Bus 139
Wenn ich behaupte mein Chef sei ein Blutsauger, dann darf man das, ruhigen Gewissens, wörtlich verstehen. Aber halten sie mich bitte nicht für verrückt, denn zuerst wollte ich es ja selbst nicht glauben, immerhin arbeite ich seit knapp vier Jahren für die Firma. Doch mittlerweile gibt es genügend Hinweise, die tatsächlich belegen, dass Herr Rüdiger Pflüm – mein Chef – ein Vampir ist. Allerdings keiner von der Sorte, wie sie für gewöhnlich in Büchern und Filmen auftauchen. Genau genommen trifft vielmehr das Gegenteil zu. Schließlich treffe ich ihn um halb neun Uhr morgens auf dem Weg zur Arbeit und wenn er auch der Erste ist, der einen Sonnenbrand bekommt, so zerfällt er doch nicht zu Staub. Ganz abgesehen davon, dass er schwitzt! Und mal ganz ehrlich, wer hat schon davon gehört, dass Vampire schwitzen? Doch auch sonst gibt Herr Pflüm wenig Anlass zur Vermutung, dass er dem Übernatürlichen mächtig wäre. Aber vielleicht wäre es angebracht, dass ich ihnen besagten Herrn erst einmal vorstelle, damit sie sich selbst ein Urteil bilden können.
Herr Pflüm präsentiert sich dem Beobachter als ein normaler Mittvierziger mit dazugehörigem Wohlstandspeck und Halbglatze. Seine körperliche Größe beläuft sich auf knapp 1,70 Meter. Jedoch wird er zumeist etwas kleiner eingeschätzt, was an seinem rundlichen Gesamtbild liegen mag. Damit ist er alles in allem keine sehr beeindruckende, oder vielmehr schreckliche Erscheinung. Das Unheimlichste an ihm ist wohl seine Angewohnheit, leise vor sich hinmurmelnd, die Gänge zwischen den Büros auf- und abzuwandern, um dann einer plötzlichen Eingebung folgend, Mitarbeiter und Kollegen anzuspringen, um sie mit der laufenden Projektplanung oder etwas Ähnlichem zu belästigen. Dabei gelingt es ihm nicht einmal sich die Namen seiner Mitarbeiter zu merken und pflegt diese durch sein ganz persönliches Kauderwelsch zu vernuscheln. Da aber mein Chef eher zu der Verwirrten, als zur Bösartigen Sorte gehört, schafft man es trotz allem recht schnell sich mit ihm und seinen Marotten zu arrangieren. Wirklich unangenehm ist nur eines. Das morgendliche Aufeinandertreffen! Ich weiß zwar nicht was sie bevorzugen, aber ich für meinen Teil möchte erst in die Rolle des ergebenen Mitarbeiters schlüpfen, wenn ich in meiner Hand einen Kaffee halte und gemütlich in meinem Bürostuhl sitze. Erst dann, und nur dann, darf man mich belästigen, alles andere empfinde ich als äußerst unhöflich. Aber sei es, wie es sei, bisweilen kommt es vor, dass ich Herrn Pflüm morgens im Bus antreffe und wir gemeinsam zur Arbeit fahren und schon hat man das Dilemma. Spricht man seinen Chef an, da man ihn erkannt hat, oder lässt man es bleiben und gibt vor, nichts und niemanden gesehen zu haben. Wie man sich auch entscheidet, so oder so, es bleibt peinlich. Zumal Herr Pflüm scheinbar ohne Namensgedächtnis geboren wurde und man ihm jedes Mal aus der Verlegenheit helfen muss, wenn er sein „Guten Morgen, Herr...“ unentschlossen und mit einigem Zögern herunterstammelt. Meistens halte ich es bis zur dritten Haltestelle aus, bevor ich mich dann doch entscheide ihn anzusprechen. Aber wie dem auch sei, es ist tröstlich zu wissen, dass ihm unser morgendliches Aufeinandertreffen ebenso unangenehm ist wie mir.
Man kann sich meine Erleichterung vorstellen, als ich davon erfuhr, dass eine zweite Buslinie die erste verstärken sollte, wodurch das Gedränge am Morgen spürbar entlastet wurde. Endlich gab es für mich eine Ausweichmöglichkeit und da der alte Bus stets zuerst losfuhr und mein Chef zudem ein Gewohnheitstier war, hörten mit einem Schlag die Peinlichkeiten auf. Es dauerte volle zwei Monate, ehe ich meinem Chef morgens wieder über dem Weg lief.
An diesem besonderen Tag schien er sich verspätet zu haben, denn er hechtete regelrecht in den Bus 139 hinein und kam schwer atmend neben mir zum Stehen. Als er nach Halt suchend mich mit der Schulter anrempelte, blieb es mir nicht erspart aufzuschauen. Mit ergebener Miene sah ich ihn an und wollte ihm schon den obligatorischen ‚guten Morgen’ wünschen, als plötzlich etwas Seltsames und Unheimliches geschah. Es dauerte nur einen kurzen Augenblick. Kaum länger als ein Wimpernschlag und doch sah ich wie sich eine eigenartige Wandlung an seinem Gesicht vollzog. Normale Schattierungen gewannen plötzlich eine eigenartige Tiefe und je intensiver die Schwärze wurde, desto mehr begannen sie das restliche Gesicht zu umwuchern. Ich starrte in ein bodenloses schwarzes Nichts, aus dem heraus mich nur seine Augen und Zähne anblitzten, die beide in einem unheimlichen Weiß erstrahlten. Dann geschah alles sehr schnell. In seinem Blick loderte, scheinbar aus der tiefsten Hölle, eine alptraumhafte Gier hervor und bevor ich Zeit hatte zu reagieren, schnappte sein Gesicht nach vorn und ich spürte wie sich seine Zähne in meinem Handgelenk vergruben. Dann, so plötzlich wie es gekommen war, war es auch schon wieder vorbei. Der Bus rumpelte über eine Bodenwelle, jemand drängte sich an mir vorbei, um an der nächsten Haltestelle schneller aussteigen zu können und Herr Pflüm mühte sich gerade mit meinem Namen ab, da er mich erkannt hatte und nicht unhöflich sein wollte. Ich weiß noch, wie ich verdutzt auf mein Handgelenk starrte, dass zwar höllisch schmerzte, jedoch keinerlei Verletzung aufwies.
Ob sie es glauben, oder nicht, aber damals dachte ich noch nicht, dass Herr Pflüm ein Vampir sei. Vielmehr glaubte ich an einer Krankheit zu leiden. Aber nunmehr weiß ich es besser. Ich habe meine Theorie dahingehend, sozusagen empirisch, bewiesen! In den letzten sechs Monaten bin ich meinem Chef 22-mal im Bus begegnet, vierzehnmal auf der alten Linie und achtmal auf der neuen. Dabei stellte sich heraus, dass die vampirische Seite meines Chefs sich nur im Bus der Linie 139 manifestiert. Was jedoch mein Handgelenk betraf, so diagnostizierte mir ein Arzt eine akute Sehnenscheidenentzündung, der Idiot! Sehnenscheidenentzündung hin oder her, Fakt ist, mein Chef ist ein Vampir! Punktum, oder haben sie schon einmal gehört, dass sich eine Wahnvorstellung lokal auf einen Bus beschränkt? Jedenfalls habe ich beschlossen diesem Spuk ein Ende zu bereiten, natürlich ohne meinen Job dabei zu riskieren. Die Sache betrifft immerhin Herrn Pflüm, unseren Abteilungsleiter. Eigentlich würde es ja schon reichen, wenn er jemand anderes beißen würde. Aber die gängigen Mittel gegen Vampire, wie es die Literatur verspricht, scheinen alle nicht wirksam zu sein. Fast einen Monat lang bin ich mit dem größten Kruzifix, das man für Geld kaufen und umhängen kann, ohne dass es einem gleich das Genick bricht, herumgelaufen. Nichts. Mein Chef steigt in den Bus der Linie 139, sieht mich, verwandelt sich, was scheinbar keiner außer mir wahrnimmt und beißt mir abermals in die Hand. Alles im Bruchteil einer Sekunde. Danach versuchte ich es mit Weihwasser. Wieder nichts. Ich probierte Spiegel, Silber und Dornen einer Rose. Nichts, Nichts und wieder Nichts. Schließlich griff ich zum letzten Mittel, dass mir noch einfiel, welches ich aber eigentlich vermeiden wollte. Knoblauch. Ich kann gar nicht sagen, was ich alles erleben musste, bis ich meinen Chef mit meinem derart präparierten Atem konfrontieren konnte. Man hat mich beschimpft, verflucht, einige Male weigerte sich sogar der Busfahrer mich mitzunehmen und ich wurde von einem kleinen Mädchen gegen das Schienenbein getreten, weil ich ein Stinke-Peter sei, wie sie es ausdrückte. Letztendlich hat aber auch das nicht geholfen.
Es ist schlichtweg zum Verzweifeln! Wenn ich nur wüsste, warum sich mein Chef ausgerechnet in dem Bus der Linie 139 in einen Vampir verwandelt! Einmal spätabends, als ich zufällig der einzige Fahrgast war, nutzte ich die Gelegenheit und sah mir den Bus näher an. Doch außer ein paar kaputten Sitzen, einigen unleserlichen Graffitis und einer klebrigen, übel riechenden Pfütze in einer Ecke des Busses, konnte ich nichts Mysteriöses entdecken. Ein andermal lud ich den Busfahrer abends nach seiner Schicht auf ein Bier ein, um herauszufinden, ob er vielleicht irgendeine unheimliche Geschichte wusste, die Herrn Pflüms diabolische Verwandlung in dem Bus erklären konnte. Doch auch dieses Unterfangen brachte nichts zu Tage. Resigniert musste ich erkennen, dass es nur noch eine Lösung gab und bereits am nächsten Morgen hatte ich alles Erforderliche in die Wege geleitet.
Inzwischen ist ein halbes Jahr vergangen, seit ich Herrn Pflüm das letzte Mal getroffen habe. Aber ich kann mich noch erinnern, wie er damals erschrocken reagierte, als ihm bewusst wurde, weshalb ich ihn sprechen wollte. Sichtlich panisch bot er mir ein höheres Gehalt an. Dann versprach er Sonderprämien und sogar Bonusmeilen für Flugreisen, doch ich sah ihn lediglich an und verneinte. Das Spiel war endgültig aus. Er wusste es, ich wusste es. Schließlich ergab er sich in sein Schicksal und unterschrieb seufzend die Papiere, die meine Kündigung bestätigten. Seitdem habe ich ihn nie wieder gesehen, doch was mich noch heute verwundert, ist die Tatsache, dass er keine Erklärung für meine Kündigung haben wollte. Es schien so zu sein, dass wir beide den wahren Grund dafür kannten und keiner es für nötig hielt diesen auszusprechen.
Mittlerweile habe ich einen neuen Arbeitsplatz gefunden. Wieder einen Bürojob, in dem es darum geht, Daten von Punkt A nach Punkt B zu schaufeln. Aber ich bin glücklich damit und ich genieße es, wie mich die stumpfe Routine des Alltages langsam wieder einfängt. Wenn überhaupt, dann gibt es nur ein Detail, das mich stört. Denn wieder einmal muss ich morgens meine Busfahrt zur Arbeit mit einem Kollegen teilen und wenn es auch diesmal kein höllischer Chef ist, scheint mein neuer Kollege dennoch irgendeine seltsame Macke zu haben. Denn wann immer ich ihm begegne zuckt er nervös zusammen und sieht mich argwöhnisch an. Außerdem sehe ich ihn in letzter Zeit öfters mit einem Kruzifix herumlaufen und er scheint eine Vorliebe für Knoblauch zu haben. Na ja, ich sag ihnen mit derlei Kollegen wird die Busfahrt zur reinen Qual.