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Beschlußfähig
„Gibt es irgendein Argument dagegen, Kinder vor Pornographie zu schützen?“, fragte die Vorsitzende und blickte über ihre Brille in die Runde, nicht wirklich eine Antwort erwartend. „Natürlich nicht. Warum also gehen wir nicht gegen diesen Schmutz so konsequent vor, wie das heute möglich ist?“
Diesmal machte sie eine längere Pause und unter den Teilnehmern der Kommission für jugendgefährdende Medien entstand Unruhe, bis ein Mann mittleren Alters, der als einziger bereits die Jacke ausgezogen hatte, seine Stimme erhob.
„Ja, machen wir das nicht schon längst?“
„Nein, Herr Schüler-Ebbing!“, kam schneidend die Antwort der Vorsitzenden, „Was wirklich möglich ist, das hat uns in diesen Tagen China vorgemacht: Google listet dort ab sofort all die Seiten nicht mehr auf, die deren Zensurbehörde für bedenklich hält.“
Für einen Moment wurde es still im Raum, doch dann redeten plötzlich alle durcheinander, man konnte nur da und dort Verständliches vernehmen wie „Hab’ ich auch schon gehört“ oder „War ja zu erwarten“.
„Aber Frau Vorsitzende!“, rief Schüler-Ebbing, der Jugendschutzbeauftragte eines Onlinedienstes, der zum ersten Mal turnusmäßig an der Sitzung der Kommission teilnahm, „Das, was China macht, das ist doch reine Zensur!“
„Schon richtig“, entgegnete die Vorsitzende und korrigierte eine Haarsträhne, die sich aus unerfindlichen Gründen aus der hochtoupierten und lacküberzogenen Frisur befreien konnte, „Unsere Behörde ist keine Zensur, das wäre ohnehin gegen das Grundgesetz. Aber wir sind dennoch dafür da, aus den Medien Jugendgefährdendes herauszuhalten. Sie wissen: Wenn uns solche Inhalte bekannt werden, dann handeln wir. Das Mittel der Indizierung hat sich bewährt, vor allem bei Printmedien funktioniert es ausgezeichnet. Aber beim Internet sind wir bei weitem nicht so erfolgreich. Weil wir dort nur Seiten indizieren, das heißt sperren können, die dem deutschen Recht unterliegen - gegen den auf ausländischen Servern liegenden Schmutz sind wir machtlos. Und wir werden machtlos bleiben, wenn wir nichts unternehmen, wenn wir nicht bereit sind, über neue Kontrollmöglichkeiten nachzudenken.“
„Sehr richtig!“, sagte eine blonde und ganz in blau gekleidete Frau Ende dreißig, die sich anfangs als Abgesandte des Bundesfamilienministeriums vorstellte. „Man muß mit der Zeit gehen. Heutzutage gibt es ganz andere Möglichkeiten als noch vor ein paar Jahren. Ich komme gerade aus den Staaten, wo ich mich persönlich von großen Fortschritten auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung überzeugen konnte. Die Initiative des dortigen Justizministeriums …“
„Entschuldigen Sie bitte Frau … Frau …“
„Frau Semmelnah“
„Ach ja, richtig, Frau Semmelnah,“ sagte Schüler-Ebbing, ohne die Frau anzusehen, die er unterbrochen hatte, „Verbrechen, wenn ich das schon höre! Wir sprechen hier von pornografischem und sonstigem politischen Schmutz, das es zu verhindern gilt, Frau Blau … eh ... Frau Semmelnah. Das sind lediglich Bilder und Texte und keine Verbrechen.“
„O doch!“, warf die Vorsitzende ein, „Denken sie an Kinderpornographie, meine Damen und Herren, die ist ohne Verbrechen nicht machbar.“
„Ach ja, Kinderpornographie! Das Totschlagargument!“
„Herr Schüler-Ebbing!“, die Stimme der Vorsitzenden wurde wieder schneidend, „Könnten Sie sich bitte mäßigen! Warum hören Sie nicht einfach zu, was Frau Semmelnah zu berichten hat? … Bitte Frau Semmelnah!“
„Tja … also … wie Sie vielleicht wissen, hat das amerikanische Justizministerium die vier größten Internetsuchmaschinenbetreiber aufgefordert, sämtliche Suchbegriffe herauszugeben, die innerhalb eines Monats im letzten Sommer abgefragt wurden. Yahoo, Microsoft und AOL haben sich dem Bescheid schon gebeugt, nur Google weigert sich bislang. Aber auch Google wird früher oder später kapitulieren, wie es jetzt vor chinesischer Regierung kapituliert hat.“
„Ja, das ist denkbar“, entgegnete Schüler-Ebbing, der sich inzwischen wieder beruhigt hat, „Aber ich sehe den Sinn dieser Forderung nicht: Was kann man schon mit den Suchbegriffen ohne die dazugehörigen IP-Adressen anfangen?“
„Da haben Sie völlig Recht, Herr Schüler-Ebbing“, sagte die Vorsitzende und wandte sich der Frau in blau zu, „Das erschließt sich mir auch nicht. Was steckt also dahinter?“
„So genau wollten mir die Amerikaner das nicht sagen, aber das Ganze geht wohl in Richtung Statistiken. Ich kann hier nur vermuten, aber wer Wörter wie young, boy, girl, nude, hairless und sex miteinander kombiniert eingibt, der will etwas ganz Bestimmtes. Sie wollen wohl so herausfinden, wie viele Leute solche Suchbegriffe eingeben.“
„Ah, damit sie wissen, wie verdorben die Welt ist?“, Schüler-Ebbing konnte sich wieder nicht bremsen, „Erzählen Sie uns keine Märchen, Frau Semmelnah! Ohne IP-Adressen, d.h. ohne Zuordnung von Suchbegriffen zu den Suchenden ist das Ganze sinnlos. Glauben Sie mir, Frau Semmelnah, ich bin vom Fach, ich weiß wovon ich spreche.“
„Tja … da weiß ich auch nicht weiter“, begann die Blondine und wandte sich wie hilfesuchend zur Vorsitzenden, die sich nicht zweimal bitten ließ.
„Ja, die Situation in USA scheint noch nicht ganz klar zu sein. Aber was noch nicht ist, kann noch werden, nicht wahr?“, sagte sie und schaute voller Tatendrang in die Runde, „Ganz anders stehen die Dinge in China. Da wurde vom Yahoo schon einmal die Internetadresse eines Regimekritikers weiter gegeben, der danach zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Yahoo arbeitet schon seit drei Jahren mit den chinesischen Behörden zusammen, auch Microsoft hat schon Mal eine Seite gesperrt – was sagten sie als Begründung … ach ja hier: Die chinesische Regierung hat uns mitgeteilt, daß die Inhalte gegen das chinesische Gesetz verstoßen würden. Wir haben die Seite geschlossen, da unserer Meinung nach in diesem Fall das lokale Recht Anwendung finden muß. Ende des Zitats. – Und jetzt ist, wie bereits erwähnt, auch Google dazu gekommen, und ich frage mich, warum sollten die alle nicht auch mit uns zusammenarbeiten?“
„Weil wir keine Diktatur sind wie China, verdammt noch mal!“
„Ah?! Sie wieder, Herr Schüler-Ebbing!“, sagte ruhig die Vorsitzende, doch ihre Stimme klang höher, als sie fortsetzte: „Hätte mir denken können, daß sie keine Manieren haben.“
„Ich scheiße auf Manieren, wenn diese dazu führen, daß Leute eingesperrt werden!“
„Ah, Sie sind also dagegen, daß wir Verbrecher dingfest machen, die unschuldige Kinder mißbrauchen und diesen Mißbrauch auch noch im Internet verbreiten!“
„Nein, verdammt, ich bin nur dagegen, daß man hier anscheinend mit Methoden einer Diktatur arbeiten will!“
„Um Kinder zu schützen, ist mir jedes Mittel recht, Herr Schüler-Ebbing.“
„Mir auch!“, sagte plötzlich ein Mann, der bisher kein Wort gesagt und sich nur Notizen gemacht hatte. „Dieser Sumpf muß endlich trocken gelegt werden. Wir arbeiten hier seit Jahren, und was haben wir an Erfolgen vorzuweisen? Nichts, kaum haben wir was entdeckt und ein paar eingesperrt, schon tut sich woanders ein neuer Sumpf auf, der von den Leuten sehr schnell gefunden wird. Dank Suchmaschinen. Wenn die Suchmaschinen diese Seiten nicht mehr anzeigen, dann sind sie so gut wie nicht existent und können auch nicht benutzt werden. Ich …“
„Ach hören sie doch auf!“, unterbrach ihn Schüler-Ebbing und sprang auf, „Dieser Quatsch mit Kindern dient nur als Vorwand! Unsere Arbeit besteht zu neunundneunzig Prozent aus dem Kampf gegen ganz gewöhnliche und Gewaltpornographie, Gewalt in Video- und Computerspielen und gegen die Verbreitung vom rechtsradikalen Gedankengut. Dafür brauchen wir keine allumfassende Kontrolle, schon gar nicht durch Suchmaschinen. Durch die Eingabe von ganz gewöhnlichen Wörtern würden dann alle möglichen Leute in Verdacht geraten, nein, das können sie mit mir nicht machen.“
„Okay, Herr Schüler-Ebbing, ich verstehe ihre Bedenken“, schaltete sich wieder die Vorsitzende ein, „Anfangs würden sicher sehr viele davon betroffen sein, aber wenn sich der Verdacht nicht erhärten läßt, dann ist alles wieder in Ordnung. Ich meine, wer nichts Illegales auf seinem Computer hat, der hat nichts zu befürchten. Und seien Sie versichert, nach der ersten Aufregung würde sich alles normalisieren und ...“
„Ja, sicher würde sich alles normalisieren! Weil die Leute Angst haben werden, noch Worte wie Mädchen und nackt und jung einzugeben!“
„Aber Herr Schüler-Ebbing, wer, außer total verdorbenen Menschen, kommt auf so einen Gedanken?!“, sagte die Vorsitzende mit gespielter Verwunderung, „Ich verstehe nicht, wie Sie solche Leute verteidigen können.“
„Ich verteidige mich und mein Recht auf freien Zugang zu Informationen! Das wird mir im Grundgesetz garantiert und jetzt versuchen Sie es mit solchen Methoden auszuhebeln.“
„Niemand versucht irgend etwas auszuhebeln – wir sprechen nur darüber. Außerdem, und ich wiederhole mich hier gern: Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten."
„Wie gnädig!“
„Ich glaube, Herr Schüler-Ebbing, ihr Sarkasmus ist hier ganz fehl am Platze. Man könnte das auch ganz anders formulieren: Wer sich an der neuen Regelung stört, der hat vermutlich was zu verbergen."
„Also … also das ist zu viel! Das lasse ich mir nicht bieten!“ Schüler-Ebbing sprang auf, packte seine Unterlagen unter den Arm und griff nach seiner Jacke. Er war schon beinahe an der Tür, als plötzlich ein Mann, der genau gegenüber der Vorsitzenden saß und die meiste Zeit in seinen Unterlagen geblättert hatte und gar nicht zuzuhören schien, rief:
„Warten Sie noch einen Moment, ich komme mit.“
Langsam stand der alte Mann auf und begann umständlich seine Papiere zu sammeln. Außer dem Rascheln, das dabei entstand, war es totenstill im Raum. Ihn schien das nicht zu stören, bedächtig legte er Blatt für Blatt in eine lederne Mappe und steckte, als er damit fertig war, auch den Bleistift in ein extra dafür in der Mitte der Mappe vorgesehenes Etui.
Der Vorsitzenden dauerte das wohl zu lange, sie wollte ihn vielleicht auch umstimmen, jedenfalls sagte sie mit einer leisen, für sie ungewohnt sanften Stimme:
„Haben Sie sich das auch gut überlegt, Herr Pasterlohe?“
Der alte Mann antwortete nicht, er schaute nicht einmal auf. Er klappte nur die Mappe zu und steckte sie in die alte, braune Tasche.
„Falls Sie Bedenken haben: das vorhin galt nicht Ihnen.“
„Ja, ich weiß“, sagte der Mann ruhig und nahm die Tasche vom Tisch, „Aber was Sie da sagten, könnte auch Goebbels gesagt haben. Ich will damit nichts zu tun haben.“
„Okay, okay, vielleicht bin ich da zu weit gegangen, bitte entschuldigen Sie.“
„Tut mir leid, da gibt es nichts zu entschuldigen. Das ist unentschuldbar.“
Er wandte sich ab und ging Richtung Tür, wo Herr Schüler-Ebbing lächelnd auf ihn wartete. Er machte dem alten Mann die Tür auf und war schon selbst beinahe draußen, als wieder die schrille Stimme der Vorsitzenden die Stille zerschnitt:
„Ja, geht nur! Werdet schon sehen, was ihr davon habt! Wir sind auch ohne euch beschlußfähig!“