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Bittersüße Befreiung
Ich stand im Regen auf der Brücke und sah in die Tiefe. 40 Meter weiter unten erstreckte sich ein breiter Strom, in dem das schwarze Wasser davon getragen wurde. Der Regen durchnässte den Pollunder und die Hose, die ich trug, bis sie an meiner Haut klebten. Wasser tropfte von meinen Haaren in die Tiefe und ich sah den Tropfen nach, bis ich sie von den Millionen anderer Wassertropfen nicht mehr zu unterscheiden wusste. Meine Ellbogen ruhten auf dem stählernen Geländer, meine Handflächen waren nach oben gekehrt. Ich starrte darauf und sah das Wasser wie klares Blut die Furchen meiner abgearbeiteten, alten Hände nachzeichnen. Hände, mit denen ich als Kind im Dreck gewühlt hatte, Hände, in die sich Tag für Tag Holzspäne gebohrt hatten, Hände, mit denen ich 15 lange Jahre meine Mutter in ihrem Krankenbett gepflegt hatte. Die Hände einer alten Frau, die im Leben nie mehr gehabt hatte, als das, was man ihr gerade so zugestehen wollte.
Nach 60 Jahren meines Lebens stand ich an der Schwelle des Todes, klopfte an, und ließ jemand anderes ziehen. Mit diesen Händen zerrte ich sie durch die Tür und ließ sie auf der anderen Seite alleine zurück. Als die Tür sich schloss, schrie sie verzweifelt meinen Namen, Tränen liefen ihr übers Gesicht und sie griff nach meinen Händen, doch ich zog sie fort und sah zu, wie sie schrie, sich wandte und auf die Knie fiel.
Als die Tür mit einem lauten Knall zuschlug, war alles still. Doch an meinen Händen klebte noch immer das Blut und in meinem Kopf hörte ich noch immer ihre Schreie, schrill, verzweifelt, voller Angst. Ich gab ihr Leben für meines und hatte doch nichts daraus gewonnen. Alles, was zurück geblieben war, waren, Schuld, Zweifel und Unglück.
60 Jahre hatte ich unter ihr gelitten, 60 Jahre hatte ich mir nichts so sehr gewünscht, wie endlich frei von ihr zu sein. Und nun, da ich es zu sein schien, verfolgte sie mich doch, Tag und Nacht, und ich musste einsehen, dass ich niemals frei sein würde. Umsonst hatte ich meine Hände mit Blut befleckt, umsonst hatte ich auf den passenden Augenblick gewartet. Den es nicht gab, auch das war mir nun bewusst.
Jede Nacht wachte ich schweißgebadet auf, weil ich sie schreien hörte. Ich stürmte in ihr Zimmer, doch dort war sie nicht mehr. Nur das leere Bett und ihr weißes Kissen. Und trotzdem hörte ich sie schreien und sie hörte nicht auf. Die Tür war zwar verschlossen, doch die Laute waren nicht auf der anderen Seite geblieben, sie drangen durch jede Ritze, jeden freien Spalt und füllten meinen Kopf, bis ich weinend zusammenbrach, weil ich es nicht mehr ertragen konnte.
Und wenn das geschah, wenn ich weinend in der Ecke saß und die Schreie aus meinem Kopf zu verdrängen versuchte, dann hörte ich sie plötzlich lachen. Ein lautes, grausames Lachen, das noch mehr schmerzte als ihr Weinen und Schreien, denn ich wusste, dass sie mich auslachte. Sie hatte gewonnen, hatte noch immer Macht über mich und begann zu lachen, und der Wind trug es zu mir herüber. Und ich wusste, dass sie nie mehr gehen würde.
Ich stand im Regen auf der Brücke und sah in die Tiefe. Vom Himmel her regneten ihre Tränen und der Wind trug ihr Lachen zu mir. Unten, im schwarzen Wasser, sah ich ihr Gesicht und der Regen färbte sich rot und wurde so schwarz wie Nacht, als er das Wasser des Stromes berührte.
Ich hörte, wie sich eine Tür öffnete und das Lachen lauter wurde. Ich sah das weiße Kissen auf dem Bett meiner Mutter und sah, wie das Blut von der Decke tropfte und das Kissen rot färbte. So rot wie das Wasser, das über meine Hände lief.
Und ich hörte sie weiter lachen und es schmerzte in meinem Kopf. Ich schloss die Augen und presste meine Hände auf meine Ohren. Und als ich dann die Augen wieder öffnete und nach unten blickte, spülten die Wellen ihr Lachen fort und die Tür schloss sich, und Stille ergoss sich über die Brücke.
Stille, wohltuende Stille. Stille bis an das Ende meiner Tage.