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Begegnung im Zugabteil
Der Zug stieß einen hohen Ton aus, bevor sich die Türen schlossen. Ich legte mein Buch weg und starrte aus dem Fenster. Auf Bahnhöfen geht es immer unglaublich hektisch zu. Ein Mann eilte an meinem Fenster vorbei und zog den Koffer hinter sich her. Ein Hund bellte ihm nach. Ein Stück weiter, begrüßte eine Mutter stürmisch ihre Familie.
Ich war gerne an Bahnhöfen, sie verströmten so einen angenehmen Geruch von Freiheit und Abenteuer. Meine Reise war jedoch nicht lang, denn ich wollte nur meine Oma einige Kilometer weiter besuchen. Das Abteil, in dem ich saß, war bisher leer, was mich nicht störte, so konnte ich die Beine ausstrecken und es mir gemütlich machen. Gerade als ich die Augen geschlossen und den Kopf zurück gelehnt hatte, ging die Tür zu meinem Abteil auf. Einen Moment lang überlegte ich, die Augen einfach geschlossen zu halten, aber die Neugier darüber, zu wissen, wer sich zu mir gesellen wollte, siegte.
Ich sah ein junges Mädchen, etwa so alt wie ich selbst. Sie trug etwas altmodische Kleidung, einen Baumwollrock und eine weiße Bluse. Ihre langen, blonden Haare hatte sie mit einer Klammer zusammen gesteckt. Scheu lächelte sie mir zu und ließ sich auf einem Sitz nieder.
„Hallo, wohin reist du?“, fragte ich und überlegte danach, ob das nicht etwas zu neugierig war.
"Nach Hannover", antwortete das Mädchen und ergänzte dann, "zu meinem Onkel."
Ich erwiderte, dass ich unterwegs zu meiner Großmutter war.
Das Mädchen und ich sprachen über das Wetter, die Fahrt, und die Leute und ich erfuhr unter anderem, dass sie Lise hieß.
Sie schien mir nett und freundlich zu sein, bis ein schwules Pärchen an unserer Abteiltür vorbei ging. Lise stockte im Gespräch und starrte auf den Gang, als sich die beiden Männer küssten.
„Igitt“, keuchte Lise und drehte beschämt ihren Kopf zur Seite.
„Du findest das eklig?“, fragte ich und musste ein Lächeln unterdrücken.
„Natürlich! Das ist nicht die Bestimmung der Bibel“, sagte Lise und sah mich aus großen, schockierten Augen an. Ich runzelte die Stirn.
„Die Bestimmung der Bibel?“
„Das ist eine unnatürliche Liebe, verstehst du?“
„Aber wenn sie sich doch lieben?“
Lise zog die Nase kraus und antwortete dann:
„Die wahre Liebe ist ohnehin nur die zu Christus.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Bis mir etwas einfiel, das ich vor kurzem gelesen hatte. Ich fragte sie danach:
„Ach, bist du eine bibeltreue Christin?“
Sie lächelte breit und ihre Augen glänzten.
„Ja, so ähnlich. Du auch?“, fragte sie. Ich schüttelte den Kopf und sie sah enttäuscht aus.
„Das wird sich ohnehin ändern, wenn Jesus Christus erst zurück kommt“, meinte sie und ihre Augen bekamen einen leicht glasigen Ausdruck. Mein Herz begann mit einem Mal schneller zu schlagen.
„Ich glaube überhaupt nicht“, presste ich hervor.
„Dann wirst du zurück bleiben, während wir ins Paradies kommen“, antwortete sie und ihre zuvor so wunderbar helle und freundliche Stimme hatte einen Kälte angenommen, wie ich sie noch nie zuvor gehört hatte.
„Woran genau glaubst du?“, fragte ich und lehnte mich in meinem Stuhl etwas nach vorne. Ihre Augen begannen wieder zu leuchten.
„ Wir haben Grund zur Annahme, dass Christus noch zu unserer Lebzeit wiederkommen kann. Das ist wahrscheinlicher als bei jeder anderen Generation zuvor“, sagte sie leidenschaftlich, der Text klang aber wie auswendig gelernt.
Mein Puls ging wieder etwas schneller, als ich merkte, dass ich es hier mit etwas völlig Neuem zu tun hatte.
„Und was passiert mit denen, die nicht daran glauben?“, fragte ich und wusste die Antwort eigentlich schon. Lise bemühte sich nicht, sondern machte nur eine wegwerfende Handbewegung. Dann kramte sie in ihrer Taschen nach etwas und zog ein Blatt heraus.
Als sie es mir in die Hand gab und ich in ihre hell leuchtenden Augen sah, bekam ich eine Gänsehaut.
„Aber es gibt noch eine Chance für dich!“, flüsterte sie und drückte meine Hand.
Mir lief ein Schauer den Rücken hinunter.