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Beichte
Beichte
von Klaus Meyer
Er lag mit offenem Mund da und starrte die Decke an. Der Wahnsinn trat aus seinen weit aufgerissenen Augen. Minuten waren vergangen, seit die Apparate aufgehört hatten, etwas von sich zu geben.
Der Mann, der neben dem Bett stand, schloss seinem toten Kameraden die Augen, dann trat er aus dem Zimmer und verlies die Klinik, ohne das Personal über den Todesfall in Kenntnis zu setzen. Er war der letzte und wusste nur zu genau, dass der Wahnsinn auch ihn bald begnadigen würde. Sehr bald. Hoffentlich. Das Krankenhaus lag mitten in der Stadt an einer belebten Fußgängerzone. Der Mann ging wie betäubt durch die Reihen der Passanten. Manche wichen aus, andere pöbelten ihn an, doch er bemerkte all dies nicht. Seine Gedanken waren nicht hier, sondern in der wirklichen Realität. Ob es in dieser Welt wirklich etwas Gutes gab? Eine Welt, deren oberflächliches Aussehen man doch nur vorgespielt bekam und die in Wahrheit doch wüst war und leer. Nur bevölkert von einsamen, verlorenen Seelen, die sich in unvollkommenen Körpern aus Fleisch und Blut Verstecke suchten und sich zu dieser grotesken Farce sogar eine Handlung ausdachten, die sie mit einzelnen Episoden, ihren sogenannten Problemen, anfüllten, die sie wie zum Schein lösten: `In welcher Farbe streichen wir das Wohnzimmer´ , `Kaufe ich mir nächstes Mal einen Diesel`, `Soll ich jetzt wirklich Aktien kaufen?`. Nichts von alledem findet statt. Er wusste es besser als die armen Menschen, die ihn hier umgaben und sich ihren Sorgen widmeten. Für einige Augenblicke in seinem Leben hatte er die Wahrheit gesehen. Es waren die letzten Momente seines Lebens, das wusste er jetzt. So wie für seine Kameraden, von denen der letzte vor wenigen Minuten auch biologisch gestorben war. Nun war nur noch er da. Sein ganzes Leben war angefüllt mit Gehorsam und Pflichterfüllung. Zuerst dem Staat gegenüber, dann, später als er mit den Fakten konfrontiert wurde und alles andere unausweichlich wurde, der Zelle gegenüber. Und nun? Die Zelle war das einzige, was real existent war, seine Zuflucht und letzte Heimat in einem Universum, das eine unendliche Ausdehnung besaß, und dennoch für die kleinen Menschen keinen Platz hatte. Und der Zelle waren auch die echten Fakten bekannt. Fakten, die sogar den Regierungen und den anderen Behörden gegenüber verheimlicht wurden, obwohl es hieß dass die Zellen früher einmal reguläre Regierungstruppen gewesen seien.
Der Mann kam durch eine kleine Gasse. Er stand neben einer Kirche, die an einem Marktplatz stand. Er sah am Turm des Gotteshauses empor. Es war eine spätgotische Kirche, aus rotem Sandstein erbaut. Auf der Turmspitze stand eine goldene Marienstatue. Ohne einen rationalen Grund, versuchte er, das Gewicht der etwa drei Meter hohen Figur abzuschätzen. „Sie ist perfekt.“, dachte er. „Genauso perfekt wie dieses ganze Zerrbild hier.“
Der Mann schloss die Augen. Das Standbild der Gottesmutter trat vor sein inneres Auge: „Etwas Gutes in der Welt!“, murmelte er vor sich hin. Er öffnete die Augen wieder und betrat das Gotteshaus. Es roch nach Kerzen, Weihrauch und abgestandener Luft. Er ging direkt auf den Beichtstuhl zu. Ein junges Mädchen trat gerade heraus und atmete erleichtert durch. Ihr Handy piepste. Sofort griff sie danach und las die Kurznachricht, die sie erhalten hatte. Ihre Miene hellte sich sichtlich auf und sie verließ quietschfidel die Kirche. Der Mann sah ihr kurz nach und betrat dann den Beichtstuhl. Er kniete sich auf das Brett und blickte sich in dem kleinen Raum um. Die Luft war stickig und verbraucht. Er sah auf. Durch das alte Holzgitter konnte er den Priester sehen, der noch verwundert den Kopf schüttelte und nach einer Flasche Mineralwasser griff. Nachdem er getrunken hatte, sagte er: „Sprich, ich höre Dir zu, auch wenn mein Körper ein wenig dürstet!“
Der Mann hatte eine staubtrockene Kehle: „Ich...ich kann..“
„Nein mein Sohn.“, unterbrach ihn der Pfarrer, „Du musst erst die Worte sprechen!“
„Was für Worte?“, fragte der Mann völlig verwirrt.
Verständnisvoll erklärte der Geistliche: „Die Bitte um Absolution. Du musst sagen: Vater, vergib mir, denn ich habe gesün....“
„Das ist doch völliger Quatsch!“, versetzte der Mann und atmete erregt ein.
„Was?“ Der Pfarrer sah ihn durch den Holzrost mit vor Erstaunen aufgerissenen Augen an und ihre Blicke trafen sich. Er senkte seine Stimme und fragte nach: „Was haben Sie da gerade gesagt?“
Der Mann sah verwirrt zur Seite. „Ich meine... also, es...es ist unmöglich.“, stammelte er. „Das man mir vergibt. Das geht nicht.“
Der Priester hatte sich wieder unter Kontrolle: „Der Herr, unser Vater vergibt uns unsere Schuld, wenn wir aufrichtig bereuen.“ Nach einer kleinen Pause fügte er eher sachlich hinzu: „Natürlich ist es nicht damit getan, dass ich Ihnen.. Dir äh die Absolution erteile. Es ist eine Sache zwischen Dir und Gott.“
„Es gibt keinen Gott.“, sagte der Mann gedankenverloren.
„Aha.“, der Pfarrer verdrehte die Augen, “Also nenne es wie Du willst. Meinetwegen ‚Dein Gewissen’.“ Er stellte sich insgeheim auf eine lange Sitzung ein. Er hielt den Mann mittlerweile für einen Straftäter, der sich das Gewissen reinreden wollte und es hing an ihm, den Mann dazu zu bewegen, sich der Polizei zu stellen. Einmal hatte er eine solche Situation erlebt, seit er in Amt und Würden stand und seit damals fürchtete er eine Wiederholung. Damals war ein junger Mann zu ihm gekommen und hatte ihm von seinem Trieb erzählt. Eine Woche lang kam er zur Beichte, manchmal mehrmals täglich, dann ging er zur Polizei. Später, im Gefängnis, erhängte er sich...
„Ich meine... es gibt keinen guten Gott.“, sagte der Mann kleinlaut. „Ich glaube auch nicht dass es überhaupt Götter sind.“
„Götter?“, meinte der Priester.
Der Mann wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Die Erinnerungen kamen wieder. Er begann zu zittern als er fortfuhr: „Ich... ich habe SIE gesehen. SIE sind...“
Ungeduldig verzog der Geistliche die Mundwinkel, bemühte sich jedoch um einen gelassenen Tonfall: „Wer sind SIE? Wen hast Du gesehen?“
Der Mann schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich weiß dass es einer von euch nicht verstehen kann. Sie waren ja noch nicht DORT!“
„DORT?“, fragte der Pfarrer immer noch geduldig, „Wo ist DORT?“ Langsam begann er am Verstand des Mannes zu zweifeln.
„Es... ist hier, SIE sind hier...sozusagen überall, aber nicht wirklich. Also für euch eben...“, stammelte der Mann.
Die Geduld des Priesters wurde ernsthaft auf die Probe gestellt: „Du sprichst in undurchsichtigen Rätseln, mein Sohn. Beruhige Dich doch erst einmal!“
Der Mann blickte auf und sah den Pfarrer an: „Es gibt keine Ruhe. Nicht für mich und die anderen die DORT waren!“
„Es reicht junger Mann!“, fuhr dieser ihn an, „Sie erzählen mir jetzt der Reihe nach, was diese DORT für ein Ort ist und was Sie dort erlebt haben!“ Gewissensbisse überkamen ihn. Sollte er die Beichte abbrechen und einen Arzt verständigen, der den verstörten Mann einweisen konnte. Er hörte wie der andere mit den Tränen kämpfte: „Nun beruhigen Sie sich wieder. Wenn Sie möchten, können wir auch hinüber in mein Büro gehen und dort weiterreden.“
„Nein, nein.“, antwortete der Mann, „Schon in Ordnung. Es sind die Worte. Ich kann es nicht einfach erzählen. Ich meine... ich war schon oft dabei und habe auch schon viel davon gesehen...aber...das... .“Er atmete tief durch, dann begann er :
„Es war vor vier oder fünf Tagen. Wir nahmen einen Unterschlupf hoch, in dem sich nach unseren Informationen K-Subjekte aufhielten. Alles sah nach reiner Routine aus. Wir würden reingehen, ein paar von denen über’n Haufen schießen und der Rest würde sich dann bei unserem bloßen Anblick ergeben.“
„Sie arbeiten für die Polizei?“, unterbrach ihn der Priester.
„Nein.“
„Für das Militär?“
„Auch nicht. Ich darf darüber nicht reden!“, versetzte der Mann, inzwischen wieder völlig gefasst und dienstlich neutral. „Wir drangen von allen Seiten her ein. Zwei Gruppen vom Dach. Es war ein Lagerhaus, das gerade völlig renoviert wird. Überall lag noch Baumaterial und Unrat herum. Wir gingen durch die Eingangshalle und teilten uns dort auf. Ich führte meine Gruppe zu einem Aufzug. Hansen öffnete die Außentür mit einem Notschlüssel und verkeilte sie, damit der Aufzug nicht mehr fahren konnte. Wir seilten uns durch den Schacht ab. Der Fahrkorb stand einige Stockwerke über uns, dadurch konnten wir bis ganz nach unten. Eckert und Zinz sicherten von oben. Als wir unten waren, sicherten wir und die beiden anderen seilten ab. Eckert öffnete die untere Schachttüre und wir konnten von der Schachtgrube aus den Vorraum des Aufzugs sichern. Der Kult hatte vor der Tür einen bewaffneten Posten abgestellt. Er war völlig von den Socken als er hinter der sich öffnenden Aufzugtür den leeren Schacht und unsere rotgefilterten Helmlampen sah. Als er seine Waffe hochnahm, gab ich ihm einen kurzen Feuerstoß zwischen die Augen, der ihn sofort nach hinten riss. Als wir aus dem Schacht kletterten glaubte ich, hinter uns ein schmatzendes Geräusch zu hören, ignorierte es aber.
Wir kamen durch einen kurzen Gang, an beiden Enden mit Feuerschutztüren versehen. Über den Türen leuchteten grüne Notausgangtafeln. Der Strom war offenbar abgestellt, dann das Licht funktionierte nicht. Uns war das recht. Wir erreichten die Tür am Ende des Ganges. Dahinter lag ein kleiner Raum, der als Schleuse zur Tiefgarage diente. Ich ließ Eckert vorsichtig die Tür öffnen. Wir anderen sicherten, dicht aneinandergedrängt, um alle ein möglichst großes Schussfeld zu haben. Hansen hielt die Hand bereit an einer Blendgranate.
Die Tiefgarage war sehr weitläufig. Zwischen den Säulen waren vereinzelt Fahrzeuge abgestellt. Zum Teil von den Baufirmen, zum Teil vermutlich von den Kultisten. Die Vermutung lag nahe, dass ein Teil der K-Subs bei einer oder mehreren der beteiligten Baufirmen beschäftigt gewesen ist und man sich auf diese Weise Zutritt zum Gebäude und den einzelnen Räumlichkeiten verschafft hatte.
Auf der anderen Seite der Garage, von der Einfahrtsrampe her konnten wir die Jungs von der dritten Gruppe sehen, die sich wie wir, in der Hocke mit angelegten Waffen voran bewegten. Von irgendwo in der Halle waren Stimmen zu hören. Dem Tonfall nach, konnten die Subjekte nicht sehr aufmerksam gewesen sein. Wir schlossen die Tür hinter uns und bewegten uns zwischen Fahrzeugen, Baumaterial und Unrat in Richtung der Stimmen. Zinz legte sich flach auf den Boden blickte kurz in alle Richtungen und gab mir dann mit einem Handzeichen bescheid, wie viele er erkennen konnte und in welcher Richtung sie standen. Wir gingen weiter. Nach etwa zwanzig Metern passierten wir die Gruppe. Es waren neun Personen, von denen zwei bewaffnet waren. Es schien, als kämen wir ohne Zwischenfall an ihnen vorbei. Plötzlich aber wurde einer von ihnen stutzig und ging wie alarmiert in eine bestimmte Richtung. Er musste Gruppe drei entdeckt haben. Meine Vermutung bestätigte sich, als etwas seinen Schädel durchschlug und er in einer Blutfontäne zu Boden gerissen wurde. Die anderen Personen bewegten sich erschrocken durcheinander und fingen an wild zu gestikulieren. Der zweite bewaffnete schrie etwas und es herrschte Ruhe. Er bedeutete ihnen, sich hinzulegen, was sie dann auch taten. Er selbst war sofort in Deckung gegangen und zielte in Richtung Gruppe drei. Eckert wollte schon die Waffe hochnehmen und schießen, aber ich hielt ihn auf. Erst als der Fremde seinerseits zu schießen begann, offensichtlich nachdem er die Lage realisiert hatte, eröffneten wir das Feuer. Die am Boden liegenden merkten erst nach mehreren Augenblicken, dass von zwei Seiten her auf sie geschossen wurde. Ein Mann wollte fliehen und rannte Panisch davon. Eine lautlose Salve aus Hansens schallgedämpfter Heckler und Koch riss ihn von den Füßen. Gruppe drei war inzwischen bis an die Stelle vorgedrungen, an der sich die Anhänger aufhielten und gaben Befehle, dass diese liegen bleiben sollten. Eine Frau begann panisch zu kreischen und beschimpfte die Männer in einem hysterischen Wortschwall. Plötzlich stand sie auf und ging mit bloßen Händen auf den bewaffneten Trupp los. Sie wurde förmlich in der Luft zerrissen. Ihr Blut spritzte überall herum und die anderen Personen wurden davon eingedeckt, bevor sie dann selbst im Kugelhagel starben. Nach zwei Minuten war es vorbei. Wir checkten die Waffen, luden nach und gingen weiter. Die Toten kümmerten uns nicht.
Durch weitere Feuerschutztüren und lange Gänge kamen wir in den Versorgungsteil des Gebäudes. Wir betraten einen großen Raum, in dem die Heizungsverteilung untergebracht war. Von der Tür aus führte eine Metalltreppe gut fünf Meter in die Tiefe. Im Raum war es heiß und stickig, und die Heizungsleitungen gaben ein durchdringendes Rauschen von sich. Die fünf Männer unten hatten uns nicht bemerkt. Sie unterhielten sich und rauchten. Wir schlichen die Treppe hinunter, die kleine Gruppe ständig im Visier. Wir verteilten uns zwischen den großen Heißwasserbehältern und warteten einige Minuten, während Zinz sich an den Männern vorbei bewegte, um den weiteren Weg zu erkunden. Einer der Männer schulterte sein Schnellfeuergewehr und ging auf die Treppe zu. Plötzlich öffnete sich die Tür oben an der Treppe. Ein andere kam hereingestürzt und rief seinen Kollegen atemlos zu, dass wir uns im Haus befanden. Offensichtlich hatte er die Schießerei mitangehört. Der andere, der sich auf halber Höhe der Treppe befand, wurde sofort hellhörig und lud sein Gewehr durch. Eckert reagierte und tötete mit schnellen Salven. Hinter dem Mann kam sofort ein zweiter durch die Tür, der ohne zu zögern das Feuer eröffnete. Er schoss ungezielt und gefährdete seine Kameraden mehr als uns. Diese gingen in Deckung und begannen auch wage in unsere Richtung zu schießen. Zinz war fast hinter ihnen und erledigte drei sofort. Der vierte bemerkte ihn und feuerte zurück. Mittlerweile waren
Berlin (dpa): Wie soeben bekannt wird, drangen in der Nacht zum Samstag unbekannte Terroristen in eine Großbaustelle im Regierungsviertel ein und töteten über dreißig Personen, die sich aus noch ungeklärten Gründen dort aufhielten. Von den Terroristen, die außer-gewöhnlich professionell, aber auch brutal vorgingen, fehlt bislang jede Spur. Augenzeugenberichten zufolge, waren diese in schwarze Kampfanzüge gekleidet und schwer bewaffnet. Die Polizei bittet um sachdienliche Hinweise.
oben an der Tür weitere Subjekte nachgerückt und schossen wie wild in den Raum. Überall flogen Geschosse herum. Ein Querschläger streifte meinen Helm und hätte mich um ein Haar umgeworfen. Hansen hechtete unter die Eisentreppe und schoss durch das grobe Trittgitter kurze Feuerstöße. Während er nachlud gaben Eckert und ich ihm Feuerschutz. Er erwischte fünf oder sechs von ihnen, dann wurde nicht mehr geschossen. Wir hielten kurz inne um sicherzugehen, dass nichts nachkam und wollten dann weitergehen.
Auf einmal wurden die Leichen auf dem Treppenabsatz zurück durch die Tür gezerrt. Ich vermutete, dass die Kultisten die Leichen ihrer Kameraden benutzen wollten, um Barrikaden zu errichten. Wir rückten weiter vor. Aus dem Heizraum führten zwei Türen heraus. Wir gingen rechts und links davon kurz in Stellung. Hansen spähte in eine der beiden Türen und schüttelte den Kopf. In dem kleinen Raum waren Säcke mit Salz. Ich bedeutete Eckert, die andere Tür zu öffnen. Er nickte. Wir gingen weiter. Wieder ein Gang. Diesmal mit Abzweigungen. Aus dem Heizraum drangen Schreie. Wir rannten vorwärts. Vom anderen Ende des Ganges drangen Schüsse zu uns herauf. Ein Kultist fiel in den Gang hinein. Ein weiterer kam in Sicht. Er ging rückwärts und feuerte in die Richtung aus der er kam. Dann stolperte er über seinen Kameraden. Er verlor durch den Schreck seine Waffe und wurde panisch. Als er fliehen wollte, warf ihn eine Salve zu Boden.
Dann geschah es: Der Truppführer von Gruppe drei kam in Sicht, blickte sich um und gab uns ein Zeichen. Ich erwiderte es. Er winkte seine Gruppe nach. Doch es folgte ihm niemand. Erschrocken blickte er sich um. Ich konnte nicht erkennen was geschehen war, denn die Szenerie spielte sich um die Ecke des T-förmigen Ganges ab. Entsetzt strauchelte er rückwärts. In diesem Moment begann Hansen zu schießen, der unseren Rücken gedeckt hatte. „Subjekte von sechs Uhr!“, rief er. Zinz und Eckert wirbelten herum und schossen ihrerseits. Ich warf mich auf den Boden um nach vorn zu sichern und glaubte meinen Augen nicht zu trauen: Die beiden Toten durchfuhr ein Ruck. Führer drei, der daneben stand, presste sich wie ein kleines Kind gegen die Wand. Petersen war ein erfahrener Mann. Ich hatte ihn noch nie ängstlich oder panisch erlebt.
Dann erhoben sich die Toten!“
„Wie: Sie erhoben sich?“, unterbrach der Priester den Redeschwall des Mannes.
Der Mann schluckte, dann fuhr er fort: „Es sah aus, als würden sie von etwas hochgehoben. Ich konnte es nur schwer erkennen. Das Licht war schummrig und die Entfernung betrug mehr als zwanzig Meter. Sie gingen zwar aus eigener Kraft, wirkten aber wie Marionetten. Ich wollte schießen, aber Petersen stand genau hinter ihnen. Dann griffen sie Petersen an. Ich konnte das Brechen seiner Knochen über die volle Distanz hören. Dann begann ich zu feuern, wechselte wie in Trance das Magazin, feuerte weiter. Dann drehten sie sich langsam um und wankten auf uns zu. Ihre Körper zuckten unter den Einschlägen der schweren ACP-Kugeln, aber sie bewegten sich dennoch weiter. Meine Gruppe hatte inzwischen die Situation auf der anderen Seite unter Kontrolle. Hansen bemerkte als erster, was vor sich ging. Er wirbelte herum und feuerte mit mir auf die Leichen. Ich stand auf und begann rückwärts zu gehen. Die anderen taten es mir gleich und so zogen wir uns abwechselnd schießend zurück. Ich hörte dass hinter mir jemand begann zu hyperventilieren. Es war Zinz. Er blieb stehen, drängte sich in den Vordergrund. Er hielt seine Waffe quer zur Längsachse so dass die Hülsen nach oben ausgeworfen wurden und auf ihn niederprasselten. Er schoß seine Waffe im Dauerfeuer leer und drückte immer noch ab, als längst nichts mehr drin war. Hansen packte ihn an der Schulter und brüllte auf ihn ein, aber Zinz reagierte nicht. Stattdessen fingerte Zinz das Magazin aus der MP und warf es zu Seite. Fieberhaft suchte er nach einem anderen. Wie wahnsinnig begann er zu brabbeln. Sie kamen immer näher. Hansen schüttelte ihn. Ich nahm alles wie in Zeitlupe wahr. Eckert packte mich von hinten am Arm und zog mich fort. Zinz riss sein Kampfmesser aus dem Gürtel, stieß Hansen grob zur Seite und rannte mit einem Schrei auf die Leichen zu, die keine fünf Meter mehr von uns entfernt waren. Fassungslos sah ich alles mit an. Wie vom Wahnsinn getrieben hechtete Zinz auf die scheinbar leblosen Körper zu und stach mit dem Messer auf einen der beiden ein. Er traf ihn tief an der Schulter. Das Messer blieb stecken. Instinktiv versuchte er es wieder frei zu bekommen um nochmals zuzustechen. In diesem Moment weiteten sich Mund und Augen seines Gegners und Tentakel aus einer schwarzen Masse schossen heraus und bohrten sich blitzschnell bei Zinz in ebendiese Körperöffnungen. Mit einem Ruck, der von übermenschlichen Kräften zeugte, wurde er an die Leiche herangezogen. Für einen kurzen Augenblick erschlaffte sein Körper. Dann straffte er sich und zog das Messer heraus, dessen Griff er immer noch umklammert hielt! Dann riss er die Arme hoch und vollführte eine Bewegung, die jeglicher Anatomie spottete: Er nahm die Arme nach hinten und streckte sie uns entgegen. Wir konnten deutlich hören, wie Sehnen und Gelenkkapsel nachgaben und barsten. So kam er dann rückwärts auf uns zu, in einer obszönen Umarmung mit einer Leiche. Wir konnten erkennen, wie sich überall an seinem Körper Risse bildeten, aus denen die schwarze Masse hervorquoll und sich räkelte. Hansen erwachte als erster aus dem Schockzustand. Er riss mich nach hinten und zerrte mich fort. Dann reagierte auch Eckert. Wir rannten den Gang entlang zurück, sprangen über die toten Kultisten und kamen wieder in den Heizraum. Hansen schloss die Tür hinter uns und wollte sie zuhalten. Wir verschnauften für ein paar Sekunden. Hansen wollte gerade weiter, als unter der Tür etwas schwarzes durchschoss und blitzschnell an seinem Körper empor schlängelte. Es drückte ihn mit Gewalt gegen die Tür, an der er noch angelehnt war. Als die Masse sein Becken erreichte, funkelte einen Moment lang abgrundtiefes Entsetzen aus seinen Augen. Dann kam Erbrochenes aus seinem Mund gesprudelt, gefolgt von Blut, das ihm gleichzeitig aus Nase und Ohren spritzte. Eckert begann zu schreien und rannte die Treppe hoch. Ich folgte ihm. Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, dass die schwarzen Tentakel durch den ganzen Raum schossen und alles umgaben, was sich dort befand. Ich sah kurz zurück und hatte eine Art Vision: Vom Absatz der Treppe aus blickte ich nicht länger in den Heizungsraum unter uns, sondern in eine fremde Welt. Die schwarze Masse hatte ihre eigene Realität mit gebracht. Überall waren Leichen, die sich in einer seltsamen Parodie des Lebens bewegten, fast wie ein Kadaver, der unter dem Gewicht der Maden zuckte und waberte, und doch aus einem gewissen Eigenantrieb heraus. Sie gingen über Berge und durch Täler schwarzer, sich windender Masse, schwammen durch Flüsse und Seen gefüllt mit einer zähen, purpurnen Flüssigkeit. Eigenartige Gebilde flogen über den Himmel, an dem grünschwarze Wolken mit Atemberaubender Geschwindigkeit ihre Bahn zogen. Und dahinter waren die Schreie der verlorenen und verdammten zu hören, die sich in ihrem verzweifelten Kampf gegen die Realität in ihrer Zwischenwelt wanden. Da wusste ich dass es die Erde war, die ich sah. Die Erde in ihrer wahren Form, die der Mensch nicht wahrnimmt, die er mit seiner Scheinwelt überlagert hat um dem Chaos zu entgehen und in der er in seinen Scheinkörpern lebt und stirbt.
Nach einer Ewigkeit bemerkte ich, dass ich fortgezogen wurde. Eckert war immer noch bei mir. Wir rannten durch die Tiefgarage, während ich ihm atemlos berichtete, was ich gerade gesehen hatte. Er drehte sich um und schlug mir die Faust ins Gesicht.
Gestern wachte ich in der Klinik auf. Nachdem ich begriffen hatte, machte ich mich auf die Suche nach Eckert. Ich fand ihn in einem anderen Bereich der Intensivstation. Die Nacht saß ich bei ihm. Als es hell wurde, hörten die Apparate auf zu arbeiten. Dann verließ ich das Krankenhaus und kam hierher.“
„Das ist eine interessante Geschichte.“, ließ der Priester verlauten, und nickte den Polizisten und den beiden Sanitätern zu, die sich unmittelbar vor dem Beichtstuhl postiert hatten. Ein Kirchenbesucher hatte sie gerufen, während er den panischen Ausführungen des Mannes gelauscht hatte, die man in der halben Kirche hören konnte.
„Ich weiß, dass Sie mir nicht glauben.“, erklärte der Mann, „Das brauchen Sie auch gar nicht, Sie werden es ja bald selbst verstehen. Aber haben Sie vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben. Ich werde jetzt gehen, Ich habe nämlich noch viel zu erledigen.“
Daraufhin stand der Mann auf und verließ den Beichtstuhl um seiner neuen Aufgabe nach zu gehen. Eine Aufgabe, die noch viel besser war, als der Dienst bei Delta Green und er würde bei all den Leuten anfangen, die sich hier in der Kirche versammelt hatten: Die Sanitäter, die Polizisten, die anderen Beichtgäste, dem Messdiener, der gerade pflichtbewusst Kerzen anzündete, den Handwerkern, die gerade auf dem Gerüst Risse in den Stuckdecken nachbesserten, der alten Frau, die mit ihren Einkaufstüten in einer Bank Platz genommen hatte, um eine kurze Andacht zu halten, die Touristengruppe, die ihrem Führer lauschte...
Welch ein herrlicher Ort um einen Neuanfang zu machen.