschenkel aufwärts wanderte, ohne desinteressiert zu wirken oder abgelenkt. Kira verschluckte sich an ihren eigenen Worten, weil es zu viele waren und ihre Zunge zu langsam. Die Finger erreichten den Rocksaum. Raphael stand auf.
„Was machst du?“
„Musik.“
Er holte seinen Laptop aus dem Zimmer – auf der Matratze lagen Kiras Klamotten neben dem geleerten Koffer. Kira wählte die Musik, Janine öffnete die zweite Flasche Wein. Langsam kroch die Dämmerung ins Zimmer, füllte die Luft wie Wasser und Raphael schloss für einen Moment die Augen, das Bier kühl in Mund und Kehle, und spielte mit Kiras Fingern in seiner Hand.
„Kommt, wir tanzen.“ Kira stand auf, sonst niemand. „Was? Ihr Langweiler.“ Sie schwenkte die Weinflasche in der Hand, schloss die Augen und fing an zu tanzen – ziemlich gut, soweit Raphael das beurteilen konnte, aber er hätte ihr auch zugesehen, wäre sie schlecht gewesen. Roman holte mehr Bier und schlug die Kronkorken an der Tischkante ab.
„Ich fahr nach Berlin!“ Mit Schwung verlor Kira das Gleichgewicht, Wein spritze aus der Flasche wie Blut. Für eine Sekunde saß sie da, erschrocken wie ein Reh, Gesicht und Hände rot geträufelt. „Alles okay?“
Noch ein Moment der Unsicherheit, dann: „Ja, alles okay.“
„Du solltest aufhören.“
„Hast wohl Recht.“
Kira wusch sich an der Spüle - Wasserplätschern und das Verrutschen von Geschirr. Inzwischen war Nacht. Auf dem Küchentisch brannte eine Kerze und ganz in der Nähe summte eine Mücke, Raphael wusste, wen sie stechen würde.
„Wir wünschen eine gute Nacht“, sagte Roman, an seinem Hals hing Janine. „Macht die Musik mal lauter.“
„Wo geht ihr hin?“, fragte Kira.
Die beiden zogen ab in Romans Zimmer.
„Warum denkt ihr Kerle eigentlich nur an Sex?“ Die gute Laune war verschwunden, ihre Stimme klang kratzig, rau und tief. In der Dunkelheit konnte er ihr Gesicht kaum erkennen.
„Machen wir gar nicht.“
„Jetzt tu nicht so. Wie viele Frauen hattest du das Semester. Zehn? Zwanzig?“
„Vier.“
„Hör auf zu lügen.“ Jetzt weinte sie und Raphael wusste nicht, was er machen sollte – er hatte die Wahrheit gesagt. Kira stand auf und verschwand in Raphaels Zimmer.
Er trat hinaus auf die Galerie, rauchte, trank Wein, weil es kein Bier mehr gab, und sah hinüber zum anderen Wohnheim, wo Fernsehbilder in den Fenstern flackerten. Aus der Wohnung drang Janines Stöhnen, sie klang wie ein Kerl, aber Raphael wusste, dass Roman ein stiller Liebhaber war.
Sonnenlicht schwamm auf dem See. Kreischend lief Kira voran: pitsch, pitsch, pitsch machten ihre Füße auf dem Wasser, bevor sie kopfüber untertauchte. Schemenhaft glitt ihr Körper vorwärts und kehrte erst nach Metern an die Oberfläche zurück. „Du Pussy.“ In kleinen Schritten arbeitete Raphael sich tiefer. Auf Brust und Armen breitete sich Gänsehaut aus wie ein Schimmelpilz. „Nun komm schon.“ Als seine Hoden das Wasser erreichte, hielt er inne. „Das gibt’s doch nicht.“ Kira tauchte wieder unter, kam angeschossen wie ein Fisch.
„He, nein, hör auf.“
Sie zog ihm die Beine weg. Eisig schlug das Wasser über ihm zusammen und als Kira ihn tiefer drückte, schmiegte sich der Seegrund moderweich an seinen Rücken. Wieder an der Oberfläche spuckte er aus. „Du!“ Er haschte nach Kira, aber sie schwamm davon. „Ich krieg dich.“ Sie hielt inne, kraulte erst weiter, als er auf Armeslänge herangekommen war, zog dann davon und wartete zehn Meter entfernt. Schwerfällig kämpfte sich Raphael heran. „Wieso schwimmst du so gut?“
„Schwimmverein von sechs bis achtzehn.“
Mit einem Zwinkern tauchte Kira ab und Raphael, der wieder einen Angriff erwartete, versuchte etwas im grünen Wasser zu erkennen. Hastig drehte sich sein Kopf von links nach rechts, aber nichts geschah. Er hörte die nahe Autobahn, das Kinderkreischen vom Ufer, nackt liefen sie zwischen den Kadavern ihrer Eltern. Weiter draußen trieb ein Segelboot davon, auf dem ein Mann in Weiß saß und ein Junge mit Schwimmweste, vermutlich sein Sohn. Langsam machte Raphael sich Sorgen, weil das Wasser gleißend und grell die Sonne reflektierte - nirgends brach die Oberfläche, nirgends Spritzer und Prusten, nirgends Kiras Kopf. Er tauchte ihr nach. Nach wenigen Metern fiel die Temperatur rapide und seine Schläfen schmerzten. Vor seinen Augen trieben Pflanzenreste. Über ihm schwamm die Sonne, erschreckend weit entfernt. Er schwamm aufwärts.
„Hast du was verloren?“
Sie trieb hinter ihm und ein gutes Stück entfernt.
„Mach das nicht nochmal.“
„Fang mich doch.“
„Ich hab mir Sorgen gemacht.“
„Das ist aber nett.“
Raphael schwamm Richtung Ufer.
„Was ist?“
„Mir ist kalt.“
„Pussy.“
Er stieg aus dem Wasser und der Wind, den er vorher als mild empfunden hatte, ließ ihn jetzt frösteln. Er trocknete sich ab, setzte sich auf sein Handtuch und wartete auf Kira. Bevor sie an Land kam, tauchte sie ein letztes Mal unter und strich sich die Haare über den Kopf nach hinten.
„Du bist echt langweilig.“ Sie lächelte. Ihre Brüste hingen schwer im Bikini und Wasser tropfte auf sein Gesicht. „Gib mir mal das Handtuch.“
Später dösten sie in der Sonne. Raphaels Handtuch war zu kurz, seine Beine lagen im Gras und die Halme kitzelten auf der Haut. Einmal lief ein Käfer über seine Fußsohle. Randvoll mit Wärme, fühlte er sich schläfrig und matt. In der Nähe spielten Jugendliche Fußball. Ihre Stimmen wurden Teil des Nachmittages, der angefüllt war vom Geruch nach trockenem Gras, nach Würstchenfett und Sonnencreme. Raphael betrachtete Kiras Gesicht, sie lächelte, ein Halbmond im Gesicht.
„Was ist?“
„Ich hab an Berlin gedacht. Morgens hört man die Vögel auf dem Dach.“
„Kannst du nicht mal aufhören mit Berlin.“ Kira schlug die Augen auf, mädchengroß und blau. „Ständig heißt es nur Berlin, Berlin. Mich nervt das langsam. Was will ich mit Berlin?“
Sie sprang auf, stopfte ihre Sachen in den Rucksack.
„Hey, bleib da.“
Zwischen nackten Körpern verlor sich Kiras Gestalt. Raphael sammelte seine Klamotten ein, machte sich auf den Weg zum Ausgang. Das Kinderkreischen ging ihm auf die Nerven. Als ein Junge mit ihm zusammenprallte, stieß er ihn beiseite und der Blondschopf fiel zu Boden und sah Raphael mit tellergroßen Augen an.
„He du Arsch.“
Raphael lief los.
Auf dem Rückweg rauchte er zwei Zigaretten und zu Hause fiel ihm auf, dass sich die Haut an seinen Oberarmen pellte, er hatte sie beim Eincremen vergessen. Außerdem fehlte sein Schlüssel. Auf Klopfen folgte keine Reaktion - wahrscheinlich saß Roman in der Uni - und Raphael machte sich auf den Weg in die Stadt.
Die Wohnungstür stand offen und er hörte Kira stöhnen, schrill und hoch, immer kurz vorm Schrei. „Hey, ich dachte du wärst es, der sie fickt.“ Roman saß vorm Fernseher, neben sich ein Six-Pack Bier.
„Ich hab keinen Sex mit Kira.“
„Auch eins?“ Roman hob eine Flasche hoch.
„Seit wann geht das schon?“ Raphael nahm seinen ersten Schluck, das Bier war zu warm.
„Seit ich da bin. Also vielleicht zehn Minuten.“
„Hm.“
Im Fernsehen lief eine Reality-Soap – ein Tätowierer wurde von seiner Freundin betrogen, eine Kassiererin küsste den Mann einer anderen. Raphael fand die Dialoge ermüdend. Er musste rülpsen und der Geschmack seines Mittagessens kam wieder hoch – Currywurst plus Pommes. Roman prostete ihm zu.
„Also nochmal. Du knallst sie nicht?“
„Nein.“
„Wow. Das ist die erste Frau, mit der ich dich wirklich reden sehe, ohne dass du sie fickst.“
Roman nickte anerkennend und trank seine Flasche leer. Den Kronkorken der nächsten schlug er an der Tischkante ab – knirschend brach ein Splitter heraus. Er riss ihn ab und warf ihn aus der Wohnungstür.
„Woher kommt eigentlich der Schwachsinn, dass alle denken, Frauen wären für mich nur zum Ficken gut.“
„Hör dir mal selber zu, wenn du betrunken bist.“ Und mit einer Stimme, die künstlich klang, aber nicht nach Raphael: „He, die da hat ich schon und die da auch und die da hinten, die bläst dir einen, mannomann.“
„Wann hab ich das gesagt?“
„Silvester.“
„Da kannst du mir alles erzählen.“
„Normalerweise ist es nicht so krass. Aber in die Richtung geht’s schon.“
„Bei dir doch auch.“
„Stimmt. Aber ich beschwere mich nicht. Wie auch immer, ich wünsche noch einen schönen Abend. Bin mal los.“ Er salutierte spöttisch, griff sich eine Flasche als Wegzehrung und verschwand.
Raphael sah eine Doku über Tierschlachtung und trank Bier dazu. In seinem Zimmer war Ruhe eingekehrt. Er wartete darauf, dass ein Hipster herauskam, mit Haartolle und Brille ohne Gläser, auf dem T-Shirt ein ironischer, ein cooler Spruch, etwas gegen den Mainstream. Dann hob Kira wieder an zu singen. Raphael stellte den Ton lauter, Schweinequieken übertönte das Stöhnen. Und wieder Stille. Raphael ging das Bier aus und er stieg um auf Cola.
„Verpiss dich!“
Mit einem Satz war Raphael an der Tür. Kira stand in Top und Boxershort vorm Fenster, die Frisur wuschig und zerzaust. Auf der Matratze saß ein Mann um die dreißig, mit ruiniertem Seitenscheitel, einzelne Strähnen standen ab, als stände er unter Strom. Seine Klamotten lagen zu einem Haufen geschrumpft in der Ecke, daneben ein Rucksack.
„Raus.“
Verwirrt sah der Mann zu Raphael. Auf seiner Brust wuchsen keine Haare, sein Bauch war trainiert. Mit einer Hand fingerte er nach seiner Brille. „Hey, was soll das?“
„Hau ab. Das ist mein Zimmer.“
Klamotten und Rucksack flogen auf den Flur, schlitterten übers PVC. Der Mann verschwand von selbst. Raphael knallte hinter ihm die Tür zu. Inzwischen war Kira am Fenster zusammengesunken, mit den Armen hielt sie ihre Beine umschlungen. Ihre Augen schwammen in Flüssigkeit, aber keine Tränen fielen. Er setzte sich neben sie.
„Es tut mir leid.“
„Muss es nicht.“
„Wirklich.“
„Ist nicht so wichtig. Komm.“ Er brachte sie ins Wohnzimmer, wo der Fernseher weiterlief. Aus Romans Zimmer – feinsäuberlich standen die Lehrbücher im Regal, an der Wand hing ein Pin-Up-Kalender aus den 60er – holte er eine Handvoll Flaschen aus dem Kasten direkt hinter der Tür.
„Trink, dann geht’s dir besser.“
Sie nuckelte an der Flasche. „Weißt du, das war eine Kurzschlussreaktion. Ich war einfach so wütend. Nein, nicht wirklich wütend. Eigentlich war ich enttäuscht, ja und traurig, und irgendwie, ach scheiße … Berlin ist einfach sehr wichtig für mich.“
„Ist okay.“
„Wirklich, das ist meine Chance nochmal neu anzufangen.“
„Ist dein Leben hier denn so scheiße?“
Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und ihr Haar berührte seine Wange. Der Fernseher sprach von Unruhen in Kasachstan.
Janine stand abseits auf dem Bahnsteig, während der Zug bereits zu sehen war und Kira an Raphaels Hals hing wie ein Kind.
„Ich werde dich vermissen.“
Mit knarrenden Bremsen hielt der Zug. Die Türen sprangen auf, Menschen stiegen aus, eilten den Bahnhof entlang.
„Also … Wir sehen uns.“
Auf der letzten Stufe in den Zug, als sie zurückblickte zu Raphael und Janine, wirkte Kira glücklich. Sie winkte und verschwand im Wageninneren. Noch einmal sah er sie am Fenster. Der Zug fuhr ab, langsam erst, dann schneller, dann außer Sicht.
Einsam lag der Bahnsteig in der Nachmittagsstille. Jenseits der Gleise glühten die Wagons in der Sonne. Ein Schmetterling taumelte vorbei. Raphael wischte sich die Augen.
„Heulst du?“, fragte Janine.
„Sicher nicht.“ Seine Stimme klang normal.
„Stört es dich, wenn ich mitkomme? Ich treff mich nachher eh mit Roman.“
Gemeinsam warteten sie an der Haltestelle, auch hier kaum Menschen, nur zwei Jungen fuhren mit Skateboards von links nach rechts; gemeinsam stiegen sie in den Bus. Raphael setzte sich, Janine blieb stehen. Sie trug ein bauchfreies Top. Ein Piercing steckte im Nabel.
„Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was Kira da eigentlich will. Wer zieht schon nach Berlin“, sagte sie.
Kaum, dass sie in der Wohnung waren, verschwand Janine in Romans Zimmer. Raphael machte auf dem Absatz kehrt und ging in die Stadt.
„Einen noch.“
Der Barkeeper, ein Mann, jünger als Raphael, mit rasiertem Schädel und schwarzer Schürze, schenkte Wodka nach.
„Vielen Dank.“ Er sprach mit dem Pathos des Betrunkenen. Seine Finger fühlten sich zittrig. „Ich zahl dann.“ Mit Münzgeld beglich er seine Rechnung, kippte den Wodka, verließ die Kneipe. Die Luft roch nach Stein, der langsam auskühlte, nach Stahl, endlich schläfrig in der Dunkelheit. Seine Füße gingen von allein. In den Bars brannte noch Licht, Fröhlichkeit in Glas gegossen. Eine Gruppe Mädchen lärmte vorüber – er konnte nicht sagen wie alt sie waren, irgendwas zwischen zwölf und achtzehn. Er bog ab in den Stadtpark. Hier wurde die Luft feuchter und kühl. Im Lichtkegel einer Laterne sah er einen Obdachlosen auf seiner Parkbank schlafen. Am Fußende lehnte der Hausrat in Plastiktüten.
Nach dem Park kam der Supermarkt, und dann die Wiese. Studenten lagen im Gras. Zigaretten glommen orangerot, Musik wehte heran, vermischte sich mit Stimmen und Lachen. Irgendjemand rauchte Schischa, der süßliche Geruch tränkte die Luft und Raphael musste niesen. Er suchte seinen Weg, trat fast auf ein Pärchen, das engumschlungen am Boden lag. „Pass doch auf.“
Im Treppenhaus blendete das Licht. Eine Gruppe Frauen kam von oben. Sie trugen Kleider und Röcke in schwarz und rot. Raphael hielt sich am Geländer fest, bis sie vorüber waren.
Kira lag vor der Wohnungstür und weinte, ein zu dünner Körper verloren in seinen Klamotten. Ihr Wimmern ging fast unter im Partylärm zwei Stockwerke höher. In Wellen drängt der Bass durch Raphaels Magen. Ihm wurde schlecht.
„Hey, was ist? Was ist passiert?“ Seine Zunge fühlte sich taub und träge. Die Worte fielen schwer. Er ging neben ihr zu Boden, richtete sie halbwegs auf, lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Zähne, ließ aber sein Feuerzeug fallen und fand es nicht wieder.
„Ich kann nicht weg von hier. Ich schaff es nicht. Ich schaff es nicht.“ Schluchzen unterbrach Kira und sie krümmte sich nach vorne, als müsste sie kotzen. Raphael hielt ihre Haare und fühlte sich an Schulzeiten erinnert, als am Wochenende alle Welt ins Haus seiner Eltern kam.
„Ganz ruhig. Was ist los?“
„Ich schaff es einfach nicht.“
Sie lehnte sich wieder an ihn, atmete heiß an seinen Hals. Ihre Brüste drückten schwer und voll gegen seinen Oberkörper. Er fühlte, dass er einen Ständer bekam, und schloss die Augen. Die Vorstellung, ihr zwischen die Beine zu fassen, drängte sich auf.
„Wo sind eigentlich deine Sachen?“
Sie sah ihn groß an. Der Mund stand offen. „Mein Sachen, ich hab meine Sachen im Zug vergessen.“
Sie versuchte aufzustehen, Raphael hielt sie fest. „Das bringt doch nichts. Das bringt doch nichts.“ Er war ihrem Gesicht sehr nahe, roch Alkohol und wusste nicht, ob es sein Atem war oder ihrer. Er hielt ihre Wange und versuchte ihr in die Augen zu sehen, doch das Licht war zu schlecht. „Wir holen deine Sachen. Das ist gar kein Problem.“ Dabei fiel ihm nicht ein, wie er das machen sollte. Das Blut sickerte aus seinem Kopf, die Hose wurde ihm eng.
„Ich komm einfach nicht weg. Nicht weg.“
„Ist doch alles gut. Ist doch alles okay.“
Mit den Fingern strich er durch ihr Haar, ihre Kopfhaut kratzig unter seinen Finger. Die Zigarette rutschte ihm aus dem Mund und war ebenfalls verloren, er suchte gar nicht erst nach ihr.
„Komm, wir gehen rein.“
Wie ein Kind ließ sie sich tragen und als die beiden auf der Matratze lagen, verschwitzt, verdreckt und traurig, nestelte Kira mit steifen Fingern an seiner Hose und Raphael fuhr ihr mit den Händen unters T-Shirt.