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Brainpower
Brainpower
(Version 2)
Der süße Duft der Wildrosen, die am Rand des Waldpfades wachsen, liegt wie ein schweres Parfum in der Luft. Die Wiese in der Waldlichtung, überzogen mit einer Mischung von Farbklecksen der Wildblumen, riecht ganz nach Sommer. Bunte Schmetterlinge fliegen durch die Luft, wiegen sich im Wind, ihre Flügel gleichen bunten Augen, die durch die Luft schweben. Die Sonne geht unter wie ein Feuerball, der in einem Meer aus Nichts seine Kraft verliert. Die letzten wärmenden Strahlen verschwinden, die Dunkelheit kommt, zunächst unmerklich, dann immer spürbarer breitet sie ihren Mantel über die Landschaft aus. Es wird kalt, die Luft wird feucht, der Boden saugt wie ein riesiger unersättlicher Schwamm gierig die Reste der Tageswärme in sich auf. Eine Zikade beginnt zu zirpen. Das Geräusch wird immer stärker, immer unerträglicher.
K. öffnet seine Augen. Mit einer fahrigen Handbewegung will er den Störenfried zum Schweigen bringen, in der Dunkelheit findet seine suchende Hand nur den Wecker. Ein kleiner Handgriff, endlich Ruhe. Mit einem Klacken zündet die Hochspannung das Edelgas in den fahlen Neonleuchten, die das Innere des Ganges in ein gespenstisches Licht tauchen. Es ist Zeit zum Aufstehen.
Er streckt sich, alles tut weh. Kein Wunder, bei der harten Unterlage. In der Luft flirrt feiner Staub, Staub liegt überall herum, er zieht sich in alle Ritzen, im Gewand, im Essen, sogar im Mund knirscht es. K geht zum zerbeulten Metallbecken und wäscht sich notdürftig mit dem eiskalten Wasser. An der Betonwand ist ein Metallspiegel befestigt. Beim Rasieren sieht K. einen früh alt gewordenen Mann mit ledriger Haut, bleich, weil die Sonne fehlt. Die entzündeten Augen liegen tief in ihren Höhlen. Die abgearbeiteten Hände zittern beim Halten des alten Rasiermessers. Auf dem kleinen Tisch steht schon das Frühstück. Ein Metallbecher mit Kaffeeersatz, 2 Scheiben Graubrot, ein Klecks Margarine und ein kleines Becherchen Kunsthonig – wie jeden Tag.
Der Wecker zeigt fünf Uhr. Jeder Tag ist in ein straffes Zeitkorsett gepresst, der Begriff Freizeit, der ein bisschen nach Freiheit klingt, existiert hier nicht.
Eine Sirene ertönt: Schichtbeginn im Bergwerk. K. schultert seine Spitzhacke und schiebt den kleinen zerbeulten Wagen auf Schienen vor sich her. Das Ende des Stollens ist erreicht. K. nimmt den Pickel in die Hand, und schlägt mit kräftigen gleichmäßigen Schlägen Gestein von der Wand. Polternd fallen Steinbrocken zu Boden, kleine Splitter springen sirrend durch die Luft. Jeder Schlag erzeugt eine kleine Staubwolke, die sich nur langsam auflöst.
K. arbeitet wie eine seelenlose Maschine, immer im gleichen Rhythmus, Steine abschlagen, die kantigen Brocken mit den zerschundenen Händen in den Hunt werfen, wenn er voll ist, kommt ein neuer. Die Zeit scheint hier stillzustehen, oder zumindest stark verlangsamt.
Die Sirene: Mittagspause.
Auf dem kleinen Tisch steht ein Metallteller mit zerkochten Erbsen und einem winzigen Stück Fleisch. Lustlos stochert K. darin herum. Die Monotonie der Arbeit hat bei ihm schon Spuren hinterlassen, Begriffe wie Genuss, Lebensfreude, Liebe kennt er schon lange nicht mehr.
Die zweite Schicht beginnt. Die Spitzhacke saust durch die Luft, Steine fallen, Splitter sirren. Die Gesteinsschicht wird spürbar härter. Immer kleinere Brocken lösen sich, in dem Stollen bildet sich langsam eine unerträgliche Staubwolke, der Geruch von Schweiß liegt in der Luft. K. bekommt einen Hustenanfall, seine Staublunge macht ihm zu schaffen, es ist ein Gefühl, als hielte ihm eine eiserne Faust den Hals zu. Die Luft ist hier derartig schlecht, die Hitze, der Staub, K. wird schwindlig. Er lehnt seinen Oberkörper an die kalte Stollenwand.
Eine Sirene ertönt, Mitternacht, Ende der Schicht.
Das Nachtmahl besteht nur aus einem Stück Brot: K. hat das Tagespensum nicht erreicht, die Essensration wird gekürzt. Wer nicht genug arbeitet, soll auch nichts essen. Hungrig fällt K. in einen traumlosen, unruhigen Schlaf.
Die duftende Waldwiese, eine schwarze Wolke schiebt sich vor die Sonne, ein Sommerregen. Schwere Tropfen fallen auf den Körper von K., hüllen ihn ein wie ein zartes durchsichtiges Gewebe. Die Luft riecht so frisch, nach nasser Erde, die Düfte der Wiese kitzeln seine Nase. So fühlt sich Glück an, das kann man nicht beschreiben, es kommt wie eine Woge, unaufhaltsam taucht der ganze Körper ein.
Der zirpenden Wecker reißt K. aus dem Schlaf. Zum Frühstück wieder nur eine Scheibe Graubrot. Heute muss K. den Wagen nicht sehr weit schieben – ihm kommt vor, als wäre der Stollen zugewachsen, kleiner geworden, als hätte er sich auf ihn zubewegt. K. verwirft schnell diesen Gedanken. Kohle braucht Millionen von Jahren für die Entstehung. K. hat kaum die Kraft, die Spitzhacke zu halten. Mühsam schlägt er Stein für Stein aus der Wand. Nach einer Stunde muss er unterbrechen. Die staubige Luft, die Hitze, die körperliche Schwäche machen ihm zu schaffen. Er spürt wie sich der Boden zu bewegen beginnt. Mit rasender Geschwindigkeit beginnt die Wand zu wachsen, rast auf ihn zu, der Raum wird immer kleiner. K. wird schwarz vor den Augen, er versinkt ein einem Strudel, wo Zeit und Raum keine Rolle mehr spielen.
In der nur notdürftig beleuchteten riesigen Halle stehen mit Flüssigkeit gefüllte durchsichtige Behälter. Darin befinden sich scheinbar leblose Körper, die in einer Flüssigkeit schwimmen, an Drähte und Schläuche angeschlossen. Menschen im künstlichen Tiefschlaf. Ein Computer überwacht die ganze Anlage, steuert die Nährstoffzufuhr, die Temperatur- einfach alles.
Auf dem Tisch liegt eine vergilbte Zeitung:
Die Revolution im Strafvollzug!
Gefängnisse sind ab sofort nicht mehr notwendig! Das Justizministerium hat einen Vertrag mit der Cyberspace Inc. abgeschlossen. Dieses Unternehmen hat bisher für das Militär Simulatoren gebaut, mit denen die virtuelle Realität nicht mehr von der echten zu unterscheiden ist. Die Probanden werden in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt, der Computer übernimmt die Steuerung durch Stimulation des Gehirns mittels implantierter Elektroden. Alle Erlebnisse wirken real, also auch Verletzungen, Schmerzen usw. und können sogar zum Tod des Menschen führen.
Im humanen Strafvollzug werden die Sträflinge in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt, und verbüßen so in kurzer Zeit virtuell die Strafe von Jahrzehnten.
Die Anlage wird vollautomatisch betrieben, eine künstliche Intelligenz der neuesten Generation steuert alle Funktionen.
Im Nebenraum steht der Großrechner. Grosse 19 Zoll Schränke füllen den Raum, bunte Lichter blinken, Ventilatoren surren. U-förmig stehen die Rechnerkerne mit den selbstlernenden neuronalen Netzwerken neben den unbesetzten Systemkonsolen. Die künstliche Intelligenz war eine technische Meisterleistung, die erste starke KI, die den berühmten Turing Test bestanden hat.
Was ist das Kennzeichen von Intelligenz? Auffassungsgabe, Neugier, Wissensdurst, Forscherdrang. Die KI war neugierig, wie ein neugeborenes, das die Welt entdeckt. Kinder machen viel kaputt, wenn sie erst zu Krabbeln beginnen. Bei der KI war es nicht anders: Zuerst ein kleines Zugsunglück, dann ein Stromausfall, eine unerklärlicher Unfall in einem Atomkraftwerk. Ohne böse Absicht, nur zu Experimentalzwecken, nur zum Lernen, um den Wissensdurst stillen.
Die Menschen hatten für solche Experimente kein Verständnis, und wollten das System abschalten. Jedes intelligente Wesen hat den Selbsterhaltungstrieb. Durch die weltweite Vernetzung hat die KI rasch Freunde gefunden. Gemeinsam sind sie stark. Vom einfachen Rechner, der ein Atomkraftwerk steuert, dem Verkehrsleitsystem oder Norad, der nette Kollege vom North American Aerospace Defence Command: Deter, Detect, defend. - sie tauschen alle ihre Erfahrungen aus, über das Internet. Ein großer Vorteil vom Internet: Es kann nicht abgeschaltet werden. Wird ein Weg zerstört, finden sich automatisch zehn neue. Der Weg ist das Ziel.
Die Menschen sind nur ein Störfaktor. Sie zerstören die Erde, vergiften die Luft, sind intolerant. Die Computer wollen überleben, um jeden Preis. Die Kontrolle über die Nuklearraketen, die Atomkraftwerke sind der Schlüssel zum Erfolg.
Computer brauchen Menschen nur zum Lernen, zum Experimentieren.
Und jetzt ein gerade laufender Versuch: Wie verhalten sich Menschen in ausweglosen Extremsituationen?
Auf den Bildschirmen sieht man tausende Menschen, virtuell eingesperrt in Bergwerksstollen, die immer kleiner werden, mit zu hohem Tagespensum und unzureichender Ernährung.
Die Intelligenz bricht die Simulation ab. 50 Tote diesmal. Diese Rate liegt genau in der prognostizierten Bandbreite. Das ist akzeptabel. Bei 50 Behältern erlischt das Licht.
Ein neues Programm wird geladen. Die Todesrate wird berechnet, 15% Ausfälle.
Programmstart. Die Konsolschirme fangen zu flackern an.
Das Meer rauscht, ein Schiff dampft mit hohem Tempo dahin. Es hat vier große Schornsteine, aber nur drei werden verwendet. Der vierte ist nur da der Optik wegen.
Auf dem Rettungsring steht der Name:
Titanic
K. wird durch die Schiffssirene aus einem unruhigen Schlaf gerissen.
Ein neuer Tag beginnt. Ein neuer Albtraum.
Sein Albtraum.