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Bruchpiloten
Nachdem sie sich zum dreißigsten Male getrennt hatten, jedes Mal die Trauer des endgültigen Verlustes, künftig ohne den anderen leben zu müssen, geübt und geübt hatten, brachte das einundreißigste Mal eine Wende.
Angefangen hatte es wie immer. Sie stritten sich heftig um irgendetwas. Meist wussten sie am Ende des Tages schon nicht mehr, was sie so leidenschaftlich in Rage gebracht hatte. Nur der Groll, der wie eine Rauchwolke zwischen ihnen hing, brauchte seine Zeit, um sich aufzulösen. Mal musste er deswegen länger husten, mal sie.
Danach war es wieder luftig zwischen ihnen und leichtherzig tauchten sie zwischen den Wolken durch.
Angefangen hatte es wie immer, und wie immer wären sie nach zwei oder drei Tagen wieder schüchtern aufeinander zugegangen mit wundgestoßenen Nasen, aber festem versöhnenden Händedruck.
Dem einundreißigsten Mal sollte jedoch kein zweiundreißigstes mehr folgen. Vielleicht hatte sich dies schon angekündigt als sie sagte, dass es ihr wie ein langer Segelflug vorkäme. Ein Gleiten hoch aus den Lüften in weitgeschwungenen Wellen hinab. Nach jedem Streit tiefer.
Wenn bei einem Flugzeug der Motor ausfällt, hatte er erklärt, dann tragen die Flügel noch sehr weit. Man muss nur den Steuerknüppel hochziehen, dann fliegt das Flugzeug lange Wellen.
Seit dem fünfundzwanzigsten Streit hatten sie den Schrecken der Stille gefühlt.
Vor dem sechsundzwanzigsten Streit versprachen sie sich stets nach oben zu schauen, die Nase in die Luft zu halten. Und wie er vorausgesagt hatte, fühlten sie sich getragen und gehalten.
Das siebenundzwanzigste Mal passierte erst nach einer ganzen Weile, denn sie hatten einen warmen Aufwind genutzt, um weiter hochzusteigen. Überrascht blickten sie sich an und einer argwöhnte die Ursache beim anderen.
Beim achtundzwanzigsten Streit weigerte sie sich, weiter nach oben zu schauen. Mir tut der Hals weh, sagte sie, und blickte zur Seite.
Er hatte nach dem neunundzwanzigsten Mal selbst angefangen, missmutig hinab zu blicken und der Boden kam bedrohlich näher. Die Hoffnung flog auch aus seinem Gesicht.
Beim dreißigsten Streit hatten sie beide vor Angst geschrien, weil sie vom Himmel fielen und auf die Erde zurasten.
Der Sturz geschah aber erst beim einundreißigsten Mal. Das Flugzeug warf sich zur Seite, als wollte es etwas Verdorbenes auskippen und spuckte beide heraus. Entsetzt stoben sie auseinander, jeder in eine andere Richtung.
Dass sie Glück gehabt hatten, weil ihnen die Erinnerung nur ein paar hässliche Narben hinterließ, das nahmen sie nicht wahr.