Beim Lunch mit Bulimie
„Möchte noch jemand Wein?“
Thomas blickte auffordernd in die Runde, die Karaffe mit dem tiefroten Bordeaux schon in der Hand.
Ich schluckte hastig die heiße Lasagne in meinem Mund herunter und schob mein Glas zu ihm rüber. „Ja gern, ich nehm’ noch einen Schluck.“
Mein Freund Michael grinste breit in die Runde, kaute mit großen Kaubewegungen auf seinem Steak well done und legte besitzanzeigend einen Arm um mich. „Wisst ihr“, begann er mit vollem Mund „das liebe ich so an ihr. Dass man mit ihr auch schon mittags mal Alkohol trinken kann.“
Thomas und seine Freundin Jessica lachten.
Ich sagte gar nichts, grinste nur etwas verlegen, streifte Michaels Arm von meiner Schulter und nippte an meinem Wein.
„Seit wann bist du denn jetzt in New York?“ wollte Jessica wissen, während sie ihre Spaghetti in Pesto mit Pinienkernen langsam auf eine Gabel drehte.
Spaghetti sind kein gutes Gericht für mich. Hängen immer im Hals fest, wenn man sie später wieder rauswürgen möchte. Verursachen bei mir Hustenreiz und ein unangenehmes Würgegefühl. Wenn ich Spaghetti esse, dann zerschneide ich sie immer in kleine Streifen. Dann lassen sie sich leichter wieder erbrechen.
Jessica wickelte ihre Spaghetti auf die Gabel und sah mich neugierig an.
„Seit zwei Monaten“, antwortete ich und leerte mein Glas Wasser in einem Zug. Das leere Glas schob ich als stumme Aufforderung zu Michael herüber.
„Und was gefällt dir am besten?“ fragte Jessica weiter. Die Gabel mit den aufgewickelten Spaghettis verschwand in ihrem Mund.
Noch bevor ich antworten konnte, fiel Michael mir schon ins Wort: „Definitiv der free Refill!“ Und er winkte mit meinem leeren Glas der Kellnerin zu. „Das ist für Tine das größte, oder, Schatz?“
„Ehrlich?“ Jessica war sichtlich erstaunt. „Ich merke das schon gar nicht mehr. Ich trinke sowieso nie so viel.“
Ich trinke beim Essen immer viel. Das Essen muss durch die Flüssigkeit gut verdünnt werden, dann kommt es hinterher leichter wieder raus und man erspart sich das aufgequollene Gesicht vom angestrengten Würgen.
Schon hatte ich ein neues Wasser vor mir stehen. „Ja, das find ich schon toll.“ Wieder etwas verlegen nahm ich zur Abwechslung einen Schluck Wein.
„Und die langen Öffnungszeiten, richtig?“ Thomas wischte sich mit seiner Serviette den Mund ab und lehnte sich zufrieden lächelnd in seinem Stuhl zurück. „Das war für mich der größte Luxus, als ich vor einem Jahr aus Deutschland hier her kam. Einkaufen rund um die Uhr, ein Traum!“
Da hatte er bei mir voll ins Schwarze getroffen. „Die Supermärkte sind unglaublich! Ich könnte Stunden allein bei den Backwaren verbringen.“
Weiche Backwaren sind das allerbeste an New York, man muss nur dran denken, dazu viel zu trinken. Sonst bildet sich schnell ein dicker Teigkloß im Magen, der extrem widerspenstig sein kann. Doch bisher hatte ich noch alles wieder aus mir raus bekommen.
„Hör bloß auf, ich guck das Zeug schon gar nicht mehr an“, stöhnte Jessica. „Ich hab in meinem ersten halben Jahr hier fünf Kilo zugenommen.“ Sprach das dünne Etwas und legte mit einem Mann-bin-ich-voll-Seufzer die Gabel beiseite. Sie hatte knapp ein Drittel ihres Gerichtes gegessen.
„Damit hat Tine ja keine Probleme.“ Michael schien heute in sehr gesprächiger Laune zu sein. „Die kann essen wie ein ganzer Kerl und nimmt kein Gramm zu.“
Das sollte ich dann wohl als Kompliment aufnehmen. Ich lächelte tapfer und blickte auf meinen blitze blank leer gegessenen Teller. „Ja, stimmt.“
„Beneidenswert“, murmelte Jessica und kramte in ihrer Handtasche. „Darf man hier eigentlich irgendwo eine rauchen?“
„Ja“, ich deutete an dem Tresen vorbei in ein weiteres Zimmer, „dort drüben haben die ein Raucherzimmer.“
„Kennst dich ja gut aus hier.“
„Tine liebt diesen Laden“, schwatzte Michael weiter. „Von allen Restaurants kommt sie am liebsten hier her.“
„Wirklich?“ Etwas erstaunt blickte Thomas sich noch mal um. „Wie kommt’s? So umwerfend ist das Essen hier doch auch nicht.“
Nein, aber hier sind die Toilettenkabinen bis auf den Boden verschlossen, so dass man von seinem Toilettennachbar nicht allzu viel mitbekommen kann, dachte ich leise. Laut antwortete ich: „Aber günstig ist es.“
Ich erntete keine Zustimmung.
Jessica hatte sich von ihrem Stuhl erhoben, die Zigarette bereits im Mundwinkel, und zupfte ihr Designerkostüm in Form. „Will einer von euch mitkommen, eine rauchen? Tine?“
„Nein“, entgegnete ich, stand aber ebenfalls auf. „Ich geh nur kurz zur Toilette.“
„Du mit deiner Konfirmandenblase“, stöhnte Michael.
Ich lachte und küsste ihn auf den Kopf. „Ja, ich weiß.“
Und ich wandte mich ab und ging den Weg, den ich in New York wohl am besten kannte.