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Blutfehde Derkodan
Den Finger an der Abschusssehne, die Augen starr auf die Schattengestalt gerichtet, deren einzige Sorge es zu sein schien, rasch den schutzbietenden Türvorsprung zu erreichen, spürte Contrajo kaum mehr den herabprasselnden Regen, der seinen Mantel schwarzem Blei gleich auf seinen Schultern lasten ließ.
Sein Puls war ruhig und seine Hände hielten den Bogen sicher; erschreckend sicher, merkte er doch, wie der spärliche Rest seines Gewissen sich noch immer gegen seine Gefühle wehrte. Doch es war die Gier nach Vergeltung, die seine Vernunft wie eine graue Klaue umschloss.
Contrajo kniff die Augen enger zusammen. Da geschah es, dass die Regenschleier mit Mal auseinander rissen und im Licht eines Blitzes erkannte er das Gesicht des Mannes. Zu spät hob dieser den Blick zum Wehrgang. Das letzte, was er sehen sollte, war nur ein Schatten vor einem Himmel aus brodelnder Dunkelheit.
Der Donner schlug herab und untermalte den todbringenden Treffer.
Mit stummer Miene sah Contrajo sein Ziel zusammenbrechen und zugleich legte sich ein lindernder Schatten aus Genugtuung über die Rachsucht, die ihn bis hierher getrieben hatte.
„Contrajo, der Sanftmütige!“ erklang es da unvermittelt hinter ihm und der Schütze fuhr erschrocken herum, um sogleich in das breite, spöttische Grinsen einer jungen Frau blicken zu müssen. „Contrajo, der Friedsame. Der Gütige. Die Stimme eures Gewissens!“ Sie kostete den Moment wahrhaft aus, während eine heimtückische Schadenfreude in ihren Augen funkelte. „Und jetzt steht er hier!“
Von plötzlichen Unbehagen erfüllt, zog Contrajo sich die schwarze Kapuze tiefer ins Gesicht.
„Als Rachengel!“
Die Wut übermannte ihn mit einer Stärke, wie er es selten erlebt hatte. Grob packte er das Handgelenk der Frau und warf ihr unter dem Rand seiner Kapuze einen langen, vernichtenden Blick zu. „Halt den Mund, Ladiene! Sie werden uns noch entdecken!“
Sie machte eine Kopfbewegung zu der Leiche im Hof und sagte regelrecht sanft: „Keine Sorge. Dafür hast du schon gesorgt.“
Contrajo rang sich ein unwilliges Grollen ab und stieß ihre Hand fort, ehe er sich seinen Bogen grob über die Schulter legte. Seine Kleider waren inzwischen völlig durchnässt und klebten wie eine zweite, kalte Haut.
Er hätte sie bemerken müssen! Er hätte ahnen müssen, dass sie seine vorgetäuschte Ruhe durchschauen und ihm folgen würde!
Das einzige, was er nun wollte, war auf dem schnellsten Wege von hier zu verschwinden, bevor diese Bastarde den Toten fanden!
Er wandte sich zum Gehen. Wenn er...
„Wegen Dhurio, richtig?“
Contrajos Körper verkrampfte sich, als er den Namen seines Bruders hörte. Den Namen seines toten Bruders.
Ermordet.
Auf den feuchten Steinen des Wehrgangs glänzte sein dunkles Spiegelbild im Licht eines Blitzes.
Gerächt.
„Es ist Vergangenheit“, erklärte er tonlos und hätte er nicht dieses leise Nagen an seinem verwundeten Herzen gespürt, er hätte sich mit dieser Antwort in sein altes Leben zurückgezogen, ohne dem Ganzen je wieder einen einzigen Gedanken zu widmen.
„Natürlich“, grinste Ladiene wissend und folgte ihm, als er den Wehrgang entlang ging, den Blick in die Ferne gerichtet. Leichthin fuhr sie fort: „Du wirst es einfach vergessen. So wie Silbano den Mord an seinen Eltern vergessen hat. So wie Elijanna über den Foltertod ihres Mannes hinweggekommen ist.“ Plötzlich wurde ihre Stimme schneidend. „Oder so wie ich vergessen habe, wie sie meiner kleinen Schwester vor meinen Augen die Kehle durchschnitten!“
Nun blickte Contrajo zu ihr zurück. Er sah den Zorn und den nie erloschenen Hass in ihren Augen brennen. Im Schein der Blitze fiel ihm wieder auf, wie ausgezehrt und schmal das Gesicht der jungen Frau wirkte und um wie viel älter sie ihr Groll machte.
Das letzte Stück zum nächsten Wehrturm gingen sie schweigend nebeneinander her. Dort angelangt, trat Contrajo unter den Schutz des schmalen Vordachs, lehnte sich gegen die kalten Mauersteine und blickte zu Ladiene herüber. „Ich lasse mich da nicht mit reinziehen“, sagte er ihr entschlossen ins Gesicht.
Sie lachte nur kurz und erwiderte mit undeutbarer Miene: „Du steckst schon mittendrin, glaub mir.“
Er schüttelte den Kopf. „Ich habe meinen Bruder gerächt. Das war alles, was ich wollte.“
„Und deine Rache hast du bekommen?“ Es stand mehr als diese bloße Frage in ihren Augen.
Contrajo zögerte und nickte schließlich wider besseren Wissens, denn alles andere hätte bedeutet, sich eingestehen zu müssen, dass Ladiene ihn richtig einschätzte. Dass er nicht aufhören würde, ehe er den wahren Mörder seines Bruders zur Rechenschaft gezogen hatte, und dass es auch damit nicht enden würde...
Die bittere Realität war: Wollte man jeden einzelnen ermordeten Verwandten rächen, müsste man weit mehr als ein Menschenleben damit zubringen. Die Blutfehde Derkodan war ein Teufelskreis aus Mord und Rache innerhalb der mächtigsten von den alten Familien. Niemand konnte mehr mit Bestimmtheit sagen, weswegen oder wann genau dieser schleichende Krieg in all seiner Grausamkeit ausgebrochen war. Doch auf jeder der beiden Seiten war man sich einig, dass man selbst – nur man selbst - das Recht auf den ehrwürdigen Namen Derkodan besaß.
Es war hoffnungslos, zu glauben, der angewachsene Hass könne irgendwann getilgt werden. Er konnte es nicht. Nicht jetzt und nicht in Zukunft!
Darum hatte Contrajo nach besten Kräften versucht, sich dem Sog der Blutfehde zu entziehen...
Was es ihm gebracht hatte?
Er musste sich nur umsehen, dann wusste er es.
„Mach dir nichts vor“, ergriff Ladiene das Wort. „Du konntest dich lange raushalten, aber das ist jetzt vorbei.“ Sie lächelte grimmig. „Willkommen im Krieg.“