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Blütenstaub
Blütenstaub
Der Stock war warm. Zum ersten Mal im neuen Jahr.
Die anderen waren schon den ganzen Tag fleißig, nur ich war noch etwas träge von der kühlen Nacht.
Meine Flügel waren noch leicht verklebt, doch als ich durch das Flugloch krabbelte und in die Sonne blinzelte und diese meinen Körper wärmte, da entfalteten sie sich, so leicht, wie Buch in den Händen eines jungen Mädchens auf einer Frühlingswiese bei leichter Brise.
Ein kurzer Blick zurück, die Beine einmal durchgestreckt, dann hob ich ab. Meine Schwestern hatten mir schon den Weg zu den nächsten Nektarbädern getanzt.
Mein Körper brummte unter der Vibration meiner Flügel; ich wagte einen Sturzflug, weil mir das Gefühl gefällt, der Erde immer näher zu kommen und dann, im letzten Moment, wieder aufzuschwingen und der Sonne entgegen zu rauschen.
Von hier aus roch ich schon den See aus Blumen und Blüten vor mir. Ein Geruch war schöner und intensiver als der andere. Manche kitzelten meine Fühler, andere striffen sanft meine Beinhärchen. Wieder andere ließen meine Flügel erzittern, während ganz besondere Gerüche mein Hinterteil und damit meinen ganzen Körper zum Beben brachten.
Ich sank tiefer und tauchte in ein Meer aus Blütenstaub ein. Pollen, Pheromone und andere Partikel von Pflanzen surrten um mich herum. Ich ließ mich von meinem Instinkt leiten, der mich zu einer nach Morgentau und Heimat duftenden Kelchblüte führte. Ich landete sanft auf dem ausladenden Kelch und stieg ein in das Nektarbad. Meine Fühler streiften und streichelten die Narbe der Blüte. Mein Körper wanderte langsam in das Innere. Die Staubbeutel betatschten mich, die Staubfäden wickelten sich um meine Glieder. Ich ließ meinen Rüssel in den Nektar hineingleiten und begann zu trinken. Wie lauschendes Gold, wie flüssiges Sonnenlicht ergoss sich das Elixier, dieses von der Pflanze in der ich mich befand geschaffene Wunder, in meinen Körper. Nicht einmal das Fliegen fühlt sich so gut an.
Bald war ich satt von diesem Gefühl. Ich krabbelte langsam rückwärts aus dem Stilglas hinaus und zurück in das strahlende Tageslicht. Es sollte nicht die letzte Blüte für diesen Tag gewesen sein.
Ich kletterte noch in ausladende Sternblüten, gewundene Zwirbelblumen, enge Tunnelblüten und zahllose Klasterblumen an welchen ich mit ein ums andere Mal satt trank.
Als mein Körper zum Zerbersten voll mit Nektar war, meine Füße Pollenstiefel trugen, so groß, dass ich kaum noch abheben konnte, flog ich zurück in Richtung meines Stocks.
Meine Schwestern hatten nicht gelogen, es war ein herrlicher Fundort, ein Paradies für jedes Insekt auf der Suche nach der süßen Lust.
Doch, ach, oh weh, wie war ich verwirrt, als ich zu der Stelle kam, an der mein Volk noch heute Morgen sein zu Hause hatte. Seit Blütenzyklen waren wir dort. So schien es mir zumindest. Lange hatte ich die ankommenden Flugbienen begrüßt und ihnen den zuckrigen Saft abgenommen, den sie brachten.
Doch nun war die Stelle leer. Nur zerquetschtes, platt gedrückt riechendes Gras zeugte von meiner vergangenen Heimatstadt.
Hatte der, mit träge machenden Wolken um sich blasende Mann etwas damit zu tun?
Er war manchmal gekommen und hatte sich unsere Waben besehen. Er hatte uns niemals etwas böses getan, bloß nachgeschaut und seine stinkenden Nebel ausgeatmet. War er der Entführer?
Ich flog so lange über der Stelle an der eben noch der Eingang zum Reich meines Volkes gewesen war, bis ich erschöpft auf einem Stein in der Nähe landete um meinen Körper zur Ruhe zu bringen.
Die warme Mittagssonne wärmte mich, doch selbst sie war mir plötzlich seltsam fremd. Ich war alleine. Nicht wie vorhin auf der Wiese in den Blütenkelchen. Nicht wie auf dem langen Flug. Meine Schwestern waren überall um mich her, selbst wenn ich sie nicht hören oder riechen konnte.
Doch nun war alles fort was ich als Heimat kannte. Nun war ich ein einsames Insekt ohne Volk.
Wohin gehörte ich? Gehörte ich mir nun selbst?
Was für einen Zweck erfülle ich jetzt, da ich keinen Nektar mehr für mein Volk sammeln kann? Den die Arbeiterinnen im Stock einlagern und reifen lassen würden.
Wozu soll ich nun in Nektarbäder steigen?
Wozu den Flug genießen?
Wozu?
Ich krabble etwas ziellos umher. Mein kleiner Körper brummt und summt, meine Organe kribbeln, meine Fühler sinnieren umher, um etwas zu finden, was ich aber nicht finde.
Und wie ich da nun so umher krabble, fühle ich den Drang aufzusteigen und zu fliegen.
Ich schwinge mich in die Luft.
Die Welt beginnt sich wieder leichter anzufühlen. Die Schwere meiner Gedanken löst sich von mir ab.
Ich sauge ihr jedes Molekül aus, das ich finden kann. Ich schmecke die Farben der Pflanzen um mich her; ich fühle die Vibrationen des Lebens das mich umgibt.
Mal hier hin, mal dort hin schwirre ich, summe Käfer an, streichle Blätter und betatsche die Stängel der Blumen. Kein Ziel hält mich, keine Aufgabe gibt mir Halt. Frei, losgelöst wie eine Feder im Wind aus dem Kleid eines Vogels, fliege ich meine Kreise und Linien in die Luft.
Wozu brauche ich ein zu Hause, wenn die Welt selbst mein zu Hause ist?
Irgendwann bemerke ich, dass ich langsamer werde. Auch das erneute Baden in Nektarwannen hilft nicht dagegen. Es wird immer kälter. Ich beginne zu erstarren.
Die rote Sonne küsst den Horizont und begräbt sich sanft darin. Die Farben beginnen dunkler zu schmecken, der süße Duft beginnt zu verblassen, die Kelche des Lebens verschließen sich vor mir.
Selbst meine Sinne werden stumpfer, verblassen langsam mit der heraufziehenden Nacht.
Meine Schwestern, wie seid ihr wohl gesegnet mit der Wärme eines Zuhauses in Gesellschaft.
Wie schön wäre es jetzt gemeinsam zu brummen, zu dösen, zu schnurren und leicht mit den Flügeln zu wackeln um die Luft im Stock warm zu halten. Und mit der aufwärmenden Sonne erneut aus zu fliegen in die Wiesen und Wälder die uns umgeben. Wie schön wäre es, zu sammeln und das gesammelte weiter zu geben. Damit die anderen Futter haben, die Jungen versorgt sind; unser Weiterleben gesichert ist. Wie schön wäre es noch einmal zu fliegen. Nur ein letzter Flug. Der Wunsch lässt meinen Körper vibrieren. Ich kann mich wieder bewegen, ich breite meine Flügel aus und schieße in die Luft. Bis ich nicht mehr kann fliege ich nach oben, dem bereits aufgegangenen Mond entgegen. Fast habe ich das Gefühl gegen ihn zu stoßen, dann beschaue ich die Welt unter mir. Wie klein sie ist. Wie schön sie im Mondlicht schimmert. Ich beginne meinen letzten Sturzflug, die Luft zischt an mir vorbei. Schneller und schneller werde ich. Noch niemals bin ich so schnell der Erde unter mir entgegen geprescht. Ein letztes Mal fliegen, ein aller letztes Mal fühlen. Berauscht von der Geschwindigkeit.