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Bittersüße Befreiung

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18.11.2004
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Bittersüße Befreiung

Ich stand im Regen auf der Brücke und sah in die Tiefe. 40 Meter weiter unten erstreckte sich ein breiter Strom, in dem das schwarze Wasser davon getragen wurde. Der Regen durchnässte den Pollunder und die Hose, die ich trug, bis sie an meiner Haut klebten. Wasser tropfte von meinen Haaren in die Tiefe und ich sah den Tropfen nach, bis ich sie von den Millionen anderer Wassertropfen nicht mehr zu unterscheiden wusste. Meine Ellbogen ruhten auf dem stählernen Geländer, meine Handflächen waren nach oben gekehrt. Ich starrte darauf und sah das Wasser wie klares Blut die Furchen meiner abgearbeiteten, alten Hände nachzeichnen. Hände, mit denen ich als Kind im Dreck gewühlt hatte, Hände, in die sich Tag für Tag Holzspäne gebohrt hatten, Hände, mit denen ich 15 lange Jahre meine Mutter in ihrem Krankenbett gepflegt hatte. Die Hände einer alten Frau, die im Leben nie mehr gehabt hatte, als das, was man ihr gerade so zugestehen wollte.
Nach 60 Jahren meines Lebens stand ich an der Schwelle des Todes, klopfte an, und ließ jemand anderes ziehen. Mit diesen Händen zerrte ich sie durch die Tür und ließ sie auf der anderen Seite alleine zurück. Als die Tür sich schloss, schrie sie verzweifelt meinen Namen, Tränen liefen ihr übers Gesicht und sie griff nach meinen Händen, doch ich zog sie fort und sah zu, wie sie schrie, sich wandte und auf die Knie fiel.
Als die Tür mit einem lauten Knall zuschlug, war alles still. Doch an meinen Händen klebte noch immer das Blut und in meinem Kopf hörte ich noch immer ihre Schreie, schrill, verzweifelt, voller Angst. Ich gab ihr Leben für meines und hatte doch nichts daraus gewonnen. Alles, was zurück geblieben war, waren, Schuld, Zweifel und Unglück.
60 Jahre hatte ich unter ihr gelitten, 60 Jahre hatte ich mir nichts so sehr gewünscht, wie endlich frei von ihr zu sein. Und nun, da ich es zu sein schien, verfolgte sie mich doch, Tag und Nacht, und ich musste einsehen, dass ich niemals frei sein würde. Umsonst hatte ich meine Hände mit Blut befleckt, umsonst hatte ich auf den passenden Augenblick gewartet. Den es nicht gab, auch das war mir nun bewusst.
Jede Nacht wachte ich schweißgebadet auf, weil ich sie schreien hörte. Ich stürmte in ihr Zimmer, doch dort war sie nicht mehr. Nur das leere Bett und ihr weißes Kissen. Und trotzdem hörte ich sie schreien und sie hörte nicht auf. Die Tür war zwar verschlossen, doch die Laute waren nicht auf der anderen Seite geblieben, sie drangen durch jede Ritze, jeden freien Spalt und füllten meinen Kopf, bis ich weinend zusammenbrach, weil ich es nicht mehr ertragen konnte.
Und wenn das geschah, wenn ich weinend in der Ecke saß und die Schreie aus meinem Kopf zu verdrängen versuchte, dann hörte ich sie plötzlich lachen. Ein lautes, grausames Lachen, das noch mehr schmerzte als ihr Weinen und Schreien, denn ich wusste, dass sie mich auslachte. Sie hatte gewonnen, hatte noch immer Macht über mich und begann zu lachen, und der Wind trug es zu mir herüber. Und ich wusste, dass sie nie mehr gehen würde.

Ich stand im Regen auf der Brücke und sah in die Tiefe. Vom Himmel her regneten ihre Tränen und der Wind trug ihr Lachen zu mir. Unten, im schwarzen Wasser, sah ich ihr Gesicht und der Regen färbte sich rot und wurde so schwarz wie Nacht, als er das Wasser des Stromes berührte.
Ich hörte, wie sich eine Tür öffnete und das Lachen lauter wurde. Ich sah das weiße Kissen auf dem Bett meiner Mutter und sah, wie das Blut von der Decke tropfte und das Kissen rot färbte. So rot wie das Wasser, das über meine Hände lief.
Und ich hörte sie weiter lachen und es schmerzte in meinem Kopf. Ich schloss die Augen und presste meine Hände auf meine Ohren. Und als ich dann die Augen wieder öffnete und nach unten blickte, spülten die Wellen ihr Lachen fort und die Tür schloss sich, und Stille ergoss sich über die Brücke.
Stille, wohltuende Stille. Stille bis an das Ende meiner Tage.

 
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Hallo Brynn!

Angesichts deines Alters ist das ein ziemlich beeindruckender Text. Ich finde, er macht die innere Qual der Heldin ziemlich deutlich. Was mir etwas gefehlt hat: Ich hätte gerne ein bezeichnendes Erlebnis zwischen Mutter und Tochter beschrieben gehabt, durch das die Art der Beziehung zwischen den beiden charakterisiert wird. Sie hat ihre Mutter aufopfernd gepflegt und das schließlich nicht ausgehalten. Aber was darüber hinaus in dieser Beziehung nicht gestimmt hat, das wird nicht gesagt. Vielleicht deutest du ja etwas mit den Holzspänenan, die sich täglich in die Hände bohren. Das ist unklar.

Auch unklar bleibt, wie sie eigentlich ihre Mutter getötet hat.

Mit diesen Händen zerrte ich sie durch die Tür und ließ sie auf der anderen Seite alleine zurück.

Sie lässt sie schwer verletzt in ihrem Zimmer liegen und sterben? Aber diese Unklarheit ist okay, genauso wie die, ob sie sich am Ende ins Wasser stürzt, um sich von ihrer Schuld und von der Mutter endgültig zu befreien. Allerdings wäre es, wenn sie sich nicht ins Wasser fallen lässt, schwer verständlich, wieso sie gerade hier von ihrer Qual befreit wird.

Gefallen hat mir auch die durchgehende Leitmotivik mit Blut und Wasser!

Gruß
Andrea

 

hi brynn

auch mich hat deine geschichte tief beeindruckt - ehrlich.
du beschreibst sehr gut die verstörte beziehung zwischen den beiden frauen da. ich hatte das gefühl, dass die tochter in ihrer mutter eine herrscherin über sich selbst, sah.

nur einpaar ungereimtheiten:

Der Regen durchnässte das dünne T-Shirt und die Jeans, die
ich kenne keine 60 jährige, die dünne t - shirts und jeans trägt. kann aber sein, dass sie aus ärmlichen verhältnissen kommt. ist das so? wenn ja, dann solltest du das erwähnen.
vllt hast du das auch erwähnt. mit den holzspänen, die sich durch ihre hände bohrten. musste sie vllt für ihre mutter arbeiten. also bevor die mutter krank war. das würde dafür sprechen, dass sie keinen sinn darin sieht ein frau zu pflegen, die ihr keine mutter war.
Mit diesen Händen zerrte ich sie durch die Tür und ließ sie auf der anderen Seite alleine zurück. Als die Tür sich schloss, schrie sie verzweifelt meinen Namen, Tränen liefen ihr übers Gesicht und sie griff nach meinen Händen, doch ich zog sie fort und sah zu, wie sie schrie, sich wandte und auf die Knie fiel.
Als die Tür mit einem lauten Knall zuschlug, war alles still
1. die tür wird zweimal zu geknallt.
2. sie kann nicht nach ihren händen greifen, wenn die tür zu ist.;)
3. diese passage hat mich am meisten berührt.:thumbsup:

Zitat von Andy
Auch unklar bleibt, wie sie eigentlich ihre Mutter getötet hat.
bin mir nicht sicher, aber ich denke, da die mutter eh ein pflegefall ist, dass sie ihre mutter einfach rausgeschmissen hat. und die mutter auf sich gestellt war, womit sie nicht sehr weit kam, als bis zum tod. und ich denke auch nicht, dass sie sich umgebracht hat. weil sie sagt, dass sie es um sie still war, bis ans ende ihrer tage.
Stille bis an das Ende meiner Tage.

es ist wirklich eine bittersüße befreiung. die mutter töten, weil sie glaubt so frei zu sein und es dann doch nicht sein.
und dann doch.;)

cu J:baddevil:

 
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Danke erstmal für die Kritik und die guten Ratschläge.

@JoBlack87: Die Stelle, an der sich die Tür schließt, war eigentlich folgendermaßen gemeint: die Tür ist dabei sich zu schließen, also fällt langsam zu und knallt dann letztendlich ins Schloss. Aber möglicherweise habe ich das auch zu ungenau beschrieben, bin mir da nicht so sicher.
Was das T-Shirt und die Jeans angeht, magst du wohl Recht haben, dass eine 60-Jährige sowas normalerweise wohl nicht trägt. Ich könnte die Passage etwas abändern. Fand selbst, dass es mehr nach junger Frau klang. Andererseits ist das mit den ärmlichen Verhältnissen ja auch eine gute Überlegung. Ich werde mal drüber nachdenken.

So, und was die Art und Weise angeht, wie die Mutter getötet wird, gibt es mehrere Auslegungsmöglichkeiten, die ich auch jedem selbst überlassen wollte.
Tatsache ist aber, dass die Frau selbst nicht stirbt bzw. sich nicht umbringt.


Und danke nochmal für die Kritik!

 

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