Hallo Fliege!
Ich kann mich der allgemeinen Begeisterung leider nicht anschließen. Weder kann ich die hochgelobte Charakterisierung finden, noch finde ich in der Geschichte, was offenbar Dein Ziel war:
Um ehrlich zu sein: er ist so Ich-bezogen, dass er eigentlich niemanden neben sich duldet

. Er braucht die Aufmerksamkeit ganz für sich allein.
Ich sehe nur eine konstruiert wirkende Situation, in der mir die Erzählerin ihre vorverurteilende Meinung aufs Aug drücken will, wobei sie selbst viel mehr dem entspricht, was Du ihm angedacht hattest.
Konstruiert wirkt die Situation für mich vor allem, weil ich mir keinen Reim machen kann, wie die beiden aneinandergeraten sind – sie werden wohl zuvor gechattet, telefoniert oder sich Mails oder Briefe geschrieben haben, daher wirkt es seltsam, daß sie so gar nichts voneinander wissen; mit einer Ausnahme:
„Hallo, ich bin Anna“, reiche ich ihm die Hand und setze mich.
„Sehr erfreut Sie kennen zu lernen, Anna“, spricht er charmant, umrahmt von einem warmen Lächeln, „schön, dass Sie heute Zeit für mich haben.“
Sie erkennt ihn ja offenbar recht sicher, da sie sich gar nicht vergewissern muß, ob er tatsächlich derjenige ist, den sie treffen wollte, also dürften sie zumindest schon Fotos ausgetauscht haben, und das wohl nicht, ohne auch ein paar Worte miteinander zu wechseln; die Gelegenheit hätte der angeblich so ich-bezogene Mann ja sicher genützt und von sich erzählt – warum kam da nicht schon zutage, daß die beiden sowas von nicht zusammenpassen? Oder hat er ihr wortlos ein Foto samt Termin geschickt?
– »reiche ich ihm die Hand« ist kein Redebegleitsatz; und da Du ursprünglich »kennenzulernen« zusammengeschrieben hattest, kannst Du es auch wieder zurückändern, da beide Varianten erlaubt sind.
Wir sitzen uns gegenüber und er schaut mich an.
Sie ihn etwa nicht?
Außerdem steht oben schon »setze mich«, da könntest Du das »gegenüber« direkt anhängen.
„Einen sehr hübschen Pullover tragen Sie.“
Damit stufe ich ihn erst einmal als schüchtern/verlegen und höflich ein – er versucht, die Stille zu durchbrechen, weiß aber nicht so recht, wie. Er könnte natürlich auch übers Wetter reden, oder, da er ja so selbstbezogen sein soll, über sich, aber nein, er macht ihr ein verlegenes Kompliment – sicher kein Zeichen von Ich-Bezogenheit.
Ich schaue an mir herunter, als wüsste ich nicht, was ich anhabe, dabei hat die Auswahl der Kleidung den halben Tag beansprucht. Es ist ein einfacher, schwarzer Wollrolli, nichts Aufregendes.
– schaue an mir
hinunter
Die Erzählerin outet sich damit als auf Äußerlichkeiten bedachte Schauspielerin, wodurch sie mir nicht besonders sympathisch wird.
„Vielen Dank. Ich mag ihn sehr, wissen Sie.“
Was ihm an Oberlehrerhaftigkeit nachgesagt wird, spielt zuerst sie mit diesem »wissen Sie« aus.
„Danke“, wiederhole ich mich verlegen.
Sie wiederholt nicht sich sondern das Danke. Offenbar weiß sie auch nicht viel anderes zum Gespräch beizutragen.
„Wissen Sie, Anna, ich selbst habe es ja nicht so mit Sachen.“
Ich begutachte sein Hemd, ebenfalls nichts Aufregendes, aber auch kein Zeichen schlechten Geschmacks. Der Rest hält sich unter dem Tisch verborgen. Tief in mir hoffe ich, er möge keine orangekarierte Hose und grüne Schuhe tragen.
Ein weiterer Versuch seinerseits, ein Gespräch zu beginnen. Für sie Anlaß, sich Gedanken über sein Äußeres zu machen und über Hose und Schuhe zu spekulieren, die sie wohl auch sehen könnte, wenn sie sich zurücklehnen und dabei einen Blick unter den Tisch werfen würde, aber dann könnte sie dem Leser vermutlich keine orangekarierte Hose samt grünen Schuhen ins Charakterbild zaubern, um damit auszudrücken, wie peinlich ihr das wäre. Sie scheint vollkommen auf Äußerlichkeiten fixiert zu sein.
„Wie meinen Sie das? Sie haben es nicht so mit Sachen?“
„Ich habe zum Beispiel nur zwei Jeans. In denen fühle ich mich sehr wohl. Wohlfühlen ist wichtig, Anna. Deshalb ersetze ich auch eine kaputte immer durch die gleiche Marke.
„Ah“, sage ich und denke an den Haufen Kleidung, der sich auf meinem Bett stapelt.
Fast hätte sich ein Gespräch entwickelt – würde sie es nicht mit diesem wissenden »Ah« abwürgen und sich ihren einfältigen Teil wiederum nur denken. Vielleicht ist er ja vielfältiger und hat irgendwelche besonderen Gründe für seine Gewohnheit, aber wir als Leser werden das nicht erfahren, da die Erzählerin ja schon beim Verurteilen ist, denn sie und ihr Gewandhaufen am Bett sind das Maß der Dinge und was davon abweicht, ist per se schlecht oder knausrig oder was auch immer, jedenfalls keinen Einstieg auf ein Gespräch wert.
Die Bedienung kommt an den Tisch und fragt nach unseren Wünschen.
„Oh, ich habe noch gar nicht ...“, ich greife zur Karte. „Wenn Sie vielleicht noch mal ...“
„Wie wäre es mit einem einfachen Kaffee bei Ihnen?“
„Ja, Kaffee ist gut. Einen Milchkaffee.“
„Zwei Kaffee für uns bitte, keinen Milchkaffee.“
Ich blicke ihn fragend an.
– »ich greife zur Karte« ist kein Redebegleitsatz.
Ja, die Bevormundung ist natürlich völlig daneben. Gleichzeitig aber so ungewöhnlich, daß ich sie nicht als
typisch für irgendeinen bestimmten Charaktertyp einstufen kann. Würde er es nicht anschließend erklären, wäre meine Vermutung, daß es seine Antwort auf ihre ablehnende Haltung sein könnte.
Andererseits liegt es auch an ihr, sich nicht bevormunden zu lassen, sondern stattdessen der Kellnerin noch einmal zu bestätigen, daß sie einen Milchkaffee will. Das tut sie aber nicht, sondern sie läßt es sich gefallen und blickt ihn nur fragend an.
Auch die Kellnerin hätte natürlich noch einmal nachfragen können – sie nimmt offenbar automatisch das Wort des Mannes als das gültige an. Ganz klar liegt der Geschichte die konservative Einstellung zugrunde, daß der Mann immer zahlt, anders kann es wohl nicht zu dieser Situation kommen.
„Der Milchkaffee ist über einen Euro teurer als der normale Kaffee, wussten Sie das?“
Nein, das wusste ich nicht. Aber es kommt mir jetzt auch nicht ungewöhnlich vor.
„Dabei ist es nur ein Schluck Milch mit heißer Luft“, zufrieden lächelt er seinem Spiegelbild in der Fensterscheibe zu, als hätte er mir gerade das Leben gerettet.
– »zufrieden lächelt er« ist kein Redebegleitsatz.
Wiederum gibt die Erzählerin ihre Antwort nur in Gedanken. Er muß sich ja langsam vorkommen, als führte er Selbstgespräche, also ist es doch passend, wenn er dabei sein Spiegelbild anschaut. Vielleicht lächelt er dabei deshalb so selbstzufrieden, weil er ihr auf so subtile Art gesagt hat, daß ihm diese Art der Unterhaltung keinen Euro mehr als nötig wert ist?
„Wissen Sie, Anna, man muss heutzutage sehr aufpassen.“ Sein Lächeln ist dem Ernst des Lebens gewichen. „Dass man nicht über den Tisch gezogen wird.“ Der mahnende Zeigefinger unterstützt die Schwerlast seiner Aussage.
Auch sehr schön doppeldeutig. Er kann natürlich den Kaffee meinen, wobei sie ja kontern könnte, daß in dem Euro nicht nur Milch und Luft, sondern auch die Arbeitszeit der Kellnerin steckt. Aber vielleicht meint er auch, daß er sich von keiner Frau, die nicht einmal an einem Gespräch interessiert ist, ausnehmen läßt. Somit wäre die Boshaftigkeit ganz auf seiner Seite und sie diejenige, die das nicht checkt.
Als der Kaffee kommt, nimmt er das beiliegende Zuckertütchen und steckt es in die Tasche.
Dann beobachtet er sich beim Trinken und schweigt.
Warum sollte er noch weiterreden, wenn sie ja doch nicht darauf einsteigt?
Sparsamkeit (oder was danach aussieht) kann auch verschiedene Gründe haben – warum fragt sie ihn nicht danach?
Wenn ich einen Kakao bestelle, brauche ich meistens keinen Zucker oder nur einen, es sind aber zwei dabei – den übriggebliebenen stecke ich ein. Nicht, um zuhause meine Zuckerdose damit anzufüllen, sondern weil so beim nächsten Mal, wenn ich Tee bestelle und drei Zuckersäckchen haben möchte (aber immer vergesse, es gleich bei der Bestellung zu sagen), nicht die Kellnerin extra um das dritte laufen muß, sondern ich eines aus der Tasche nehmen kann. – Aber die Erzählerin wollte natürlich nicht zeigen, daß der Mann vielleicht praktisch denkt (noch dazu hätte sie mit ihm reden müssen, um das zu erfahren), sondern setzt voraus, daß der Leser sich wie sie keine anderen Gründe dafür vorstellen kann als Knausrigsein.
Ich schiebe meinen Zucker zu ihm hinüber und verabschiede mich.
Ein paar Ecken weiter bestelle ich mir einen Kaffee mit Milch und heißer Luft.
Am Ende kann ich ihr wirklich nur wünschen, auf einen schmucken Herzeigemann zu treffen, der das Geld großzügig beim Fenster hinauswirft, bis sie am Ende dasitzt mit zwei Kindern und nicht mehr weiß, wovon sie die Miete bezahlen soll. Wetten, sie steckt dann das Zuckersäckchen ein?
Liebe Grüße,
Susi