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Blondie
»Fuck!« Hassan hämmerte die Tür so kräftig zu, dass die Wand bebte. Er warf sich mit dem Rücken dagegen und blieb angelehnt stehen, um erst einmal wieder zu Atem zu kommen. Kurz kam ihm ein schräger Gedanke hoch. Was, wenn ein Killer jetzt einfach durch die Tür schießt, um ihn zu erledigen? Aber den Gedanken verwarf er als Paranoia. Vorsichtshalber rannte er trotzdem weiter ins Wohnzimmer und warf sich keuchend auf das Sofa. Was zur Hölle war denn da gerade passiert?
Er konnte es kaum fassen. Er hatte doch nur kurz einkaufen gehen wollen. Okay, seit dem Ausbruch der Seuche geriet die ganze beschissene Welt aus den Fugen. Aber wenn man nicht mal mehr zum Supermarkt gehen kann, ohne dass irgendwelche durchgeknallten Bitches dich abmurksen wollen? Seine Gedanken rasten. Wie konnte das denn bitte so hart eskalieren? Aber er war ja selber schuld, er hätte einfach nicht so nachlässig sein dürfen. Er schaute aus dem Fenster seiner Einzimmerwohnung. Draußen sah es aus wie ein ganz normaler Dienstag. Sonne, blauer Himmel, ein Cargo-Zeppelin zog wie eine große graue Wolke zwischen den Wohntürmen vorbei. Verdammt, er war einfach zu unvorsichtig gewesen …
Gerade mal eine halbe Stunde vorher hatte er im Supermarkt vor den halbleeren Regalen gestanden und eine überteuerte Dose Nudelsuppe in der Hand gehalten. Die Woche über hatte er kaum Geld ausgegeben, konnte sich den kleinen Luxus also eigentlich leisten. Das war das einzig Gute an der ganzen Sache: Seit die Seuche ausgebrochen war, konnte man eigentlich gar kein Geld mehr raushauen. Nur für Lebensmittel und Schutzmasken. Er hatte die Suppenkonserve in der Hand behalten und war den leeren Supermarkt-Gang hinuntergegangen zu den Getränken. Vielleicht gab es heute ja mal wieder Bier … Und da hatte er sie gesehen. Bei den Weinflaschen. Sie studierte die Preise. Hassan stand gar nicht so auf Blondinen. Um ehrlich zu sein, stand er einfach auf alles, was mit ihm ins Bett stieg. Punkt. Aber die Frau mit den blonden Haaren hatte alles, um einen Mann verrückt zu machen: Beine, die oben aus unanständig kurzen Jeansshorts herauskommen, unten in billigen weißen Lackpumps enden und dir irgendwo auf halbem Weg den Verstand ausknipsen. Die schmale Taille, das weiße enganliegende Trägertop… diese Frau war Sex pur.
Okay, langsam reiten, Cowboy, sagte er sich selbst. Nur weil eine Frau sexy angezogen ist, und in einem echt miesen Stadtteil billigen Rotwein kauft, heißt das nicht, dass sie leicht zu haben ist. Er probierte trotzdem sein Glück. Er musste einfach. Seit der Seuche hatte sich sein Sexleben auf Null reduziert. Klar, wenn sich alle nur noch mit Atemschutz und Abstandsregeln beschäftigen, hat niemand mehr Bock auf schnellen Sex. Die Ansteckungsgefahr war viel zu groß. Zum zigtausendsten Mal verfluchte Hassan diese Aliens, die weiß Gott warum, vor einem Dreivierteljahr ihre beschissene Seuche auf die Welt geworfen hatten. Seitdem starben die Menschen wie Fliegen. Ohne Atemmaske auf die Straße zu gehen, war reiner Selbstmord. Er trat trotzdem von hinten an die Frau heran und hoffte, mit seinem schweren Atmen durch den Luftfilter der Maske nicht zu klingen wie ein keuchender Triebtäter.
»Nehmen sie den, der ist gut.« Er zog wahllos eine Flasche Rotwein aus dem Regal und hielt sie ihr hin. Er hatte gar keine Ahnung von Wein, fand das aber eine geschickte Einleitung. Die Blondine drehte sich zu ihm und ihre Augen weiteten sich überrascht. »Hassan!« Ihre Stimme klang gedämpft durch den Filter.
Nun war er baff. Er hätte schwören können, er hatte diese Frau noch nie gesehen. »Äh, … ja. Kennen wir uns?«
Die Blondine schüttelte energisch den Kopf. »Verzeihen sie, ich habe sie verwechselt.«
Sie drehte sich um und ging.
»Hey, nein, ich bin Hassan«, rief er ihr hinterher. »Sorry, ich steh gerade auf dem Schlauch.« Er stellte die Flasche zurück ins Regal, seine Suppendose daneben, und lief der Frau nach.
Er holte sie draußen auf der Straße neben dem Supermarkt ein und überholte sie. »Hey, Lady, nicht so schnell«, versuchte er es mit dem jugendlichen Charme, den er in über drei Jahrzehnten perfektioniert hatte. »Das ist unfair. Sie wissen, wie ich heiße, aber ich weiß gar nichts über sie. Wie wäre es mit einem Kennenlern-Drink, und ich krieg eine zweite Chance?« Er probierte es mit einem verschmitzten Lächeln, das unter seiner Maske aber wirkungslos blieb.
Die Frau schaute ihm direkt in die Augen. Sie überlegte wohl, was sie sagen sollte. Überlegen ist gut, dachte Hassan. Wenn sie überlegt, hat sie schon mal nicht nein gesagt. Sein Jagdinstinkt erwachte. Er beschloss, aufs Ganze zu gehen. Alles oder nichts: »Ich wohne gleich da vorne, wir könnten zu mir gehen, und …« Sie unterbrach ihn.
» Hassan. Erkennst Du mich nicht?« Jetzt kicherte sie wie ein Schulmädchen.
Fuck, bist Du heiß, dachte er.
»Sorry. Wie schon gesagt, ich stehe auf dem Schlauch.«
Sie zog ihre Atemmaske an den Gummibändern vom Kopf und strahlte ihn an. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. »Hey, Lady, das ist aber ziemlich riskant. Sie sollten die Maske drauflassen, solange wir draußen sind.«
Sie warf ihm einen koketten Blick durch ihre aufgeklebten Wimpern zu. »Schon okay, keine Sorge.«
Er war mit der Situation überfordert. War sie einfach nur cool, oder lebensmüde? Sollte er seine Maske auch abnehmen, um zu zeigen, dass er genau so lässig war? Scheiße, nein. Die spinnt doch. Man weiß nie, wann man eine Ladung Viren einatmet.
»Okay, tut mir leid«, versuchte er einen Rückzieher. »Ich erinnere mich wirklich nicht an sie, und ich muss jetzt auch weiter. Ich wollte nur Hallo sagen. Vergessen Sie’s …«
Sie packte ihn am Arm und hielt ihn fast zärtlich fest.
»Ich bin’s, Natalie. Natalie Börner.« Sie blickte ihm erwartungsvoll in die Augen und wartete … und dann kam es ihm.
»Frau Börner? Meine … alte Mathematiklehrerin?« Er war verwirrt. Im Kopf brachte er das heiße Geschoss vor ihm und seine faltige Lehrerin von damals nicht voreinander. »Ist das … ein Scherz?« Er blickte um sich, aber sie standen alleine in der Gasse zwischen den Gebäuden.
Sie kicherte wieder. Aber diesmal wirkte es so gar nicht verführerisch. »Ach komm schon. Du verstehst ganz richtig, warst doch immer ein Schlauer.«
Und ja, leider. Er verstand.
Seit das Mutterschiff am Himmel erschienen war, hatte er immer wieder davon gehört. Dass es Überläufer gab. Die, warum auch immer, sich auf die Seite der Aliens schlugen und für sie arbeiteten. Spionierten herum, meldeten irgendwelchen Kram an die Außerirdischen, so genau wusste das keiner. Und als Bezahlung bekamen sie angeblich eine Impfdosis gegen die Seuche. Aber das hier?
»Transzelluläre Erneuerung«, sagte Frau Börner in sachlichem Ton. »Sie stecken dich in eine Maschine, und du kommst als junge Frau wieder heraus.«
Sie strich sich lächelnd selbst über ihren makellosen nackten Oberarm. »Alles, was ich dafür tun musste, war, ihnen da oben ein paar Akten zu besorgen, aus dem Krankenhaus. Mein Mann war Arzt, und es hat keinen gejuckt, dass ich ihn in seiner Mittagspause besuche und … ein bisschen Kram mitgehen lasse.« Sie zwinkerte vertraulich.
Dann packte sie ihn wieder am Arm, fester diesmal.
»Mein Fehler, Hassan. Ich hätte nicht so von Dir überrascht werden dürfen. Jetzt, fürchte ich, haben wir hier ein Problem.«
Sie lächelte nicht mehr, ihr Gesicht sah bitter und entschlossen aus.
Er wand sich los, taumelte zwei Schritte rückwärts.
Sie war schneller, riss ihm die Maske vom Gesicht.
Jetzt brach er in Panik aus. Er hielt sich die Hand vor den Mund, aber das war natürlich sinnlos. Wenn hier Viren in der Luft waren, hatte er sie bereits eingeatmet. Er wollte ihr seine Maske aus der Hand reißen, kurz zogen beide an den Gummibändern, dann schubste er sie in brutaler Verzweiflung und sie fiel rückwärts zu Boden. Mit einem Knacken schlug ihr Kopf auf der Bordsteinkante auf. Sie blieb reglos liegen. Hassan setzte sich panisch keuchend seine Maske wieder auf und sah eine kleine Blutlache, die sich schnell von ihrem Hinterkopf über den Asphalt ausbreitete. Ihr Blick ging starr in den Himmel. Sie atmete nicht. Er stolperte rückwärts, drehte sich um und begann zu rennen. Rannte zwei Block weit nach Hause. Und hielt erst wieder an, als er seine Wohneinheit erreicht und die Tür hinter sich ins Schloss geworfen hatte. Nun saß er immer noch völlig außer Atem auf seinem Sofa und wägte seine Optionen ab. Er hatte sie umgebracht! War das den Aliens egal, ein Spion mehr oder weniger … oder würden sie sich rächen? Er lauschte in die Stille seiner Wohnung, versuchte sich auf Geräusche außerhalb zu konzentrieren. Aber da war nichts. Keine hektischen Schritte auf dem Flur, kein Lärm auf der Straße.
Er musste jemanden anrufen. Die Polizei oder so. Jemandem sagen, dass die Gerüchte stimmten! Dass es Überläufer gab, die aussahen wie eine jüngere Version ihrer selbst. Die da draußen herumliefen und spionierten. Er hatte keine alte Lehrerin gekillt, sondern einen Scheiß-Alienspion! Herrgott, außerdem war es ein Unfall gewesen! Er schlug die Hände vors Gesicht und fluchte laut: »Shit, shit, shit.«
Er blickte wieder aus dem Fenster. Der Zeppelin bog gerade um einen Wohnturm und schwebte gemächlich weiter davon. Oder … oder er konnte es von der praktischen Seite aus betrachten. Er hatte einen Spion kalt gemacht. Na und? Eine alte Schateke im Körper einer jungen Frau. Außerdem hatte er ihren Mathematik-Unterricht immer gehasst. Den Aliens war doch ein Mensch mehr oder weniger völlig egal. Sie waren immerhin drauf und dran, die gesamte Menschheit auszurotten! Aber was, wenn er sich angesteckt hatte? Die verrückte Schnalle hatte ihm die Maske vom Gesicht gerissen. Heiß brennend überkam ihn der Gedanke, dass er mit ziemlicher Sicherheit am Arsch war. Außer … außer, er würde den Aliens klar machen, dass er wertvoll sein konnte. Hey, wenn eine Mathematiklehrerin für sie wichtig genug war, um sie einmal durch den Jungbrunnen zu ziehen, dann konnte er denen doch auch etwas bieten. Immerhin arbeitete er beim Bauamt. Er hatte Zugang zu Dokumenten! Unterirdische Kanalisation und so einen Kram. Pläne der ganzen Stadt. Er war wertvoll, verdammt nochmal! Jetzt grinste Hassan.
Jungbrunnen. Und immun gegen die Seuche. Nicht das Schlechteste! Er konnte noch mal neu anfangen, wieder sexy sein, gesund, ohne Angst vor der beschissenen Pandemie. Und wenn er seinen Job gut machte, würden die Aliens ihn vielleicht belohnen. Er würde ihnen alles verraten, was sie wissen wollen. Soll doch die ganze Menschheit abkratzen, er würde überleben! Und sie würden sich erkenntlich zeigen. Wer sich mit ihm anlegt, wird einfach den Aliens verraten, und sie löschen denjenigen aus. Sofort fielen Hassan drei, vier Arschlöcher ein, mit denen er noch eine Rechnung offen hatte. Der alte Sack, der über ihm wohnte und sich immer beschwerte, dass er zu laut Musik höre. Sein Vorgesetzter im Amt, der seine Beförderung abgelehnt hatte. Er würde es ihnen allen zeigen. Er musste nur überlegen, wie er mit den Aliens in Kontakt kommen konnte. Der Rest würde sich schon von alleine regeln. Hassan trat auf den schmalen Balkon und blickte hoch zum Himmel. Wie macht man es, dass die Typen im Mutterschiff auf einen aufmerksam werden? Es wird wohl kaum reichen, auf dem Balkon zu stehen und zu winken. Er könnte ein Bettlaken ans Fenster hängen, auf das er irgendeine Nachricht schrieb. Kommt mich holen, oder so. Ihm wurde schwindlig vor Erregung. Sein Leben würde sich grundlegend ändern. Das war wie ein Sechser im Lotto, damals, als die Welt noch in Ordnung war. Nur viel, viel besser. Er würde … Moment. Irgendetwas stimmte nicht. Ihm wurde tatsächlich schwindelig. Aber nicht vor Erregung. Er wischte sich über die schweißnasse Stirn. Scheiße. Seine Hand war voller Blut. Er schwitzte Blut! »Fuck« rief er laut und blickte verzweifelt zum Himmel. Kein Raumschiff in Sicht, keine Aliens, die ihn holen kamen. Nur Wolken, ein ganz normaler Dienstagnachmittagshimmel. Und ein Zeppelin, der gemächlich in der Ferne davon schwebte.
Lustig, was so die letzten Gedanken eines Menschen sind, wenn alles den Bach runter geht. In seinem Fall: Er hatte ihren scheiß Mathematikunterricht immer schon gehasst!