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Brauner Schnee, das Glück aus Ankara
»Kann ich bei dir schlafen?«, schrie sie mir ins Ohr, nachdem wir uns kaum eine halbe Stunde durch Blicke und einen Joint, den sie mir weiterreichte, kannten. »Ich fühl mich zuhause so verlassen, wenn mein Freund nicht da ist, ich halt das nicht aus.«
Da, wo ich wohnte, in dem Mädchenheim, hatte ich das einzige Zimmer im Erdgeschoß, das man nicht von der Polizei gegenüber sehen konnte.
»Ja, gern«, schrie ich zurück. »Wie heißt du denn eigentlich?«
»Angie, und du?«
»Inge.«
Aus den Boxen dröhnte Frank Zappa so laut, daß man sein eigenes Wort kaum verstehen konnte. Deshalb redeten wir auch nicht viel, sondern sahen den beiden Männern auf der Tanzfläche zu, wie sie die Musik in seltsame Bewegungen umsetzten, die eher an magische Rituale erinnerten, als an tanzen. Ich bewunderte sie im Stillen für ihr Selbstbewusstsein.
Irgendwann hatten Angie und ich genug von dieser Räucherkammer und gingen hinaus an die frische Luft. Die öffentlichen Verkehrsmittel hatten längst ihren Betrieb eingestellt, so wanderten wir durch das schlafende Häusermeer, bis wir bei dem Fenster ankamen, das ich beim Weggehen offen gelassen hatte. Wir stiegen ins Zimmer ein.
»Machst du das immer so?«, fragte Angie mit einem Grinsen im Gesicht.
»Ja.«
»Und das fällt gar nicht auf?«
»Nein, bis jetzt nicht. Wenn um zehn die Anwesenheit kontrolliert wird, bin ich ja immer da. Also kein Grund, sich um mich Sorgen zu machen.« Ich musste lachen. Doch mein Lachen gefror im nächsten Moment.
Angie holte ein Stück Alufolie heraus, entrollte es, darin lag weißes Pulver, das sie auf einen Löffel dosierte. Aus einer kleinen gelben Plastikflasche tropfte sie etwas Zitronensaft dazu und hielt die Feuerzeugflamme darunter. Um alles restlos aufzusaugen, legte sie ein winziges Stück Watte auf den Löffel. Ich schaute ihr gebannt zu und hatte Angst. Angst, dass sie zu viel erwischen könnte und dann in meinem Zimmer liegt.
»Mach dir keine Gedanken«, beruhigte sie mich, »ich weiß schon, was ich tu. Kannst du mir mal helfen und den Schal fester binden?«
»Ins Bein willst du dich stechen?!«, fragte ich.
»Ja, meine Arme sind schon so verknorpelt, da hab ich schon zu oft reingestochen.« Sie sagte das, als wäre es das Normalste der Welt, dass man sich eben in die Beine sticht, wenn die Arme schon kaputt sind. Sie zog etwas Blut auf und drückte dann die Spritze leer. Mir wurde übel.
»Warum machst du das, Angie?«
»Ich mach das schon, seit ich vierzehn war. Da bin ich von meinen Eltern abgehauen, oder besser gesagt, sie haben mich hinausgeprügelt, und dann hab ich bei ein paar Junkies Unterschlupf gefunden. Erst kam ich mir vor, wie ein Außenseiter, aber dann hab ich irgendwann mit Sniefen angefangen, und gehörte richtig dazu. Von meinen Eltern hab ich nie wieder was gehört.« Sie schien nachdenklich zu werden. »Aber ich bin nicht süchtig, wenn du das glaubst.«
Ich traute meinen Ohren nicht. »Du bist nicht süchtig, wo du doch schon gar nicht mehr in die Arme stechen kannst?«
»Nein, bin ich ehrlich nicht. Manchmal mach ich ein paar Tage Pause, das tut mir überhaupt nichts.«
Ich war verwirrt, glaubte ich doch bisher den Erzählungen, Heroin mache sofort abhängig. War es ein Märchen oder Angie eine seltene Ausnahme? Oder hatte sie doch gelogen?
Als sie mit allem fertig war und mir wieder ihr Gesicht zuwandte, sah ich in ihre Augen. Sie hatte plötzlich einen markanten schwarzen Ring um ihre graublaue Iris, und ich fand das einfach faszinierend schön, konnte nur mehr ihre Augen anstarren, die so cool wirkten und zugleich soviel Tiefe verrieten, als könne man in sie kriechen, um sich geborgen zu fühlen.
Wir spielten die halbe Nacht Karten und mit jedem Blick zu ihr wünschte ich mir auch solche Augen.
Angie schlief dann die ganze Woche bei mir. Wir machten alles gemeinsam, Arbeit hatten wir ja beide nicht. Wir hätten schwimmen gehen können, es war Mitte Juli und hatte dreißig Grad. Aber das wollte sie nicht, wegen der Einstichstellen. So waren wir tagsüber meistens in ihrer Wohnung. Die Küche war nur mit wenigen, weiß furnierten Küchenkästen zwischen Herd und Kühlschrank eingerichtet und sah unbenutzt aus. Das Wohnzimmer hingegen war reich mit indischen Zutaten geschmückt – bestickte und gebatikte Tücher, Halsketten mit filigranen Anhängern und ein Bild von Shiva hingen an den Wänden, Ravi Shankar drehte sich am Plattenteller, Räucherstäbchen und Kerzen verbreiteten den passenden Duft, und während ich mich auf einen der ledernen Hocker niederließ, stellte sie das indische Teeservice auf den kleinen runden Holztisch.
Sie erzählte mir, dass ihr Freund gerade in der Türkei sei, um dort etwas einzukaufen. Ich sah sie ungläubig an. Ein wenig zweifelte ich an ihren Worten und hatte den Verdacht, dass sie das alles nur erzählte, um sich wichtig zu machen. Warum verriet sie es mir sonst? Aber wenn ich in ihre Augen sah, dann wusste ich, dass sie tatsächlich die Wahrheit einfach so unbefangen auf den Tisch legte. Ich bewunderte sie sogar dafür, dass sie das konnte. Wenn ich über meine Situation redete, hatte das immer nur einen nicht enden wollenden Tränenfluss zur Folge. Aber Angie schien stark zu sein. Wenn sie erzählte, warum sie einst von zuhause weggelaufen war, brach sie nicht in sich zusammen, konnte reden und mich mit ihrem Blick gefangennehmen.
Langsam wurde Angie nervös, weil noch immer nichts im Briefkasten war. Ich fühlte mit ihr und machte mir Sorgen, ob ihrem Freund etwas passiert sein könnte. Am Ende der Woche ging ihr Vorrat aus. »Wenn das morgen noch immer nicht ankommt, muss ich mir von einem Freund was holen.«
»Ich dachte, du brauchst es nicht? Wir haben doch immerhin noch was zu rauchen hier.«
»Nein, es ist nur wegen meinem Freund, um mich zu beruhigen. Ich kann nicht leben ohne ihn. Wenn er dann da ist, mach ich eine Woche Pause, um es dir zu beweisen, okay?«
Ich schämte mich für meine Frage, wollte nicht das Vertrauen zerstören und sagte: »Ich glaub dir ja, du brauchst mir nichts beweisen. War doch nur Spaß.«
Am nächsten Tag machte sie beim Öffnen des Briefkastens einen Luftsprung, als käme aus ihm das pure Leben. Endlich war das Buch, dessen Seiten zu einem Geheimversteck ausgehöhlt waren, angekommen. In der Küche nahm sie das Folienpäckchen sofort heraus und öffnete es. Ich staunte, dass der Inhalt nicht weiß sondern braun war und sie meinte freudig: »Das ist was besonders Feines, da ist noch nichts gestreckt, das ist völlig rein.«
Sie nahm ihren Löffel und bereitete sich eine Mischung zu. Statt lang mit der Hose herumzutun, um ins Bein zu stechen, sah sie in den Spiegel an der Wand und stach sich in den Hals. Daran konnte ich mich noch immer nicht gewöhnen, obwohl ich ihr jetzt schon so oft zusah, wenn sie sich irgendwo hineinspritzte. Und dann noch dazu in den Hals. Aber ich beneidete sie um ihr entspanntes Gesicht danach, um ihre Augen und dafür, dass sie dann alles so locker nehmen konnte.
Angie würde mir sicher was abgeben, dachte ich, dann könnte ich mich auch einmal so fühlen wie sie. Und dann sagte ich mir, dass ich es ja auch sniefen könnte, ich müsste es ja nicht spritzen, das würde ich mich sowieso nicht trauen. Aber wenn Angie davon nicht süchtig wurde, dann könne ich es doch sicher zumindest einmal ausprobieren, ohne gleich nicht mehr davon loszukommen. Ich schaute wieder in ihre Augen, die jetzt sogar vor Glück richtig strahlten. Das Graublau zwischen der Pupille und dem großen, schwarzen Kreis leuchtete, und ich konnte meine Frage nicht mehr zurückhalten: »Lässt du mich was sniefen?«
Ihre Antwort war klar und deutlich, sie wusste, wovon sie sprach: »Nein. Bei mir bekommt niemand sein erstes Heroin. Ich verkaufe nur an Leute, die bereits süchtig sind. Alle Dealer, die das anders machen, sind Arschlöcher, und ich will keins sein.«
Sie schlief ab nun wieder bei sich zuhause. Vormittags trafen wir uns noch drei Tage lang, um unter den Ankommenden der Züge aus der Türkei nach ihrem Freund Ausschau zu halten.
Während des Wartens erinnerte ich mich daran, dass sie eine Woche Pause machen wollte, wenn er zurückkäme, und, als hätte sie meine Gedanken gelesen, meinte sie: »Wenn Paul dann da ist, kommen wir sicher eine Woche lang nicht aus dem Bett. Wie letztes Mal. Da war ich die ganze Woche über clean, so glücklich war ich.«
Nachdem Paul ankam, hab ich Angie nie wieder gesehen. Als ich zwei Wochen später bei ihr vorbeischauen wollte, stand die Wohnung leer. Die Nachbarin steckte ihren Kopf zur Tür heraus. »Die sind delogiert worden, haben die Miete nicht bezahlt. Naja.«
*
Der erste Schnee fällt vom Himmel. Ich sitze im Aufenthaltsraum und wärme meine Hände an einem warmen Häferl Kakao. Neben mir sitzt Ilona, liest Kronen-Zeitung und schielt immer herüber, als hätte sie Angst, dass ich die Buchstaben herauslesen könnte. Sie blättert von Seite fünf auf Seite sechs, und da seh ich diese Augen aus dem Schwarz-Weiß-Druck strahlen. Ich bekomme eine Gänsehaut bei dem Anblick und lese die Überschrift:
»Heroinschmuggler an Grenze verhaftet: Freundin setzt sich goldenen Schuss« steht groß über drei Spalten geschrieben. Ilona will weiterblättern, ich halte ihre Hand zurück. Sie erkennt, wohin meine Augen gerichtet sind, und sagt:
»Is’ eh nicht schade drum …«