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Beim Lunch mit Bulimie

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20.11.2006
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Beim Lunch mit Bulimie

„Möchte noch jemand Wein?“
Thomas blickte auffordernd in die Runde, die Karaffe mit dem tiefroten Bordeaux schon in der Hand.
Ich schluckte hastig die heiße Lasagne in meinem Mund herunter und schob mein Glas zu ihm rüber. „Ja gern, ich nehm’ noch einen Schluck.“
Mein Freund Michael grinste breit in die Runde, kaute mit großen Kaubewegungen auf seinem Steak well done und legte besitzanzeigend einen Arm um mich. „Wisst ihr“, begann er mit vollem Mund „das liebe ich so an ihr. Dass man mit ihr auch schon mittags mal Alkohol trinken kann.“
Thomas und seine Freundin Jessica lachten.
Ich sagte gar nichts, grinste nur etwas verlegen, streifte Michaels Arm von meiner Schulter und nippte an meinem Wein.
„Seit wann bist du denn jetzt in New York?“ wollte Jessica wissen, während sie ihre Spaghetti in Pesto mit Pinienkernen langsam auf eine Gabel drehte.
Spaghetti sind kein gutes Gericht für mich. Hängen immer im Hals fest, wenn man sie später wieder rauswürgen möchte. Verursachen bei mir Hustenreiz und ein unangenehmes Würgegefühl. Wenn ich Spaghetti esse, dann zerschneide ich sie immer in kleine Streifen. Dann lassen sie sich leichter wieder erbrechen.
Jessica wickelte ihre Spaghetti auf die Gabel und sah mich neugierig an.
„Seit zwei Monaten“, antwortete ich und leerte mein Glas Wasser in einem Zug. Das leere Glas schob ich als stumme Aufforderung zu Michael herüber.
„Und was gefällt dir am besten?“ fragte Jessica weiter. Die Gabel mit den aufgewickelten Spaghettis verschwand in ihrem Mund.
Noch bevor ich antworten konnte, fiel Michael mir schon ins Wort: „Definitiv der free Refill!“ Und er winkte mit meinem leeren Glas der Kellnerin zu. „Das ist für Tine das größte, oder, Schatz?“
„Ehrlich?“ Jessica war sichtlich erstaunt. „Ich merke das schon gar nicht mehr. Ich trinke sowieso nie so viel.“
Ich trinke beim Essen immer viel. Das Essen muss durch die Flüssigkeit gut verdünnt werden, dann kommt es hinterher leichter wieder raus und man erspart sich das aufgequollene Gesicht vom angestrengten Würgen.
Schon hatte ich ein neues Wasser vor mir stehen. „Ja, das find ich schon toll.“ Wieder etwas verlegen nahm ich zur Abwechslung einen Schluck Wein.
„Und die langen Öffnungszeiten, richtig?“ Thomas wischte sich mit seiner Serviette den Mund ab und lehnte sich zufrieden lächelnd in seinem Stuhl zurück. „Das war für mich der größte Luxus, als ich vor einem Jahr aus Deutschland hier her kam. Einkaufen rund um die Uhr, ein Traum!“
Da hatte er bei mir voll ins Schwarze getroffen. „Die Supermärkte sind unglaublich! Ich könnte Stunden allein bei den Backwaren verbringen.“
Weiche Backwaren sind das allerbeste an New York, man muss nur dran denken, dazu viel zu trinken. Sonst bildet sich schnell ein dicker Teigkloß im Magen, der extrem widerspenstig sein kann. Doch bisher hatte ich noch alles wieder aus mir raus bekommen.
„Hör bloß auf, ich guck das Zeug schon gar nicht mehr an“, stöhnte Jessica. „Ich hab in meinem ersten halben Jahr hier fünf Kilo zugenommen.“ Sprach das dünne Etwas und legte mit einem Mann-bin-ich-voll-Seufzer die Gabel beiseite. Sie hatte knapp ein Drittel ihres Gerichtes gegessen.
„Damit hat Tine ja keine Probleme.“ Michael schien heute in sehr gesprächiger Laune zu sein. „Die kann essen wie ein ganzer Kerl und nimmt kein Gramm zu.“
Das sollte ich dann wohl als Kompliment aufnehmen. Ich lächelte tapfer und blickte auf meinen blitze blank leer gegessenen Teller. „Ja, stimmt.“
„Beneidenswert“, murmelte Jessica und kramte in ihrer Handtasche. „Darf man hier eigentlich irgendwo eine rauchen?“
„Ja“, ich deutete an dem Tresen vorbei in ein weiteres Zimmer, „dort drüben haben die ein Raucherzimmer.“
„Kennst dich ja gut aus hier.“
„Tine liebt diesen Laden“, schwatzte Michael weiter. „Von allen Restaurants kommt sie am liebsten hier her.“
„Wirklich?“ Etwas erstaunt blickte Thomas sich noch mal um. „Wie kommt’s? So umwerfend ist das Essen hier doch auch nicht.“
Nein, aber hier sind die Toilettenkabinen bis auf den Boden verschlossen, so dass man von seinem Toilettennachbar nicht allzu viel mitbekommen kann, dachte ich leise. Laut antwortete ich: „Aber günstig ist es.“
Ich erntete keine Zustimmung.
Jessica hatte sich von ihrem Stuhl erhoben, die Zigarette bereits im Mundwinkel, und zupfte ihr Designerkostüm in Form. „Will einer von euch mitkommen, eine rauchen? Tine?“
„Nein“, entgegnete ich, stand aber ebenfalls auf. „Ich geh nur kurz zur Toilette.“
„Du mit deiner Konfirmandenblase“, stöhnte Michael.
Ich lachte und küsste ihn auf den Kopf. „Ja, ich weiß.“
Und ich wandte mich ab und ging den Weg, den ich in New York wohl am besten kannte.

 
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Hallo Bradshaw und herzlich Willkommen auf kg.de :),

eine klassische Kurzgeschichte hast du hier serviert. Ohne viel Garnierung hast du dich auf eine Situation konzentriert, die beschrieben und den Leser, jedenfalls mich, befriedigt zurückgelassen, auch wenn ich nicht weiß, wieso die Prot Bulimie hat. Ich hätte aber, wenn ich mich nicht schon etwas intensiver mit der Thematik auseinandergesetzt hätte, schon noch ein paar Ahas mitnehmen können. Diese, wenn ich wach durch die Welt gehe, auch dazu führen können, den oder die eine oder andere Kranke eher zu erkennen.

Da fällt mir auf, dass ich sehr viel Wasser während dem Essen trinke und oft aufs WC gehe.
Aber dann hören die Indizien auch schon auf... :D

Gute Geschichte, auf den Punkt gebracht - und ich habe - zwar mehr auf den Inhalt achtend - keinen formalen Fehler gefunden.
Das I-Tüpfle fehlt für mich noch: Die Prot wirkt zu abgeklärt. Wären da noch ein paar (An)sätze von ihrem Inneren zu lesen, würde die KG noch gelungener werden.

Lieber Gruß
bernadette

Edit: Der Titel finde ich zu eindeutig. Du bist so eindeutig in deiner Sprache, dass man es auch ohne Titel mitbekommt. Für mich als Leser würdest du aber doch noch etwas diplomatische Denkarbeit lassen, wenn der Titel etwas unverfänglicher wäre

 

Hallo Bradshaw,

Bulimie ist ein schweres Thema, weil es aus der Distanz schwer zu überblicken, aus der Innensicht schwer zu beschreiben ist.

Bei Deiner Geschichte reduzierst Du Bulimie auf pragmatische Betrachtungen, eine mutige Reduktion, zumal Du die komplexen Innenwelten der Prot ebenfalls auf rationale Betrachtungen der Erbrechbarkeit von Lebensmittelkonsistenzen verkürzt. Das sie in ihrer Beziehung zu Michael in den Hintergrund tritt und gedrängt wird, ebenso scheinbar in der Wahrnehmung ihrer Freunde, ist recht dünn, um Mitgefühl beim Leser zu erzeugen. Zu dünn, weil Du ihre Reaktion nicht darstellst, ihre Gedanken. Sie ist völlig passiv, und da sie sonst nicht präsent ist, wirkt sie leider sehr zweidimensional. Farblos, konturlos, austauschbar.

Spaghetti sind kein gutes Gericht für mich. Hängen immer im Hals fest, wenn man sie später wieder rauswürgen möchte . Verursachen bei mir Hustenreiz und ein unangenehmes Würgegefühl. Wenn ich Spaghetti esse, dann zerschneide ich sie immer in kleine Streifen. Dann lassen sie sich leichter wieder erbrechen .
Ich würde da streichen, weil Du bereits im Titel alles verrätst, und durch das Weglassen wird der Sinn, die Situation präsenter.

dachte ich leise
Man denkt bisweilen laut, da dieses die Ausnahme ist, denken ist normalerweise leise :)

Und am Anfang wird Bordeaux ausgeteilt, danach trinkt sie Wasser.

Du hast gute handwerkliche Ansätze, doch in dieser Geschichte fehlt mir - dem schweren Thema Tribut zollend - die Tiefe.

Grüße,
C. Seltsem

 

Ich würde da streichen, weil Du bereits im Titel alles verrätst, und durch das Weglassen wird der Sinn, die Situation präsenter.
Das finde ich jetzt interessant: Ich tendiere zum Titelwechsel, weil die Geschichte eindeutig ist, du würdest die Geschichte ändern, weil der Titel eindeutig ist.

 

Ich tendiere zum Titelwechsel, weil die Geschichte eindeutig ist, du würdest die Geschichte ändern, weil der Titel eindeutig ist.
Im Zweifel würde ich mich für beides aussprechen. Der Titel ist zweifelsfrei, und die von mir angesprochenen Explizismen ebenso, überdeutlich.

 

C. Seltsem schrieb:
Im Zweifel würde ich mich für beides aussprechen. Der Titel ist zweifelsfrei, und die von mir angesprochenen Explizismen ebenso, überdeutlich.
Du hast Recht.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Bradshaw,

Bulimie scheint ja echt ein Modethema zu sein heute ... nach einem Negativbeispiel hat mich deine Geschichte positiv überrascht.

Gut finde ich die sarkastische Beiläufigkeit mit welcher du das Thema angehst. Keine plakative Verurteilung, kein Selbstmitleid, dafür die trockenen Fakten.

Hat mit gut gefallen, nichts zu bemeckern. Seltsem hat das Thema fehlende Tiefe angesprochen. Hmm. Gibt es soetwas, wenn das Thema Sucht angesprochen wird? Also für meinen Geschmack ist es schon Tiefe, behutsam in eine derartige Welt geführt zu werden. Dafür nehme ich auch den ausschließlichen Smalltalk bei Tisch in Kauf.

LG,

N

 

Hallo an euch alle,

wow, ich bin freudig überrascht, dass sich so viele mit diesem Text beschäftigt haben!
Nun meine Antworten an euch:

@bernadette: Zum Titel: ich seh das selber genauso, wie du. Generell tu ich mich mit dem Titel immer sehr schwer, halte mich dabei auch eher zurück. Bin aber hier schon häufiger darauf angesprochen worden, dass meine Titel zu nichtssagend wären. Hab deshalb diesen Titel überdeutlich gemacht (zugegeben: ich wollte euch damit auch zum Lesen anregen, was ja geklappt hat :-))
Ich werde mir noch ein paar Details überlegen, um ihr Inneres etwas deutlicher zu machen.
Danke für dein Feedback!

@ C. Seltsem: Vielen Dank für deine hilfreichen Hinweise. Ich würde eher dahin tendieren, die Überschrift deutlich zurück haltender zu wählen, die benannten Stellen

Zitat:
Spaghetti sind kein gutes Gericht für mich. Hängen immer im Hals fest, wenn man sie später wieder rauswürgen möchte . Verursachen bei mir Hustenreiz und ein unangenehmes Würgegefühl. Wenn ich Spaghetti esse, dann zerschneide ich sie immer in kleine Streifen. Dann lassen sie sich leichter wieder erbrechen .
Ich würde da streichen, weil Du bereits im Titel alles verrätst, und durch das Weglassen wird der Sinn, die Situation präsenter.
würde ich aber so lassen wollen. Ich habe bewusst hin und wieder diese drastische und überdeutliche Wortwahl eingebaut, da ansonsten die Gesamtsituation sehr zurückhaltend ist.

Zur angesprochenen mangelnden Tiefe: Das sehe ich ähnlich wie Nicole Berg: meines Erachtens nach ist die Tiefe allein dadurch gegeben, dass sehr nüchtern, rationalisiert und abgeklärt Einblicke in ihr Denken und Handeln gegeben werden, die sich einem Außenstehenden so wahrscheinlich nie erschließen würden.

@ Lea Victoria: Klasse, du hast für mich genau auf den Punkt gebracht, was ich damit erreichen wollte. Bulimikern wird immer dieses ständige Gehader mit ihrem Gewissen nachgesagt - das ist aber in vielen Fällen (besonders bei denen, die über lange Zeit an dieser Krankheit leiden und sich damit abgefunden haben, also z.B. keine Therapie deswegen besuchen) bei weitem nicht so! Das wollte ich hiermit verdeutlichen.

weil sie in gewisser Weise in ihrer Krankheit funktioniert.
Super, besser hätte ich es nicht sagen können :-)

Danke für euer Feedback und eure Kritik!

 

Hallo Bradshaw

Bulimikern wird immer dieses ständige Gehader mit ihrem Gewissen nachgesagt - das ist aber in vielen Fällen (besonders bei denen, die über lange Zeit an dieser Krankheit leiden und sich damit abgefunden haben, also z.B. keine Therapie deswegen besuchen) bei weitem nicht so! Das wollte ich hiermit verdeutlichen.

Na ja, eine mutige These. Und wahrscheinlich auch nur zutreffend für den Einzelfall, der hier erzählt wird.
Spaghetti sind kein gutes Gericht für mich. Hängen immer im Hals fest, wenn man sie später wieder rauswürgen möchte . Verursachen bei mir Hustenreiz und ein unangenehmes Würgegefühl. Wenn ich Spaghetti esse, dann zerschneide ich sie immer in kleine Streifen. Dann lassen sie sich leichter wieder erbrechen .
Genauso ist es sicherlich auch individuell, wie man kotzt und was man macht , um besser kotzen zu können.
Wenn die Protagonistin z.B ihr Essen nicht herunterschlingt, (bei einer Fressatacke) sondern manierlich kaut, (im Restaurant) braucht sie auch meines Erachtens nach nichts kleinschneiden. ;)
Zur angesprochenen mangelnden Tiefe: Das sehe ich ähnlich wie Nicole Berg: meines Erachtens nach ist die Tiefe allein dadurch gegeben, dass sehr nüchtern, rationalisiert und abgeklärt Einblicke in ihr Denken und Handeln gegeben werden, die sich einem Außenstehenden so wahrscheinlich nie erschließen würden
.
Diese Protagonistin ist distanziert und nüchtern beschrieben, aber nicht weil sie es ist, sondern, weil das andere nicht erzählt wird.
Inhaltlich hat mich die Geschichte nicht überzeugen können. Es fehlt ihr an Tiefe. Aber das wurde schon moniert.
Sprachlich habe ich nichts zu meckern.

LG
Goldene Dame

 

hallo bradshaw,

ich denke an diesem thema scheiden sich einfach die geister ;).
Im großen und ganzen fand ich diese szene gut erzählt, ich bin regelrecht in sie eingetaucht. einige dinge hast du sehr gut geschildert, so das ich davon ausgehe, das du erfahrung mit der bulimie hast, in welcher weise auch immer.

Allerdings ist es doch auch so das viele bulimiker schon sehr mit ihrem gewissen belastet sind.
Der Titel stört mich nicht im geringsten.

lg

toxin

 

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