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Hier habe ich das Thema von "Triage" noch einmal ganz neu bearbeitet.
Begegnung der dritten Art
Frank Hohmann warf einen Blick auf sein Handy. Er hatte nach einigen der Corona-Patienten zu sehen, auch gab es einen Neuzugang, der Lutz Kobel hieß. Hohmann beschloss, ihn zuerst zu besuchen. Die Leute hatten verständlicherweise Angst, wenn sie kamen. Noch einen letzten Schluck Kaffee, den er nötig hatte. Sie tranken ihn alle literweise. Andere Sachen hatte er auch schon probiert, wollte das aber nicht zur Gewohnheit werden lassen. Die Kollegen schafften es schließlich auch, schon vor Corona hatte er sich manchmal gefragt wie sie es machten. Wobei es zumindest Olaf ähnlich gehen musste, denn von ihm hatte er damals ein paar einschlägige Tipps bekommen. Sie hatten allerdings nie wieder darüber geredet. Es war ein Tabu. Die Situation jetzt aber machte ihn noch viel mehr fertig. Immer wieder überlegte er, wie lange es wohl noch dauern würde, bis er etwas tat, was er nicht hätte tun sollen. Oft überkam ihn inmitten von Stress jetzt solch eine seltsame, völlig unangebrachte Ruhe. Sie machte ihm zugleich Angst und tröstete ihn. Wenn sie kam, dachte er nur noch: ´Jetzt`, weiter nichts. Wann würden die Kollegen ihn daraufhin ansprechen, dass er zu langsam arbeitete? Egal, die erste Pause war vorüber. Jetzt noch den „Raumanzug“ angelegt und los. Heute Nachmittag würde er endlich nach Hause gehen. Hoffentlich hatte Esther nicht schon wieder Post bekommen. Vielleicht hatte die Polizei inzwischen Ergebnisse.
Als er die Tür öffnete, wurde ihm kurz übel. Stimmt, er hatte noch etwas essen wollen, doch Irene, seine Chefin, hatte über einen Patienten mit ihm gesprochen. Darüber hatte er es vergessen.
Er trat ans Bett des Patienten und stutzte. Das Gesicht kannte er, er war sich sicher, doch es fiel ihm nicht ein woher. Er stellte sich vor und fragte, was er wissen musste. Herr Kobel redete leise. Nachdem alles Wichtige besprochen war, seufzte Kobel und sagte:
„Hätte ich nicht gedacht, dass es mich so schlimm treffen würde.“
„Naja, das Risiko haben wir alle, solange wir keine Impfung haben. Man kann sich schützen und doch kann man nicht komplett ausschließen…“
Herr Kobel verzog die Mundwinkel und sah aus dem Fenster.
„Pff.“
Plötzlich wußte Hohmann, woher er ihn kannte. Samstag vor zwei Wochen war das gewesen. Als er über den Markt gelaufen war, war er in die Querdenker-Demo geraten und weil er den Strom der nicht oder nur unzureichend maskierten Demonstranten nicht durchqueren wollte, hatte er mitbekommen, wie ein Lokalsender einige der Leute interviewte. Lutz Kobel hatte dem Reporter aufgebracht erklärt, nicht zu bezweifeln, dass es den Virus gebe, doch dass es so gefährlich sei, wie es behauptet würde, das sei politisch motiviert, da gebe es ganz andere Gründe für. Der Reporter hatte ihn gefragt, was das seiner Meinung nach denn für Gründe seien und Lutz Kobel hatte bedeutungsvoll den Kopf gewiegt und gesagt: „Das glauben Sie ja sowieso nicht, bei der Presse müssen Sie der Regierung ja nach dem Mund reden. Aber die da oben sind alle gekauft!“ Ganz kurz war ihm die Frage durch den Kopf geschossen, ob er sich zu anderen Zeiten womöglich als Arzt in das Interview eingemischt hätte, überquerte aber schnell die Straße, als sich eine Lücke auftat.
„Ich habe Sie auf der Querdenker-Demo gesehen vor zwei Wochen, als Sie gerade interviewt worden sind“, sagte er zu Kobel „Viele Leute dort hatten keine Masken auf.“
„Diktatur“, murmelte Kobel. Dann hustete er angestrengt.
„Und jetzt, warum sind Sie hergekommen, wenn es nur eine normale Grippe ist?“ Hohmann merkte, dass er wütend wurde, stärker als es angebracht war.
„Mein Hausarzt hat es mir geraten.“ Kobel schürzte die Lippen wie ein Kind.
„Tja, mal sehen, ob wir ein Beatmungsgerät für Sie frei machen können, sollten Sie in den nächsten Stunden eins benötigen.“ Hohmann sah ihn im Bett vor sich liegen, ganz klein, weit weg. Wer war das überhaupt, den er hier sah? Der gesichtslose Schreiber der Morddrohungen, die seine Frau erhielt, seit sie Stadträtin geworden war, das war auch so einer wie dieser hier.
„Wieso? Sie müssen mir doch helfen!“ Kobel schaute ihn ungläubig an. Hohmanns Blick vereiste.
„Wir haben hier momentan sehr viele Patienten“, erklärte er. „Von der Situation der Triage haben Sie vielleicht schon einmal in den Nachrichten gehört. Wir können nicht alle Patienten gleich gut versorgen. Wir müssen Entscheidungen treffen.“ Unglaublich, was tat er hier? Doch es gab keinen Zeugen, denn im Moment lag Kobel allein in diesem Zimmer.
„In Deutschland?“ Kobel schnappte nach Luft.
„Ja, auch hier inzwischen.“ Kobel suchte nach einer Antwort in Hohmanns Blick.
„Sie…hassen Leute wie mich.“ Schweiß und Angst standen ihm jetzt im Gesicht. Hohmann stand neben ihm und tat nichts. Dann trat er ans Fenster und schaute hinaus als hätte er alle Zeit der Welt. Langsam beruhigte sich Kobels Atem wieder, doch es hatte sicher eine Minute gedauert.
„Ich weiß auch, wer Sie sind“, hörte er Kobels Stimme plötzlich erneut in seinem Rücken. Hohmann drehte sich um.
„Ihre Frau ist bei den Grünen und Stadträtin. Sie waren vor ein paar Tagen mit ihr zusammen im Fernsehen.“ Das stimmte. Am Dienstag waren sie durch ein Presse- und ein Fernseh-Team vor dem Haus überrascht worden, als sie gerade ins Auto steigen wollten. Das war eine dumme Sache gewesen. Hatte sie sich auch so abfällig und allgemein über die Demonstranten äußern müssen? Als Politikerin müsste sie sich besser beherrschen können.
„Ihre Frau gehört nicht in den Stadtrat, finde ich. Ich finde sie nicht gut.“ Kobel hatte wieder leise gesprochen, aber Hohmann fühlte sich trotzdem geohrfeigt.
„Sie hat sich inzwischen für ihre Äußerung entschuldigt.“ In der Tat hatte Esther ziemlichen Ärger bekommen, aus allen Ecken, auch von ihrer eigenen Partei. Sicher, man konnte nicht alle über einen Kamm scheren, aber auch er konnte diese Leute im Prinzip nicht ausstehen. Er fand sie dumm und ignorant und sie machten ihn wütend.
„Sie meint es aber so. Und Sie wahrscheinlich auch.“
Hohmann zuckte die Achseln. Dann rang er etwas mit sich.
„Sie bekommt Morddrohungen, seit sie Stadträtin geworden ist, das ist zwei Jahre her.“ Er drehte sich wieder zum Fenster. Kobel schwieg. Hohmann sah auf sein piepsendes Handy.
„Ich muss weiter, Herr Kobel. Rufen Sie eine Schwester, wenn Sie etwas brauchen.“ Als er schon die Türklinke herunterdrückte, hörte er Kobel noch einmal:
„Das… tut mir leid…, das mit den Morddrohungen… Das ist schlimm.“
„Ja.“ Hohmann sah noch einmal zu Kobel.
„Bis dann“, sagte er und ging.
Er veranlasste umgehende Untersuchungen und die möglicherweise notwendige Beatmung Kobels.
Den restlichen Arbeitstag war er schlecht gelaunt. Das, was sie als Ärzte bei aller Überforderung zuverlässig bekamen, war ein Vertrauensvorschuss, genauso wie die Dankbarkeit der Patienten. All dessen fühlte er sich heute beraubt und er wusste nicht genau, wer Schuld daran war. Lutz Kobel ging ihm nicht aus dem Sinn. Immer wenn er ihn dafür verantwortlich machen wollte, schämte er sich und er wurde noch gereizter.
Dann hatte er endlich zwei Tage frei, doch Esther musste arbeiten. Die Kinder sah er nur zu den Mahlzeiten, sie machten ihr Ding. Noch vor einem halben Jahr war er manchmal wehmütig darüber gewesen, dass sie schon so groß waren, doch im Moment war er froh darüber. Hohmann fühlte sich auch jetzt hier zu Hause noch seltsam, wie mit Watte umgeben. Vermutlich sollte er mit Esther mal darüber reden. Von der Polizei hatten sie noch keine Nachricht erhalten. Er kaufte ein und machte die Wäsche, zwischendurch lag er auf dem Sofa und las. Öfter noch starrte Löcher in die Luft, so wie jetzt. Schließlich nahm er sich das Tablet und suchte nach Informationen. Er gab „Querdenker“ ein. Das wattige Gefühl ließ etwas nach und er fühlte sich wacher. Er schaute sich Videos an und las über die Zusammensetzung der Personen auf den Anti-Corona-Demos und über Bodo Schiffmanns You-tube-Filmchen. Der Querdenker-Arzt mit seiner Schwindelambulanz, wie schön Doppeldeutigkeiten doch manchmal passten. Er schüttelte den Kopf und stöhnte. Es war trotzdem ein Konglomerat von Leuten mit den verschiedensten Anliegen und Sichten. Aber ihre Vermischung wirkte destruktiv, ja verheerend.
Am Freitag hatte er wieder Dienst. Hohmann legte seinen Besuch bei Lutz Kobel vor seine Pause.
Kobel hatte tatsächlich die letzten Tage Sauerstoff per Maske bekommen, sich aber schon wieder stabilisieren können.
„Wie geht es Ihnen inzwischen, Herr Kobel? Die Sauerstoffmaske konnte schon weg, habe ich gehört. Sie sind schon in der Entwöhnung.“
Kobels Blick spiegelte widerstreitende Gefühle.
„Die Maske war nicht angenehm, aber es geht mir jetzt schon besser.“
„Das ist gut. Das ist gut.“ Hohmann deutete auf den Besucher-Stuhl neben dem Bett und fragte: „Darf ich?“ Kobel nickte. „Natürlich.“
„Ich habe immer wieder an Sie denken müssen in den letzten Tagen, als ich nicht im Dienst war.“ Hohmann lächelte.
„Ach, Sie hatten frei.“ Kobel klang, als hätte er sich vorher diese Frage gestellt.
„Am Dienstag, als Sie kamen, war ich... gemein zu Ihnen…“ Kobel antwortete nicht gleich.
„Man ist das schon gewohnt, leider.“
„Naja, ich habe meine Probleme mit den Demonstranten.“
„Noch sind wir eine Demokratie.“
„Darum geht es nicht. Wenn sie die Sicherheitsvorschriften einhalten würden, hätte ich viel weniger Probleme mit ihnen.“
„Aber um diese Sicherheitsvorschriften geht es ja gerade!“
„Sie halten Sie das Coronavirus noch immer für ungefährlich?“
„Naja“, Kobel kratzte sich am Kopf. „Ich weiß nicht, für die meisten ist es wohl nicht so gefährlich wie für mich. Würden Sie das nicht auch sagen, als Arzt?“
„Ja, das ist wohl wahr. Nur trifft es doch insgesamt viele Menschen so stark oder noch stärker als Sie, weil es sich so schnell verbreitet, erst recht die neuen Mutanten.“
„Es heißt, es würde alles in größeren Zusammenhängen stehen,… nicht so sein, wie es scheint…“
„Ich weiß, ich habe davon gelesen, von diesen…Ideen…“ Sein Handy brummte. Es war Esther. Sie rief ihn normalerweise nicht im Dienst an. Er würde zurückrufen und drückte sie jetzt weg. Dann kam eine Nachricht an. Er schaute kurz darauf. „Sie haben ihn“, stand da. Aha, gut!
Und Kobel? Kobel hatte zu ihm gesagt, dass ihm die Morddrohungen leid täten. Dennoch lebte er geistig in einer völlig anderen Welt. Hohmann sah ihn vor sich in seinem Bett liegen und hatte das verrückte Gefühl, einen Außerirdischen zu behandeln. Es trennte sie so viel. „Die unheimliche Begegnung der dritten Art“ fiel ihm ein. Unheimlich, weil es ihn so ratlos machte.
„Es ist alles schwierig geworden, finden Sie nicht?“ Sein Lächeln drückte eben dies aus.
„Oh ja, sehr schwierig!“ Kobel überlegte.
„Sie sagen „Ideen“ zu meinen Ansichten…Ich hatte früher mehr Freunde… oder andere zumindest… Es passieren schlimme Sachen. Auch das mit Ihrer Frau…“
„Sie verurteilen diese Morddrohungen trotz ihrer Äußerungen auch, das bedeutet mir etwas.“
„Natürlich.“ Kobel machte runde Augen.
„Es ist aber schwierig geworden, miteinander zu reden, oder? Ich habe auch einen Freund verloren. Er ist Arzt wie ich, aber er tut jetzt Dinge, die ich nicht in Ordnung finde. Er war auch früher schon immer etwas alternativ. Das war früher auch völlig in Ordnung. Aber jetzt erzählt er seinen Patienten Dinge, die entbehren einfach…“
„Warum sollte er schlechter Bescheid wissen als Sie?“
„Er weiß nicht schlechter Bescheid, er bekommt so mehr Aufmerksamkeit. Ich muss es leider so sagen. Medizinisch kann ich es Ihnen natürlich auch erklären. Man kann es aber auch im Netz oder in der Presse nachlesen. Man kann fast alles dort nachlesen…“ Kobel schüttelte den Kopf. „... aber es ist mehr eine Frage des Vertrauens in die offiziellen Sichtweisen, nehme ich an.“
„Da haben Sie recht.“
Hohmann nickte. Er dachte an seine Jugend in der DDR. Da hatten sie den offiziellen Medien auch nicht geglaubt. Aber damals sagten die auch alle das Gleiche, Abweichungen gab es nicht. Die Medien heute, nein, da lagen Welten dazwischen.
„Ich habe mal in einer Diktatur gelebt, als ich jung war“, sagte er.
„Wenn Sie die DDR meinen, da komme ich auch her“, erwiderte Kobel und hatte einen belustigten Ausdruck in den Augen.
„Und Sie finden das gleich, so wie die Medien heute und wie sie damals berichteten, die Politiker redeten?“
„Nein, die Politiker sind heute intelligenter, gewiefter. Und die meisten Leute merken gar nicht, dass sie von vorn bis hinten belogen werden, auch die Journalsten nicht!“ Hohmann seufzte.
„Von Bill Gates zum Beispiel?“, fragte er.
„Schauen Sie sich mal Interviews mit dem an und dann sagen sie mir, ob sie den sympathisch finden.“
„Ich finde ihn sympathisch. Es gibt nicht viele Superreiche, die all ihr Geld in soziale Projekte stecken.“
„Er verdient sich mit den Impfungen doch dumm und dämlich! Und er hat vorher gewußt, dass die Pandemie in China ausbrechen würde. Warum wohl?“
„Das haben viele Forscher befürchtet. In China gibt es z.B. diese Märkte, in denen Wildtiere verkauft werden. Manche haben unbekannte Krankheiten…“
„Nein, nein, das sind zu viele Zufälle. Außerdem ist so eine Pandemie ein gutes Mittel, um die Überbevölkerung der Erde zu bekämpfen. Er hat es doch selbst angekündigt!“
Es brachte nichts.
„In Ihrer Welt macht das alles Sinn“, sagte er.
„Natürlich.“ Kobel lächelte.
„In meiner Welt ist das mit den Erklärungen manchmal schwieriger, mit dem Sinn und der Frage ´Warum?`“, gab Hohmann zu. Sie lächelten sich nun beide an.
„Hören Sie, Herr Kobel, versuchen Sie einfach, keine anderen Menschen zu gefährden, wenn Sie wieder draußen sind. Sie wissen jetzt, dass man nicht wissen kann, wen es wie stark trifft. Was Sie sonst glauben, naja, das müssen Sie selbst entscheiden. So ist das eben.“ Hohmann erhob sich.
Kobel nickte.
„Sie sind in Ordnung, Doktor“, meinte er.
„Warum denken Sie das?“ Hohmann war etwas erstaunt.
„Naja, Sie haben sich immerhin zu mit gesetzt und wir haben geredet…“
Hohmann hob grüßend die Hand und es ging ihm besser, als er ging. Letztlich war es wohl doch die gleiche Welt, in der sie lebten und Probleme lösen mussten.
„Wir sehen uns.“