- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Beim ersten Tauchgang
Das Wellenbecken war voller Kinder, die ausgelassen im Wasser tobten. Sie stand an den Treppen und beobachtete für eine Weile wie die kleinen Körper gegen die Wellen kämpften, herum sprangen und sich im Flachen einfach von der Kraft des Wassers treiben ließen.
Etwas in ihr zögerte und wäre am Liebsten am Rande stehen geblieben. Langsam wurde ihr jedoch kalt und der nasse Badeanzug verursachte am ganzen Leib eine Gänsehaut, die ihr die Haare zu Berge stehen ließ. Aber anders als die anderen Kinder war sie aus einem ganz bestimmten Grund hierher gekommen und dieser bestand nicht daraus nur im Wasser herumzutoben. Nein, ihr Ziel befand sich einige Meter geradeaus im Tiefen und sie würde nicht kneifen!
Sie lief los und mit jedem Schritt stieg das Wasser höher, bis sie sich nach ein paar Metern bereits gegen die Wellen aufbäumen musste, um nicht zurück geworfen zu werden.
Wie weit will sie heute hinaus? Wieder bis zum Beckenende? Dort wo der Grund gefühlte 10 Meter tief von der Oberfläche entfernt ist und die Wellen am höchsten sind?
Doch selbst wenn sie bis dorthin schwimmt, am Ziel angekommen, werden ihr ganz andere Dinge durch den Kopf gehen als diese künstlich erzeugten Wellenbewegungen.
Die Wenigsten wagen sich bei Wellengang bis zum Beckenende vor, denn hier ist die Wand zwei Meter hoch und den einzigen festen Halt versprechen die Seiten des Beckens. Es ist auch der sicherste Weg zurück in das flache Wasser.
Und die Wenigsten wissen, dass das Becken nicht etwa mit einer gefliesten Wand unter der Wasseroberfläche endet, sondern, dass sich dort eine Art unterirdisches Schwimmbecken befindet!
Dort ist es dunkler, denn kein strahlend helles Blau erleuchtet den Bereich, sondern ein stumpfes grau verleiht ihm einen düsteren Charakter. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die dicken eisernen Gitterstäbe, welche diese beiden Welten voneinander trennen.
All diese Fakten gehen dem Mädchen durch den Kopf, während es immer weiter hinaus gelangt und die anderen Kinder hinter sich lässt. Den Blick starr auf das Ziel gerichtet, spürt sie zunehmend die Tiefe unter ihrem Bauch (es lässt sich anscheinend auch nicht vermeiden, hin und wieder Chlorwasser zu schlucken). Je näher sie der Wand kommt, umso schneller schlägt ihr Herz. Ein paar letzte Züge und sie erreicht schwer atmend die Ecke der Wand, an der sie sich eine kurze Pause gönnt.
Die Wellen schlagen unentwegt gegen ihr Gesicht und mittlerweile beginnen ihre Augen vom Chlor zu brennen. Der Moment ist gekommen – jetzt macht sie mit Sicherheit keinen Rückzieher! Sie setzt die Taucherbrille auf, atmet ein Mal tief ein, hält die Luft an und verschwindet unter die Oberfläche.
Niemand hat sie bemerkt.
Noch lässt sie die Augen geschlossen.
Hier unten gibt es kein Kindergeschrei; sie genießt die Ruhe und das Gefühl der Schwerelosigkeit. Mit beiden Händen hält sie sich nun am Gitter fest und wagt es, ihre Augen zu öffnen. Vor ihr befindet sich der große dunkle Raum. Sie erschreckt kurz, fasst sich jedoch sofort wieder und beobachtet den großen grauen Körper, der an ihr vorbeigleitet.
Er ist angsteinflößend und doch wunderschön zugleich. Er ist ein Räuber der Meere; jeder Zeit bereit zu töten. Mittlerweile schlägt ihr das Herz bis zum Hals, aber die Faszination für dieses Geschöpf siegt über der Angst. Sekundenlang verharrt sie reglos, den Blick fest auf das Tier gerichtet, ohne mit der Wimper zu zucken. Trotz des bunten Badeanzuges, den sie trägt, scheint der Hai keinerlei Interesse zu hegen. Träge schwimmt er von der einen Seite des Beckens zur Anderen. Scheinbar verdammt für alle Zeit hier unten zu leben, ohne eine Aussicht auf Befreiung. Am Liebsten würde sie die Gitterstäbe aus den Fliesen reißen, damit ihr Gefährte mehr Platz zum Schwimmen hat!
An diesem Punkt merkt das Mädchen, dass sie die Luft nicht länger anhalten kann und zurück an die Oberfläche muss. Sie versucht so lange wie möglich unter Wasser zu bleiben, denn sie weiß, sie hat nur einen Versuch. Aus welchem Grund auch immer hat sich der Hai bis jetzt nur bei ihrem ersten Tauchgang gezeigt. Sollte sie jetzt Luft holen und anschließend wieder abtauchen, würde das Becken leer sein. Und so verabschiedet sich das Mädchen in Gedanken von ihrem geheimen Freund, lächelt und schwimmt der Oberfläche entgegen.