Mitglied
- Beitritt
- 09.07.2002
- Beiträge
- 104
Befreiung
"Hallo."
Wieder diese Stimme. Ich weiß nicht, wie ich sie beschreiben soll. Sie ist nicht bedrohlich, doch sie jagt mir Angst ein. Sie ist weder dunkel noch hell, nicht melodisch, nicht kratzig, nicht besonders tief, aber hoch auch nicht. Sie ist einfach da. Ich weiß nicht, woher sie kommt. Einmal dachte ich, vor der Tür würde jemand stehen, der mit mir spricht. Aber da war niemand. Und ich hatte auch keine wegrennenden Schritte gehört, keine hastig zugeschlagene Tür. Ich höre immer nur die Stimme, keine Nebengeräusche, kein Atmen, kein Rascheln irgendeines Kleidungsstückes. Nur diese Stimme.
Ich kann nicht einmal sagen, ob ein Mann spricht oder eine Frau. Vielleicht ist es sogar ein Kind, ich kann es nicht ausschließen. Manchmal überlege ich, ob es überhaupt ein Mensch ist. Aber der Gedanke ist natürlich absurd. Was sollte es denn sonst sein? Es gibt keinerlei Beweise für die Existenz von Außerirdischen, Gespenstern oder ähnlichen Kreaturen. Übernatürliche Wesen? So etwas gibt es nicht!
Aber diese Stimme... Ich habe das Gefühl, sie wäre in mir drin. Wie ein Gedanke. Wenn ich denke, höre ich das ja auch irgendwie. Aber Gedanken haben keine richtige Stimme. Nicht von allein. Ich kann mir vorstellen, wie meine Gedanken mit meiner Stimme sprechen. Wenn ich will, reden sie auch wie mein Großvater oder meine Freundin. Aber von sich aus tun sie das nicht. Von sich aus... als wenn Gedanken ein
Eigenleben hätten, so ein Quatsch.
"Wieso denn Quatsch?"
Nein, hör auf, mich so zu quälen! Verschwinde aus meinem Leben, ich werd noch wahnsinnig! Wieso kennst du meine Gedanken? Wieso? Es gibt keine Telepathie und wer sagt, er könne Gedanken lesen, ist ein Lügner. Genau wie sogenannte Wahrsager oder die Leute, die Horoskope erstellen. Niemand hat übersinnliche Kräfte. Wahrscheinlich... genau, ich habe sicher nur laut gedacht und du hast mich belauscht. Ha, du dachtest wohl, jetzt hättest du mich vollkommen zum Wahnsinn getrieben?Aber von einem Schwindler wie dir lasse ich mich nicht erschrecken. Ehrlich gesagt: Ich habe schon überlegt, zu einem Psychiater zu gehen. Aber ich bin nicht verrückt, was soll ich also bei so einem "Seelendoktor"?
Wenn ich überhaupt jemandem davon erzähle, dann der Polizei, damit du endlich eingesperrt wirst. Du bist derjenige, der psychische Schäden hat, nicht ich. Wahrscheinlich irgendein Kindheitstrauma, das ist es ja meistens.
"Keine Sorge, ich habe kein seelisches Problem. Und du auch nicht."
Das ist sicher ganz normal für Psychopathen – wenn man bei solchen Leuten überhaupt vom Normal-Sein sprechen kann –, dass sie ihren Wahnsinn leugnen. Wer gibt schon zu, verrückt zu sein? Ich will mit Leuten wie dir nichts zu tun haben, geh doch einfach weg und lass mich allein!
"Ich werde gehen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist."
Und wann ist deiner Meinung nach der richtige Zeitpunkt?
"Wenn du selbst willst, dass ich gehe."
Aber genau das will ich doch!
"Nein, das sagst du zwar, aber du willst es nicht."
Was glaubst du denn, was ich sonst will? Was glaubst du, warum ich dir die ganze Zeit sage, dass du abhauen sollst?
"Ich kenne dich. Vielleicht besser als du selbst dich kennst. Du bist einsam, du brauchst jemanden zum Reden, jemanden, der dir zuhört."
Wenn ich reden will, rufe ich eine Freundin an. Und selbst, wenn ich sonst niemanden hätte, würde ich eher so ein Sorgentelefon benutzen als ausgerechnet dich um Hilfe zu bitten. Du bist feige. Wahrscheinlich bist du total hässlich und traust dich deshalb nicht, dich mir zu zeigen.
"Du kannst mich nicht beleidigen, gib dir keine Mühe. Hör doch auf, dich zu wehren, vertrau mir! Du weißt, dass du das kannst."
Wie kann ich jemandem vertrauen, den ich noch nie gesehen habe? Ich kann nicht mehr, kannst du nicht endlich gehen?
"Bald. Bald gehe ich. Es dauert nicht mehr lange. Ich muss noch etwas mit dir besprechen."
Was denn? Na sag schon und dann hau endlich ab!
"Du weißt doch genau, was ich meine."
Nein, du hast es mir ja noch nicht gesagt. Was soll denn das? Ich hab keine Lust auf dein blödes Rätsel.
"Ich spreche von den Briefen, die du geschrieben hast."
Das hilft mir ja echt weiter. Als ich noch gearbeitet habe, habe ich täglich mehr als zwanzig Briefe abgeschickt.
"Die Briefe, die ich meine, hast du nicht versendet. Du hast sie auf wunderschönes Briefpapier geschrieben und auch schon sie Umschläge beschriftet. Nur zur Post hast du sie nicht gebracht."
Ach die Briefe. Na und, was geht es dich an? Ich bin dir doch keine Rechenschaft schuldig. Kannst du mir nicht endlich mal sagen, was du eigentlich von mir willst? Du nervst mich doch nicht nur wegen dieser Briefe, oder?
"Schick sie ab!"
Warum sollte ich? Wie stellst du dir das vor? Du mischst dich einfach in mein Leben ein, sagst mir nicht, wer du bist und verlangst von mir, diese peinlichen Briefe zu versenden.
"Weißt du noch, was drin steht?"
Ich hab sie doch selbst geschrieben.
"Dann schick sie ab! Du musst mit jemandem reden, über deine Einsamkeit, deine Probleme..."
Ich dachte, das wolltest du so gerne tun.
"...darüber wie fertig du bist. Meinst du Alkohol ist eine Lösung? Oder Schlaftabletten? Träume kannst du so verscheuchen. Mich nicht. Ich habe Zeit. Ich warte. Und ich komme wieder. Wolltest du mich nicht loswerden? Dann vergiss deinen dämlichen Stolz. Du hast nichts mehr, worauf du stolz sein kannst. Bitte um Hilfe. Du kannst es schaffen. Du kannst rauskommen. Du musst nur reden, mit deinen Eltern, deinen Freunden. Richtig reden. Ohne Lügen."
Wenn das so einfach wäre...
"Es ist gar nicht so schwer. Dir fehlen die Worte? Dann kannst du doch wenigstens die Briefe versenden. Den ersten Schritt nimmt dir niemand ab."
Sie redete mit ihren Eltern. Sie ging zu einer Suchtberatungsstelle. Es dauerte lange, aber sie bekam ihr Leben wieder in den Griff. Die Stimme hörte sie nie wieder.
[ 09.07.2002, 13:57: Beitrag editiert von: Nudelsuppe ]