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Bonn oder Irgendwo
Eine Dohle landet auf dem Kopfsteinpflaste vor Miryams Füßen.
„Oh.“, ruft sie aus. „Wie süß.“
Der Vogel kackt und fliegt davon.
Wir lachen.
*
Ich bin auf dem Weg zur Arbeit. Noch eineinhalb Stunden bis ich ankommen werde. Der Lärm der Straßenbahn begleitet meine Gedanken. Literatur, denke ich, Literatur ist wie ein Zug. Ja. Du stehst am Gleis und wartest auf deine Bahn. Es fährt ein kreischend polternder Güterzug vorbei, du hälst dir die Ohren zu, um dein schäumendes Trommelfell zu schützen und hoffst nur noch, dass alles bald vorbei sein wird. Vielleicht zählst du auch die Waggons, wie du es als Kind getan hast. Aber der richtige Zug, ob schnell oder langsam, nimmt dich mit. Literatur nimmt dich mit...ist nur durch sich selbst beschreibbar.
Die Bahn stoppt an der Haltestelle „Bundesrechnungshof“. Durch das reklamebeklebte Fenster sehe ich ein Paar auf den orangefarbenen Plastikstühlen am Gleis sitzen. Die wasserstoffblonde Frau trägt außer einer Jacke, die fast nicht mehr ihre bleichen Oberschenkel bedeckt, und Schuhen nichts. Kälte nimmt in jede Richtung zu. Sie nimmt ein Feuerzeug und hält es unter einen Löffel. Der Mann neben ihr starrt glasig ins Leere. Hinter ihnen an der Wand klebt ein Poster von Beethoven.
*
Es ist spät. Alles erliegt der Nacht. Wir spazieren das Rheinufer entlang. Miryam ringt nervös die Hände. Endlich reden wir. Ein Lichtermeer aus Girlanden und fernen Kerzen umstrahlt unsere Worte und spiegelt sich wieder auf den kräuselnden Wellen. Die Möwen kreisen weit über unseren Köpfen. Es ist still, schön, ehrlich. Seit langem empfinde ich wiede das Gefühl von Schwesterlichkeit.
Aus dem Schatten nähert sich eine dunkle Gestalt. Füße schlurfen müde auf Ausphalt. Der Mann ist groß, unrasiert, jung. Erschöpft, als würde die Nacht sich auf seinen Schultern ausruhen.
„Hey!“ raunt er uns zu. „Ihr wartet nicht zufällig auf ´nen Ticker, oder?“
*
Feuerrot und purpurn verschmilzt die Sonne mit dem Horizont, taucht das Wasser, die Berge und dein Gesicht in Atemlosigkeit. Wie ein König aus der ersten Zeit wacht der Drachenfels über das Tal. Du bist mit mir gekommen, heraus auf die weiße Veranda. Lange schweigen wir. Nur das sanfte Rauschen der Stadt und das Klirren der Teetassen ist zu hören.
„Ich liebe dich nicht mehr.“
„Ich weiß.“, antworte ich. Ein Atemzug, nicht tief, nicht flach, nur ein Atemzug. „Schmeckt dir der Tee?“