- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Bibliothek
Der Wind fühlt sich angenehm an, als ich mich in gewohnter Eile auf mein Fahrrad schmeiße und anfange loszurasen. Es ist nichts Neues, dass ich zu spät zu meinen Verabredungen komme. Damit ich mich überhaupt motivieren kann, für die anstehende Klausurenphase zu lernen, treffe ich mich mit Gleichgesinnten in der Bibliothek. Mein aktuell wichtigster Verbündeter ist Samuel, er steckt zwar nicht in demselben Dilemma wie ich, da er die Klausuren nie verschiebt, aber für dieses blöde Modul "Histologie" sitzen wir erstmal im selben Boot. Er schien mir schon immer ziemlich zielstrebig zu sein, dass seine Eltern, beide Ärzte, eine gewisse Erwartungshaltung an ihr ältestes Kind haben spielt da bestimmt eine Rolle. Dennoch ist er die Ausgeglichenheit in Person, irgendwie beruhigend mit ihm zu lernen, er ist lustig, höflich, selbstsicher und weiß genau was er will.
Während der Fahrtwind doch um einiges kühler wird, wenn man mit 20 km/h die lange Allee zur Uni hinunterfährt, fühlt sich die Sonne selbst auf meinem hellblauen Sommerkleid schon fast zu heiß an. Ich muss wirklich sagen, dass ich dieses alte Hollandrad hasse, es ist unhandlich, schwerfällig und überaus stur, wenn es um die Handhabung geht, mal ganz abgesehen von der Beschleunigung, die wirklich zu wünschen übrig lässt. Kein Wunder, dass ich durchgeschwitzt an der Uni ankomme, die Kraft, die ich aufwenden muss, um diesen Laster in Fahrt zu bringen, ersetzt definitiv meinen Morgensport. Ich kann das Tempo, was ich jetzt erreicht habe, so halten, dass ich mir vorstellen kann, mit einer Verspätung von gerade mal 30 Minuten in der Uni anzukommen. Eigentlich kein schlechter Schnitt, denke ich mir. Dass mein Handy gerade jetzt anfängt zu piepsen, ist jedoch echt ungünstig, denn es gestaltet sich ziemlich kompliziert die Kontrolle über das Fahrrad zu behalten, während mein halber Arm in meiner vollen Ramschtasche steckt, um nach dem Handy zu suchen. Irgendwie möchte ich trotzdem wissen wer es ist. Eine Nachricht von Samuel. Oh Mist, ich kann mir schon denken, dass er früher da ist und bereits auf mich wartet.
>>Wo steckst du, habe uns jetzt in der zweiten Etage einen Doppelplatz am Fenster gesafed.<<
Aufgebracht klingt die Nachricht zwar nicht, trotzdem bin ich ja gerade mal knappe 5 Minuten unterwegs. Ich versuche schnell ein Bild während der Fahrt zu machen, um zu beweisen, dass ich schon auf dem Weg zur Uni bin, ohne sagen zu müssen, dass ich noch einige Zeit brauche. Am besten sehen Bilder aus meiner Perspektive aus, mit dem Lenker und der großen rot-gepunkteten Klingel im Vordergrund. Meine Beine sehen aus diesem Blickwinkel echt schlank aus, das Kleid ist hochgerutscht und das kleine Muttermal, der sich auf der oberen Hälfte meines Oberschenkels befindet blitzt hervor. Ich hoffe, das Bild provoziert ihn.
>>Schon auf´m Weg!<< schreibe ich mit einem Zwinkersmiley zurück, ich bin echt gespannt auf seine Antwort, ob ich ihn aus der Fassung bringen kann?
Irgendwie kommt es aber anders als erhofft, denn mit: >>Dann gib mal Gas mit diesem Klappergestell.<< habe ich nicht gerechnet.
Sichtlich geschafft schließe ich mein Fahrrad an den großen Sammelständern vor dem Hauptgebäude der Uni ab, und renne die Treppe hinauf zur Bibliothek. Meine Tasche ist wie immer total überfüllt und hängt auf halb 8. Zum Glück würde ich den Großteil der Sachen, die drin rumfliege, nicht vermissen, würde ich sie verlieren. Vermutlich würde ich es nicht einmal merken.
Ich kann Samuel schon von Weitem erkennen, wie er lässig und breitbeinig auf der Holzbank sitzt. Vorne über gebeugt, und mit seinen Ellenbogen auf die Knie gestützt, blättert er in einem Buch rum. Bevor er mich überhaupt bemerken kann, nehme ich es ihm aus der Hand und lese laut vor: >>Kurzlehrbuch der Histologie also, na du bist ja schon voll dabei.<< sage ich, hebe meine Augenbrauen und lasse mich neben ihm auf die Bank plumpsen. Ich streife die Träger meiner Tasche von der Schulter und lasse sie hörbar neben mich fallen. Er legt seine Hand bestimmt auf meinen Rücken und drückt mit seinen Finger sanft auf die Stelle, wo sich die roten Striemen der Träger abzeichnen.
>>Na hast du wieder Ziegelsteine mitgebracht, um mich zu erschlagen, weil ich schon angefangen habe zu lernen?<< fragt er mit einem verschmitzten Lächeln.
Ich schnaufe wütend, >>ich hoffe du kannst es mir diesmal besser erklären<< sage ich, ihm einen herausfordernden Blick zuwerfend.
>>Mal sehen, wer hier wem etwas erklären muss, im Kurs warst du gar nicht schlecht Hannah.<<
>>Hey, du weißt, dass ich mich nicht vorbereitet habe, das war Zufall!<< entgegne ich ihm schnippisch. Er scheint wohl echt zu denken, dass ich es drauf habe, eigentlich basieren die Erfolge meines Studiums auf reinem Glück. >> Also das nennst du Zufall? << fragt er sichtlich amüsiert.
Ich haue ihm mit meinem Handrücken gegen den Oberarm, um ihm zu zeigen, dass ich mich nicht ernst genommen fühle. Es scheint ihm nichts auszumachen, denn er verzieht keine Miene, stattdessen streicht er mir grinsend übers Haar, als wäre ich noch ein kleines Mädchen. Er richtet sich auf und stellt sich vor mich, erst jetzt fällt mir wieder auf, dass seine Statur recht beeindruckend ist. Schließlich ist er fast 2 Meter groß, seine dunkelblonden Haare sehen ein wenig verwuschelt aus und reflektieren im Sonnenlicht. Er schnappt sich das Buch aus meiner Hand und sagt: >>komm, lass uns rein gehen.<<
Ich hieve die schwere Tasche wieder auf meine Schulter und laufe hinter ihm durch den Eingang der Bibliothek. Ich glaube ich rieche Parfum, sportlich, frisch aber zugleich dominant, dennoch nicht aufdringlich, er ist doch gar nicht der Typ der Parfum trägt, oder doch?
An der Garderobe angekommen hebe ich meine Tasche auf den Tresen, meine Schreibsachen habe ich zwar schon rausgenommen, weniger schwer ist sie irgendwie trotzdem nicht geworden. Samuel steht vor mir in der Schlange und hat schon seine Marke bekommen, während sich meiner Wenigkeit noch nicht einmal angenommen wurde.
Er dreht sich zu mir und sagt: >>Ich hol mir eben noch einen Kaffee aus dem Automaten, willst du auch einen?<<
Bei der Hälfte des Satzes merke ich wie sein Blick von meinen Augen abschweift und sich auf etwas hinter mir richtet. Die Entgeisterung auf seinem Gesicht ist schwer zu übersehen, sobald er den Satz zu Ende gesprochen hat, wandelt sich sein Ausdruck in Wut um. Ich habe keine Ahnung was los ist und drehe mich nach hinten, um das Starren eines anderen Studenten zu sehen. Er starrt auf mich! Samuel scheint dem Blick meines Hintermannes zu folgen. Mein Blick wechselt zwischen seinem Gesicht und seiner Körperhaltung. Die Hand, mit der er sich auf dem Tresen abstützt, ballt er langsam zusammen, als würde es ihm schwerfallen sich zu kontrollieren. Mein Herz fängt an schneller zu schlagen, obwohl ich immer noch nicht verstanden habe, was hier gerade passiert. Ohne die Aufmerksamkeit von dem Typen hinter mir abzuwenden, greift Samuel mit einer gezielten Bewegung nach meinem Kleid und zieht es mit einem kräftigen Ruck nach unten. Es scheint mir hochgerutscht zu sein, als ich meine Tasche auf den Tresen gehoben habe. Ich habe ihn noch nie zuvor so gesehen, noch nie so wütend, noch nie so still, noch nie so fokussiert. Er sieht mich immer noch nicht an. Seine braunen Augen blitzen vor Wut. Ohne ein Wort zu sagen, geht er an mir vorbei, ohne den Blickkontakt zu meinem Hintermann zu unterbrechen. Als er auf seiner Höhe angekommen ist, zieht er seine Schulter zurück und haut sie mit voller Wucht gegen die des Studenten. Der doch relativ muskulöse Student braucht einige Zeit um sich zu fangen, und ordnet sich wieder hinter mir in der Schlange ein, ohne Anstalten zu machen sich zu wehren. Samuel läuft weiter, die Blicke, die er auf sich zieht, ignorierend, als wäre nichts gewesen. Zwei brünette Studentinnen, in der Sitzecke neben dem Kaffeeautomaten, gaffen ihn mit großen Augen an und beginnen zu tuscheln. Ich frage mich, ob es sie beeindruckt hat, ich frage mich ob es mich beeindruckt hat. Er dreht sich nochmal um, will er sichergehen, dass es mir gut geht? Sein Blick ist durchdringend und von einer so immensen Intensität, als er meinen trifft, dass ich erst jetzt merke, dass es die Spannung zwischen uns ist, die den ganzen Raum füllt.