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Cello
„Klick.“
Der Mechanismus setzte sich in Gang und die Tür verschloss sich selbst.
„Klick.“
Das Geräusch hallte in meinem Kopf nach. Es war nicht nur die Tür, die sich hinter mir schloss, sondern auch ein Teil meines Lebens.
Viele hatten mir ihr Beileid ausgesprochen, doch es konnte mich nicht trösten und als ich meine Freunde und Verwandten sah, wie sie sich begannen zu langweilen und wie sie nur daran dachten möglichst schnell nach Hause zu kommen, da verlor ich ein weiteres Stück Glauben an das Leben. Ich ging, ohne mich zu verabschieden und ließ die Trauergäste zurück. Bald würden sie merken, dass ich nicht mehr da war und dann würden auch sie gehen. Zufrieden, dass sie diesen, für sie müßigen Tag, endlich beenden konnten.
Für mich war es nicht nur ein Tag. Es war eine Ewigkeit und jeder Tag würde wie dieser sein.
Unsere Wohnung war leer. Sie war still und alles darin erschien mir leblos. Ich blickte mich um, sah die Schränke, die sie immer wieder umgeräumt hatte. Sah die Vorhänge, die sie über Wochen ausgesucht hatte und ich sah den Spiegel, den sie erst vor ein paar Tagen gekauft hatte und darin einen Mann, dessen Augen so leer wie die Wohnung waren. Ich sah mich an und spürte, wie etwas brach. Eine Träne lief meine Wange herunter und ich fühlte die warme, feuchte Spur, die sie hinter sich herzog. Dann brach die Lethargie und die Trauer und Verzweiflung drangen an die Oberfläche. Ich versuchte dagegen anzukämpfen, doch die Gefühle waren zu stark. Ich hatte meine Frau beerdigt. Sie würde nie mehr wieder kommen. Sie war tot.
Meine Beine zitterten und ich hatte das Gefühl jeden Moment zu fallen. Es war mehr die Angst vor einem Fall, einem Fall ins Bodenlose. Würde ich stürzen; ich könnte nie wieder aufstehen und so wankte ich ins Wohnzimmer und ließ mich auf dem alten Ledersessel nieder, wo sie immer gesessen hatte. Neben mir stand ihr Cello. Sie hatte jeden Abend darauf gespielt und wenn die Töne wie Wasser durch das Haus flossen, spürte ich immer ein unbestimmtes Glück in mir. Ihr Leben war die Musik. Sie sagte immer, dass man sie nicht nur hören müsse, sondern man müsse sie leben. Es wären nicht eine bloße Abfolgen von Tönen, sondern es wäre das Leben und alles was damit in Verbindung steht. Ich hätte sehr viel darum gegeben, nur noch einmal zuhören zu können.
Meine Finger glitten über die kalten Saiten und ich erlebte, wie die unterschiedlichsten Gefühle zu etwas in mir heranwuchsen, dass ich noch nie gespürt hatte. Erst war da die Trauer; der Schmerz um den Verlust eines geliebten Menschen. Dann spürte ich die Liebe, als ich ihr Bild vor mir sah und mir einbildete, sie stände direkt neben mir. Die Liebe wandelte sich in Wut, denn die erneute Erkenntnis des Verlustes war zu stark. Aus Wut wurde Hass. Hass auf das Leben. Hass auf mich. Hass auf sie. Wie konnte sie nur gehen. Wie konnte sie mich nur allein lassen. Ich wünschte mir, ich hätte mehr getan. Ich wünschte, ich hätte ihr jeden Tag gesagt, wie sehr ich sie liebte, wie wichtig sie mir war. Ich hätte sie einfach jeden Tag in den Arm nehmen sollen und...
Dort stand das Cello. Einen kurzen Augenblick lang wollte ich es zerstören. Es verbrennen. Es einfach aus meinem Kopf verbannen. Doch ich nahm es zu mir herüber, legte den Bogen auf die Seiten und zog ihn darüber. Der Ton drang mir tief ins Ohr und ich spürte die sanften Schwingungen in meinem Körper. Der Ton breitete sich aus. Wuchs heran zu einer Melodie und ich begann zu lächeln. Ich spielte das Instrument nicht. Sie tat es.
Die Jahre danach waren beherrscht von der immerwährenden Einsamkeit, aber abends verbreitete das Cello seinen Klang und ich blieb am Leben. Nur für wenige Minuten, doch ich lebte.