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Beisfjord
"Hakan, da ist noch etwas. In meinem Schränkchen, wo der ganze Krimskrams aufbewahrt ist, findest du in der obersten Schublade eine Liste. Ich hoffe, ich habe nichts vergessen."
"Gisela, nein, bitte ... wer denkt denn an so etwas?", antwortete der Angesprochene, sich wie ein Schneerest in der Junisonne fühlend. "Ich verspreche dir, alles wird gut gehen."
"Versprich nichts, was du nicht halten kannst! Und bitte denk daran, wenn es so weit ist." Gisela Thorndalen hatte leise aber bestimmt gesprochen. Nach einer kurzen Pause wandte sie den Blick von Hakan ab, ließ ihn über die Bettdecke, das sterile Weiß der gegenüberliegenden Wand, vorbei an den Blumen und dem Telefon hinüber zum Fenster wandern, wo sie sehen konnte, wie sich eine tief stehende Sonne durch zerfetzte Wolken fraß. Der Wind kam vom Meer her, unverkennbares Polarluftwetter, der übliche Wechsel von Sturm, Schneeschauern und Sonnenschein. Luft, die alle Lebensgeister wecken würde, könnte man sie durchs Zimmer wehen lassen. Hakan hielt ihre Hand fest gedrückt, war den Tränen nahe und schwieg.
"Versprichst du mir, alles zu tun, was ich dir aufgeschrieben habe?", vergewisserte sie sich.
"Schatz, ich verspreche dir, was du willst. Aber du musst nun stark sein. Du darfst dich nicht aufgeben!"
Gisela nickte und antwortete: "Dann ist es jetzt Zeit. Um halb zehn wollten sie kommen, um mich herzurichten. Ich hätte gerne noch ein paar Minuten für mich." Hakan Thorndalen ließ widerstrebend ihre Hand los, die sie mit Nachdruck zu sich zurückzog, um die Bettdecke glatt zu streichen. "Schatz, ich liebe dich", murmelte er.
"Ich dich auch", antwortete sie.
*
"Meine Onkel und Tanten und deren Kinder sind alle noch dort. Verstehst du, die können nicht weg! Wenn man sein Haus verkauft, eine halbe Stunde später kommen sie, bringen dich um und nehmen das Geld. Es gibt keine Polizei, kein Gericht. Und alles dreht sich nur um Dollar, Dollar, Dollar. Und übrigens: Wir sind fertig."
Clemens Duppfort blickte auf, um im Spiegel das Gesicht eines dunkelhaarigen jungen Mannes zu sehen, der mittels eines Handspiegels die hintergründige Qualität seiner Arbeit vorführen wollte. In der ungewohnten Perspektive ließ sich erkennen, wie weit der Haarausfall auf der Rückseite von Duppforts Kopf bereits fortgeschritten war. Unsicher, wie er diese Unabänderlichkeit kommentieren oder den vorangegangenen Lagebericht des Friseurs beantworten sollte, antwortete er nur: "Ist in Ordnung so."
"Die Kasse ist dort hinten, dort können Sie ihr Geld loswerden."
Während Mahmud wortlos die auf dem Boden verteilten Haare zusammenkehrte, erhob sich Duppfort, zog den Mantel an, holte sein Köfferchen und bezahlte. Von den Münzen, die er als Wechselgeld erhalten hatte, drückte er eine dem jungen Iraker in die Hand, in der vergeblichen Hoffnung sich über ein Dankeswort hinaus noch ein Lächeln erkaufen zu können. Danach verließ er den Friseursalon und machte sich auf den Weg. Es war immer noch zu früh, er würde einiges an Zeit totschlagen müssen. Der beste Ort für diese Tätigkeit war der Flughafen.
*
Am Rande eines Wartebereiches hatte sich Duppfort in einer eher unbequemen Sitzgarnitur niedergelassen, die umspült wurde vom Strom der vorbeiziehenden Reisenden. Die Ausgabe der Financial Times war ebenso auf die Seite gewandert, wie ein angeblich unwiderstehlich spannender Kriminalroman. Lustlos beobachtete er das bunte Treiben eines ganz normalen Großflughafens: Geschäftsreisende, übergewichtige, verschleierte Frauen, ihren Männern in zwei Schritten Abstand folgend, Rucksack-Touristen, adrett hergerichtete Flugbegleiterinnen und hektisch umherwuselndes Bodenpersonal.
Hinter seinem Rücken hatten zwei passionierte Thailand-Reisende Platz genommen. Ohne es zu wollen, tauchte Duppfort in eine andere Welt ein, wurde hinabgezogen in deren Dialog:
"Was echt krass ist, mein Schwager der war da zwei Jahre geschäftlich unten. Weißt du, was der mir erzählt hat?"
"Zwei Jahre Bangkok? Cool!"
"Naja, von der Firma aus hatten die da eine Anweisung. Durfte nicht offiziell rauskommen, war aber echt toternst."
"Jetzt mach's nicht so spannend!"
"Kommt dort öfter mal vor, dass dir einer nachts vors Auto läuft, also dass du einen anfährst, meine ich. Irgendeinen Besoffenen oder Junkie, was weiß ich. Ist da wohl ganz normal, so was. Dann ist die wichtigste Regel: Nicht anhalten, einfach weiterfahren. Wenn du stehen bleibst, lynchen sie dich!"
"Krass. Ist nicht wahr oder?"
"Die hatten da echt einen Fall in der Firma. Der Typ war alleine unterwegs, rumms, tut es einen Schlag und er nietet einen um. Er hat angehalten. Hätte er fast nicht überlebt, die Aktion. Da war sofort ein riesiger Mob da und zog ihn aus dem Auto. Ist nur irgendwie mit viel Glück wieder rausgekommen. Der Chef von Siemens Thailand musste persönlich antreten, um ihn am nächsten Tag aus dem Gefängnis zu holen."
"Ach nee, das glaube ich nicht. Ist ja wie die Story mit der Nutte und den k.o. Tropfen ..."
"Mann, ist echt aus erster Hand. Siemens hat da ein Riesenbüro in Bangkok, mein Schwager hat da gearbeitet für zwei Jahre, ich schwör's dir."
Duppfort hatte genug und stand auf. Im Gehen warf er einen kurzen Blick über die Schulter nach hinten und sah, was er erwartet hatte. Seine Flucht führte ihn vorbei an einigen Läden mit nutzlosem Krimskrams schließlich in den Zeitungsladen. Er inspizierte die vorhandenen Illustrierten, nahm ein Buch mit dem Titel "Leadership Secrets of Attila the Hun" in die Hand, las den rückseitigen Text und legte es wieder beiseite. Schließlich kehrte er - ohne etwas gekauft zu haben - in den Wartebereich zurück. Einen freien Sitzplatz wählte er mit Bedacht möglichst weit weg von dort, wo er vorher gesessen hatte.
Der bereits verspätete Flug nach Oslo verschob sich um eine weitere Stunde. Duppfort wartete. Er hatte weder Lust zu lesen noch seinen MP3-Player einzuschalten. Am wenigsten wollte er darüber nachzudenken, was ihn in Norwegen erwarten würde.
Schließlich riss ihn eine Frauenstimme aus seiner Lethargie: "Sprechen Sie Englisch?"
"Nun ja, mehr oder weniger."
Er blickte in das Gesicht einer Mittzwanzigerin, die sich auf den Platz neben ihm gesetzt und ihm zugewandt hatte. Auf den ersten Blick fiel ihm der bräunlich gefärbte, fransige Rock auf, den sie trug.
"Ich würde Sie gerne etwas fragen." Sie sprach mit der unerreichbaren Klarheit der britschen Inseln. Ihre dezent geschminkten braunen Augen erinnerten ihn für einen kurzen Moment an Sylvia. Ohne Duppforts Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: "Wenn Sie wüssten, dass Sie nur noch drei Tage zu leben hätten, was würden Sie tun?"
Er starrte sie an: Die gesamte Welt der Langeweile war mit lautem Knall in sich zusammengefallen, übrig geblieben waren nur noch ein violettes Oberteil, etwas rustikal wirkender Silberschmuck, dunkles, schulterlanges Haar mit helleren Strähnchen, das ein ebenso erwartungsvolles wie bezauberndes Lächeln einrahmte. Was zur Hölle wollte diese Frau von ihm?
"Nun, also, das ist etwas überraschend. Noch drei Tage ... keine Ahnung, wieso fragen Sie mich das?"
"Eigentlich schade, dass Sie sich darüber noch nie Gedanken gemacht haben. Aber vielleicht finden Sie ja hier drin eine Antwort." Sie hatte ein Büchlein aus ihrer Handtasche hervorgezogen, im Format eines Schulheftes mit einem schreiend bunten Einband versehen. "Das hier würde ich Ihnen gerne schenken!"
"Ein Geschenk?" Duppfort schluckte. Die zwischen ersterbenden Dauerwellen hervorstrahlende Liebenswürdigkeit legte noch einmal an Helligkeit zu.
"Ja ein Geschenk, einfach so. Sie können gerne etwas im Gegenzug spenden, aber nur wenn Sie wollen", fügte sie hinzu und hatte ihm das Heftchen in die Hand gedrückt.
"Nun, also, ich weiß nicht ... und was steht da drin?"
"Eine sehr alte Geschichte von einem indischen König, dem es genauso erging wie Ihnen. Auch er wusste nicht so recht, was er mit dem Rest seines Lebens anstellen sollte."
Duppfort zog sein Portmonee hervor und suchte nach einer angemessenen Antwort. "Und was würden Sie tun?", fragte er schließlich in der vagen Hoffnung, die junge Frau in ein Gespräch verwickeln zu können und hielt ihr einen kleinen Schein hin.
"Mir wäre es ziemlich klar. Aber das wird Ihnen nicht weiterhelfen. Herzlichen Dank übrigens." Mit diesen Worten nahm sie die Spende entgegen, stand auf, schenkte ihm ein allerletztes Lächeln und verschwand ebenso plötzlich, wie sie gekommen war.
Nur der schnell verfliegende Hauch ihres Parfüms und die frisch erworbene Lektüre bezeugten, dass sie tatsächlich dort gewesen war. Duppfort schüttelte den Kopf. Er nahm das Büchlein und schlug eine beliebige Seite auf.
In der Erscheinungsweise der Tugend wird man durch Glück, in Leidenschaft durch die Früchte des Tuns und in Unwissenheit durch Irrsinn bedingt.
Er musste den Satz dreimal lesen und verstand ihn immer noch nicht. "Eine prächtige Geschäftsidee, harmlosen Reisenden so einen Schwachsinn anzudrehen", dachte er sich und stand auf, um zur Bar zu gehen. Ein Bier, das war es, worauf er nun Lust hatte. Auf der Sitzgruppe blieben Financial Times und die "geschenkte" Bhagavadgita zurück.
*
Duppfort hatte sich in die überschaubare Schlange der Gäste eingereiht. Mit jeder Position, die er nach vorne rückte, kam der Augenblick näher, in dem er seine trostreichen Worte von sich geben würde müssen. Schließlich war er am Ziel des Vormarsches angekommen und streckte einem müde wirkenden Mann mit ergrauenden Schläfen seine Hand entgegen.
"Herzliches Beileid Herr Thorndalen. Ich muss zwar gestehen, kein Wort verstanden zu haben, aber dennoch war es eine rührende Trauerfeier", sagte er schließlich und erntete einen dankbaren Blick. Ihm gegenüber stand ein leicht gebückter Mittvierziger, sichtlich mitgenommen vom Bangen der vergangenen Wochen.
"Ich hoffe, Sie reisen nicht sofort wieder ab. Es gibt da noch etwas, über das ich gerne mit Ihnen reden möchte", antwortete Thorndalen in fast akzentfreiem Deutsch.
"Mein Flug geht erst morgen, ich stehe heute Abend zu Ihrer Verfügung", erwiderte Duppfort, nickte dezent und machte Platz für die nachfolgenden Kondolenten.
In Gedanken versunken machte er sich auf den Heimweg. Der Friedhof von Beisfjord lag direkt neben einer kleinen Kapelle, wo der letzte Ausläufer eines von den Bergen eingezwängten Ozeans sich zwischen dunkle Berge vorwagte. Von dort war den ganzen Tag über der wolkenreichen Himmel von Westen her gegen das Land angerannt. Der stetige Wechsel von Sonne und Regen und die graue Trübseligkeit, dort wo das Land versuchte, sich nach oben zu strecken, das waren die Eindrücke, die Duppfort von Nordnorwegen gewonnen hatte. Es war Frühsommer und dennoch war ihm kalt, was auch an seiner nassen Oberbekleidung liegen mochte. Einige boshafte Regenschauer hatten es sichtlich genossen, sich über die Trauergemeinde auszubreiten. Wehe denen, die so wie Duppfort keinen Schirm parat hatten. Während er im Abgang die Häuser und die Anzahl der Einwohner dieses gottverlassenen Nestes abzählte, wollte er nur noch eines: zurück in die zivilisierte Wärme.
Wie konnte sich Gisela nur an so einem Ort beerdigen lassen? Unvorstellbar, dass sie dieses Detail nicht bedacht hatte. Es konnte nur einen Grund geben: Absicht. Wie weit wohl die weißen Kreuze noch aus dem Schnee schauten, wenn es Winter war? Der Ort lag jenseits des Polarkreises, um die Weihnachtszeit ging für drei Wochen lang die Sonne nicht mehr auf. Duppfort hatte endlich den Parkplatz erreicht, auf welchem sein Mietwagen abgestellt war. Fröstelnd startete er den Motor und drehte die Heizung auf.
*
"Schön, dass Sie gekommen sind", begrüßte Hakan Thorndalen seinen Gast, der zu abendlicher Stunde nach Beisfjord zurückgekehrt war. "Kommen Sie bitte herein."
"Das ist doch selbstverständlich", antwortete Duppfort. Ins Innere des gewöhnlich erscheinenden Hauses geführt, empfing ihn eine vertraute Welt. Es waren die liebevolle Ordnung und der gestalterische Perfektionismus, in welchen Giselas Handschrift wiederzuerkennen war, auch wenn 25 Jahre vergangen waren.
"Ich bin kein Mann großer Worte", kam Thorndalen gleich zur Sache, "Gisela hat mich gebeten, Ihnen das hier zu geben." Er drückte ihm ein Kuvert in die Hände, einen dicken Umschlag im A4-Format, adressiert mit "Clemens Duppfort", der mittels eines Klebestreifens auf der Rückseite versiegelt worden war.
Duppfort nahm den Umschlag entgegen, befühlte kurz, was sich darin befinden könnte, so wie er immer als kleiner Junge seine verpackten Weihnachtsgeschenke inspiziert hatte.
"Danke." Einen kurzen Moment war er unschlüssig, ob die Übergabe gleichzeitig die Aufforderung war, wieder zu gehen. "Schön haben Sie es hier", fügte er verlegen hinzu.
"Ja, noch. Ohne sie könnte sich das ändern, in der Zukunft."
*
"Wenn ich geahnt hätte, dass Sie ein Weinkenner sind, Herr Thorndalen, hätte ich Ihnen natürlich ein Geschenk mitgebracht. Diese Flasche muss ein Vermögen kosten, hierzulande!"
"Danke, sehr freundlich. Aber vielleicht ist es besser so. In diesem Haus lebt niemand mehr, mit dem ich anstoßen könnte."
"Der junge Mann auf der Trauerfeier heute ..."
"Unser Sohn Olaf. Er wohnt in Oslo. Heute übernachtet er bei Freunden in Narvik."
"Oh, ach so."
"Wir verstehen uns nicht so besonders. Ich glaube, da ist nicht vieles, was ich richtig gemacht habe."
"Sie haben Gisela geheiratet!"
"Und nun sitze ich alleine in einem großen, verlassenen Haus", dachte sich Thorndalen und leerte sein Glas.
*
Duppfort war in sein Hotel zurückgefahren, als schon die nahende Morgensonne fröstelnde Vorboten ihrer Ankunft über das Land tasten ließ. Sein Rückflug ging erst gegen Nachmittag, so würde er noch genügend Schlaf bekommen. Nachdem er sich entkleidet und für den Rest der Nacht bereit gemacht hatte, nahm er Giselas Umschlag zur Hand und riss ihn auf. Ihm fielen ein kleineres Kuvert, adressiert mit "Olaf Thorndalen", eine handgeschriebene Seite und einige Fotos entgegen.
Auf den Bildern war der junge Mann zu erkennen, den er vormittags auf der Trauerfeier gesehen hatte. Das Anschreiben enthielt nur die wortreich ausformulierte Bitte, Duppfort möge das Schreiben und die Bilder persönlich an ihren Sohn weiterleiten und die zugehörige Adresse in Oslo. Duppfort schüttelte den Kopf und ging zu Bett. Als er erwachte, war es bereits früher Vormittag. Irgendein lautes Geräusch hatte ihn geweckt, sodass er sich schlagartig halb wach in seinem Hotelbett wiederfand, während ihm die Erinnerungen an die morgendlichen Träume zwischen den Fingern zerrannen.
Thorndalen war ihm erschienen, grau meliert im dunklen Anzug, ein Rotweinglas in der Hand, mit deutlich erkennbaren, dunklen Ringen unter den Augen. "Menschen lassen sich nicht besitzen", hatte er gesagt und mit traurigem Blick auf Fotografie gedeutet, ein Familienbild, aus dem Gisela herauslächelte. Er war in die Küche gegangen und hatte Nachschub geholt, aber an seiner Stelle wiedergekommen war die junge Frau vom Flughafen. "Metastasen. Nur noch drei Tage, ich habe es Ihnen gesagt", hatte sie ihm eiskalt lächelnd an den Kopf geworfen, sich umgedreht und war mit schwingenden Hüften verschwunden, nur einen ersterbenden Geruch nach Ylang-Ylang zurücklassend. Während Duppfort schweigend das Familienbild in den Händen gehalten hatte, war auch Thorndalen plötzlich wieder da. In der einen Hand trug er einen Stapel mit Frauenzeitschriften, in der anderen eine Flasche. "Trinken Sie mit mir! Gemeinsame Trunkenheit ist halbes Leid, oder wie sagt man bei Ihnen?" Thorndalen sah sterbenskrank aus, als hätte er Brustkrebs im Endstadium. "Wir hier im Norden haben ein geteiltes Verhältnis zu Alkohol", hatte er gelallt, "und lassen Sie bitte ihre Finger von meiner Frau." Duppfort war erschrocken und hatte das Familienbild wieder an seinen Platz gestellt.
An den dunklen Vorhängen vorbei drängte sich die Morgensonne ins Zimmer. Duppfort schüttelte sich. Für einen kurzen Moment wusste er nicht, wo er war. "Diese verdammten Geschäftsreisen", dachte er sich, "nun weiß ich nicht einmal, in welcher Stadt ich bin. Falsch. Es war Narvik. Und das hier ist keine Geschäftsreise." Er stand auf und duschte kalt. Ins Zimmer zurückgekehrt fiel ihm der auf dem Boden verstreute Inhalt des Kuverts auf, das er nächtens geöffnet hatte. Nochmals las er Giselas Zeilen durch, die mit der Adresse und der Mobiltelefonnummer ihres Sohnes endeten. Nach dem Frühstück würde er ihn anrufen.
*
"Mr. Thorndalen?", sprach Duppfort den jungen Mann an, der in Eingangsbereich der Flughafencafeteria auf ihn wartete.
"Yupp. Das bin ich. Sie dürfen mich ruhig Olaf nennen, sonst komme ich mir so alt vor."
"Schön, dass ich Sie hier noch treffen kann. Mein Flug geht in zwei Stunden, ich wüsste nicht, wann ich sonst wieder nach Norwegen komme."
"Gefällt es Ihnen nicht hier?", fragte Olaf in flüssigem, aber dennoch akzentbehafteten Englisch.
"Nun", antwortete Duppfort diplomatisch, "was das Klima betrifft ... ich bevorzuge andere Urlaubsziele. Auf jeden Fall nett, dass Sie die Zeit gefunden haben, noch schnell herauszukommen. Lust auf einen Kaffee? Ich lade Sie ein!"
"Danke, gerne. Narvik ist keine Großstadt, so schlimm war das nicht. Außerdem bin ich neugierig, was Sie von mir wollen." Der junge Mann lächelte ihn an, ein offenes und herzliches Lächeln, das ihm gut zu Gesichte stand, im Gegensatz zu den zu langen Haaren, dachte sich Duppfort. Sie suchten sich einen freien Tisch, was in dem verschlafenen, kleinen Lokal keine Schwierigkeit darstellte. "Ich soll Ihnen dieses Kuvert hier persönlich übergeben. Es ist von Ihrer Mutter", setzte Duppfort vorsichtig hinzu und beobachtete, wie zunächst Erstaunen, dann Traurigkeit Besitz von Olafs Gesicht ergriff.
"Von ihr ... warum hat sie Ihnen ... ich verstehe das nicht."
"Ich leider auch nicht", entgegnete Duppfort und schob die säuberlich gestapelten Fotografien sowie das Kuvert hinüber. Um nicht zu aufdringlich zu wirken, wandte sich Duppfort ab und beobachtete die anderen Gäste, während Olaf die Aufnahmen durchsah.
"Ich werde das hier erst zu Hause aufmachen", meinte dieser schließlich und deutete auf den Umschlag.
"Wie Sie meinen", antwortete Duppfort, leidenschaftslos seine Schultern hebend. "Sie leben in Oslo?"
"Ja, ich studiere dort. Medizin."
"Arzt wollen Sie also werden, ein schöner Beruf. Wie lange dauert es noch, bis Sie fertig sind?" Was hätte er den jungen Mann sonst auch fragen sollen? Es galt, zwei langweilige Stunden herumzubringen, die ihn von seinem Abflug trennten.
"Nicht mehr lange, noch ein Jahr. Wenn alles gut geht." Olaf hatte bedeutungsvoll ausgeatmet und sowohl Kuvert als auch Fotos in der Brusttasche seiner Lederjacke verstaut. Die Kombination aus flaumig-blondem Dreitagebart, der Lederjacke und seiner für sein Alter etwas verlebt und hager wirkenden Gesichtszüge ließ ihn als den Typus Mensch erscheinen, den man zur Zeit von Duppforts Jugend als Rocker bezeichnet hätte. "Und Sie?", setzte Olaf das oberflächliche Spiel der Höflichkeiten fort.
"Ich verkaufe Kommunikationssysteme für Aerospace-Anwendungen."
"Klingt spannend."
"Nicht spannender, als Seekarten zu erstellen."
"Sie waren also bei ihm." Olaf stellte seine Kaffeetasse deutlich hörbar auf dem Unterteller ab und verschränkte die Arme.
*
"Ich war zwei Monate als Praktikant in Südafrika. Ich wollte dorthin, um operieren zu lernen ... Ein voller Erfolg, nun bin ich Spezialist für Schussverletzungen." Olaf lachte bitter. Duppfort nickte verständnisvoll und sah auf die Armbanduhr. Ihm blieb noch eine gute Stunde. Der junge Mann gefiel ihm. Seine Offenheit, die Lebendigkeit, alles das stand im angenehmen Kontrast zu dem, was er am Vorabend erlebt hatte. Dabei hatten doch beide Thorndalens denselben Grund zu trauern. Duppfort verstand diesen Unterschied nicht und auch die großen, braunen Augen des jungen Mannes wollten ihm keine Antwort geben. Diese sanfte Verträumtheit in seinem Blick, das war Giselas Abbild. Duppforts Gedanken trugen ihn zurück ins Jahr 1982.
"Clemens, so hat das keine Zukunft mit uns", ließ sie die Bombe platzen. Duppfort schwieg, wollte sagen, wie sehr er sich doch Mühe gab und ihm das Vorgefallene leidtat. Doch während er noch nach Worten suchte, nach der perfekten Formulierung, die seinem zerwühlten Inneren und den Geschehnissen der letzten zwei Wochen gerecht geworden wäre, hatte sie ihm den Entschluss mitgeteilt, der offensichtlich schon längst unumstößlich war: "Ich gehe nach Norwegen."
"Norwegen? Wie um Himmels willen kommst du denn darauf?"
"Wäre dir Simbabwe lieber? Oder die Innere Mongolei?"
"Wann müssen Sie zurück nach Oslo?"
"Ich werde noch ein paar Tage bei meinen Freunden hier verbringen. Ich musste den Flug nach dem Preis aussuchen."
"Und hier in der Heimat hält Sie nichts?", hakte Duppfort nach.
"Ein frisch geschaufeltes Grab und einige Freunde aus alten Tagen", erwiderte Olaf, wobei sich seine Augen - Giselas Augen - leicht verengten.
"Das war es dann also?"
"Clemens, ich ertrage diesen Zustand nicht, verstehst du? Darauf zu warten, dass du vielleicht in zehn Jahren Kinder mit mir haben willst, mit der traumhaften Aussicht als 'Frau Ingenieur' irgendwann kurz vor der Rente in ein Reihenhäuschen zu ziehen."
"Es muss doch nicht so kommen, wir könnten doch ...", hatte Duppfort versucht zu argumentieren.
"Nein, muss es nicht. Nicht, wenn ich nun meinen Gefühlen folge."
"Sie verstehen sich nicht so besonders mit Ihrem Vater?", fragte Duppfort sein jugendliches Gegenüber und wunderte sich über sich selbst. Normalerweise war es nicht seine Art, sich so schnell in das Privatleben neuer Bekanntschaften vorzuwagen.
"Nein, aber das ist eine lange Geschichte. Vermutlich beginnt sie vor einem Vierteljahrhundert in Hamburg. Sie endet damit, dass ich nach der Schule wegzog und mir zum Studieren die Stadt ausgesucht habe, die am weitesten von Narvik entfernt ist."
"Deine Gefühle, wieso?", hatte Duppfort gefragt, ahnend, aber nicht wirklich wissen wollend. Doch Gisela wäre nicht Gisela gewesen, wenn sie ihn in diesem Moment geschont hätte.
"Clemens. Nun mach' es uns doch nicht schwerer, als es sein muss. Du hast es versaut. Und ich habe da eine einmalige Chance wegzukommen, verstehst du?"
"Ich verstehe", hatte Duppfort dumpf brütend geantwortet und die Einzelteile zusammengesetzt. Analyse war schon immer seine Stärke gewesen und sei es bis zur Selbstzerfleischung. "Und woher kennst du ihn?"
"Aber erzählen Sie doch etwas mehr über sich!" Olafs Ansprache riss Duppfort aus seinen Gedanken.
"Da gibt es nicht viel Spannendes zu berichten. Als Student wohnte ich eine Zeit lang in Hamburg. Damals habe ich auch Ihre Mutter kennengelernt, eine Zeit lang waren wir ziemlich verliebt ineinander. Aber das ist schon eine Weile her." Er griff zur Kaffeetasse, und wandte seinen Blick von Olaf ab, um die Unterhaltung kurz darauf wieder fortzusetzen: "Was meinen Beruf betrifft, fragen Sie besser nicht. Zurzeit komme ich recht viel herum in der Welt, zu viel, wenn Sie mich fragen."
"Und was darf ich mir unter Aerospace vorstellen? Raketen, Satelliten?"
"Kampfflugzeuge", antwortete Duppfort trocken.
"Vielleicht bekomme ich ja von ihm, was du mir verweigerst."
Duppfort hatte verstanden. Gisela pflegte eine furchterregende Kompromisslosigkeit an den Tag zu legen, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, auch bereits zu den Zeiten, als ihre Beziehung noch intakt gewesen war. Nun stand für sie fest, dass sie alle Brücken zu ihrer Vergangenheit abbrechen wollte. Und Clemens Duppfort war offensichtlich ein Teil dieser Vergangenheit geworden.
Olaf sah Duppfort für einen Moment ins Gesicht. Giselas Augen füllten sich für einen kurzen Moment mit Traurigkeit, so als wollten sie ihm sagen: "Nichts hat sich geändert." Dann griff er in seine Brusttasche und zog das Kuvert hervor. Er schüttelte es leicht und hielt es erfolglos gegen das Licht. "Und was hat sie Ihnen hinterlassen?"
"Nur den Auftrag, das hier persönlich zu übergeben."
"Dann wollte sie also, dass wir uns treffen."
"Und kennenlernen", fügte Duppfort hinzu.
*
Die Maschine stieg in den Nachmittagshimmel, wühlte sich durch rosa gefärbte Wolkenfetzen Luftloch um Luftloch höher, dem ungetrübten Blau des Himmels entgegen. Duppfort klammerte sich an der Lehne des Sitzes fest, was ihm seltsam vorkam, war er doch ein routinierter Flugreisender, den aber ausgerechnet heute eine seltsame Art des Unwohlseins befallen hatte. Er blickte schräg zur Seite aus dem Fenster und versuchte, sich an der Linie des Horizontes festzuhalten, ein Trick, den er des Öfteren auf See geübt hatte. Er warf seine volle Willenskraft auf dieses eine Ziel, nicht von der für diese Art der Notfälle vorgesehenen Papiertüte Gebrauch machen zu müssen, was ihm auch schließlich gelang. Der Preis, den er willig dafür entrichtete, war, dass alles, was er in den letzten beiden Tagen erlebt hatte, anfing, langsam aber sicher in die Tiefen seines Unterbewusstseins abzuwandern.
Schließlich beruhigten sich die Turbulenzen und sowohl Wolken als auch Landschaft hatten den Charakter tief liegender Entferntheit angenommen. Duppfort atmete auf. Mit hunderten von Stundenkilometern war er dabei, seine Vergangenheit nun endgültig zurückzulassen. Das Grab in Beisfjord war zugeschaufelt worden und nach wenigen Wochen eines kurzen Sommers, würde der Winter sein eisiges Tuch über das Land breiten.
*
"Schön, dass du da bist, Papa!" Duppfort hatte die Haustüre geöffnet, sein Köfferchen abgestellt und war unmittelbar Sylvia in die Arme gelaufen, die ihn aus naheliegenden Gründen vermisst hatte: "Du kannst mir gleich etwas für Mathe erklären."
"Ja, mein Schatz. Aber darf ich mich vielleicht vorher ausziehen und meine Mails abrufen?" Der zierliche, blonde Wirbelwind wirkte sichtlich enttäuscht.
"Das kenne ich. Dann wird es bestimmt wieder Nacht, bevor du von der Kiste wegkommst."
"Nein, nur ganz kurz. Versprochen, ich lerne mit dir."
Sylvia lächelte und verschwand in Richtung ihres Zimmers. Duppfort musste unwillkürlich an die junge Frau vom Flughafen denken. Die Augen ... die beiden Mädchen hatten die gleichen Augen.
"Papa, fast hätte ich es vergessen, da ist noch etwas. Da hat so ein Typ für dich angerufen und wollte dich sprechen."
"Ja, wer denn?"
"Keine Ahnung, ich hab' ihn nicht so richtig verstanden, der sprach nur Englisch."
"Da kommen mehrere in Frage. Sonst sollst du mir nichts ausrichten?", fragt Duppfort in leicht vorwurfsvollem Tonfall nach. Gleichzeitig hätte er gerne gewusst, was denn eigentlich den Kindern auf den heutigen Schulen beigebracht wird.
"Nein, der sprach so undeutlich ... jetzt erinnere ich mich wieder. Er sagte irgendetwas von Norwegen."
"Da komme ich gerade her."
Duppfort schloss die Türe seines Arbeitszimmers und schaltete den Rechner ein. Erschöpft sank er auf den zugehörigen Bürostuhl. Eigentlich kam von den beiden Thorndalens nur der Sohn, der niemals richtig die Sprache seiner Mutter erlernt hatte, als potenzieller Anrufer in Frage. Und während bedächtig, Schritt um Schritt Computer und Bildschirm sich gegenseitig zum Leben erweckten, beschlich Duppfort der leise Verdacht, dass die unerfreuliche Zwangslage, aufgrund welcher er seine damalige Freundin Gisela zur Abtreibung gedrängt hatte, eben nicht mit einer stimmungsvollen Trauerfeier in Beisfjord ihren endgültigen Abschluss gefunden hatte.