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Beichtstuhl
Wir schreiben den 22.05.2004.
Alan Parker, der Priester der Raddock City Kirche, saß in der Priesterkabine des Beichtstuhls. Er hatte seine Vesperdose auf dem Schoß und biss genüsslich in sein Wurstkäsebrot, das ihm seine Frau zuvor gemacht hatte. Er hörte wie jemand die Tür zur Kabine nebenan öffnete und schluckte schnell den zerkauten Rest hinunter. Durch das Kabinen trennende Gitter konnte er jemanden atmen hören, fast schon hecheln wie einen Hund.
„Guten Morgen, mein Sohn“, sagte Alan mit freundlicher Stimme. Sein Gesichtsausdruck blieb ernst, während er an den Braten seiner Frau dachte, den sie ihm heute Abend servieren würde.
„Guten Morgen, Vater“, antwortete eine männliche Stimme, die ihm fürchterlich bekannt vorkam, aber er konnte sie nicht zuordnen. Er hasste es, wenn er die Leute, die sündigten, nicht kannte. „Ich möchte Buße tun, ich bitte um Erleichterung.“
„Sprich“, entgegnete er mit ernster, aber immer noch freundlicher Stimme.
„Ich habe gesündigt“, sprach der unbekannte Mann. „Ich habe meinem Sohn eine Ohrfeige gegeben.“ Pause. Nichts mehr.
„Dann sprich zwei Vater Unser und alles hat wieder seine Ordnung, wenn du nur dein Gewissen erleichtern und mit Gott im Einklang sein willst.“
„Ich war noch nicht fertig.“ Die Stimme des Kerls nebenan schien ein wenig zu zittern. „Ich habe meinem Sohn eine Ohrfeige gegeben und … Sie war zu hart. Das Knacken habe ich immer noch in meinen Ohren, wie ein Piepsen, das man nicht loswerden kann. Knack! Zu hart.“
„Wie geht es deinem Sohn?“, fragte Alan ein wenig schockiert.
„Nicht gut.“
„Was heißt, nicht gut?“
„Gar nicht gut. Überhaupt nicht, um ehrlich zu sein. Ihm geht es gar nicht mehr.“
Jetzt war Alan schockiert. Noch nie hatte ein Mörder bei ihm gebeichtet. Soviel er wusste, auch nicht bei seinen Kollegen.
Vergiss den Braten, Junge, heute wirst du nichts mehr essen, dachte er und strich sich mit Zeige- und Mittelfinger über die Lippen.
„Wie kann ich mein Gewissen erleichtern?“, fragte der Mann und Alan fühlte sich plötzlich unbehaglich in dieser engen Kabine, als wäre er in einer Box eingesperrt wie ein Hund.
„Ich weiß es nicht, aber du kannst fünf Glaubensbekenntnisse, drei Vater Unser und zehnmal die Zehn Gebote aufsagen, dann bist du mit Gott fast wieder im Reinen, aber für dein Gewissen kann ich dir keine hilfreiche Medizin geben.“
Sonntags Gottesdienst, montags und donnerstags Beichte, wieso musste dieser Typ ausgerechnet an einem Donnerstag beichten?
„Aber ich muss mein schlechtes Gewissen loswerden!“, gab der unbekannte Mann aufbrausend zurück.
„Ich weiß aber nicht wie.“ Alan blieb ruhig.
„Ich bin noch nicht fertig mit meiner Geschichte“, sagte der Sündiger. „Mein Sohn. Mein Sohn wurde im Februar geboren, am vierundzwanzigsten. Das war ein Donnerstag. Der Tag war schön, genauso wie heute. Am zweiundzwanzigsten zeugten ich und meine Frau ihn. Heute ist auch der zweiundzwanzigste. Wir taten es am Morgen.“
Hey, Sündenboy, ich hab’s heut Morgen auch mit meinem Liebling gemacht, dachte Alan und musste fast lächeln, aber in so einer Situation war es leicht, es sich zu verkneifen.
„Schon mal was von Überschneidung gehört?“, fragte der Mann in einer sachlichen Tonlage.
„Natürlich.“
„Heute ist so ein Tag der Überschneidung. Dein Sohn ist mein Sohn. Deine Frau ist meine Frau. Geht dir ein Licht auf?“
„’tschuldigung, ich verstehe nicht ganz.“
„Du hast deinen Sohn umgebracht. Du wirst. Am achtzehnten November zweitausendzwölf wird dich der kleine Jeremy so wütend machen, dass du ausholst und ihm eine zu harte Ohrfeige verpasst. Es wird knacken und er wird sterben. Und du wirst ein schlechtes Gewissen haben. Deine Frau wird von Schuldgefühlen zerfressen sein und sich in den Tod stürzen. Somit kann ich sogar zwei Leben retten. Dann wirst du versuchen eine Möglichkeit zu finden, es wieder gut zu machen, aber es gibt keine. Durch Zufall kannst du in die Vergangenheit reisen. Ich bin du, Alan. Ich bin sozusagen die Rettung aller. Du entkommst der sicheren Einfahrt in die Hölle, deine Frau und dein Sohn werden Leben und mein Gewissen wäre erleichtert.“
„Was reden Sie da?“ Alan hatte in die Sie-Form gewechselt. „Wollen Sie mir etwas anhaben?“
„Wenn ich dich töte, töte ich mich auch, aber das ist ein kleiner Preis dafür, dass ein Junge leben darf.“
Der Mann, der sich als Alans Klon ausgab, öffnete seine Kabinentür und riss die Priesterkabine auf. Licht blendete Alan. Er konnte nichts erkennen. Doch dann…
Es war als hätte jemand einen lebensgroßen Spiegel vor seine Füße gestellt. Er sah sich selbst, aber älter. Ein, zwei Haare waren inzwischen grau geworden. Dieser Mann trug Jeans, Stiefel und ein blutverschmiertes, kariertes Hemd.
„Hilf mir“, sagte der Typ und nahm Alans Kopf zwischen beide Hände. „Hilf mir.“ Alan spürte den Druck auf seine Schläfen.
Mit einer ruckartigen Bewegung brach Alan dem anderen Alan das Genick, so wie seinem Sohn.
Der Mann löste sich in winzige, schwarze Wölkchen auf, verpuffte wie Silberstaub wenn man draufpustet. Alans toter Körper sackte zusammen und blieb regungslos liegen.
Seine Augen starrten geradeaus.
Die letzte Wahrnehmung des Verstehens und der Faszination sprach aus diesem Blick.