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Channel 13
Mark und Patrick sitzen spät abends vorm Fernseher und zappen sich durch die Kanäle des neuen Receivers. Pro 7 sendet das Staffelfinale von „Lost”, die Mädels auf den (Telefon-) Sexkanälen räkeln sich nackt, hauchend und stöhnend vor der Kamera und auf MTV läuft gerade REM’s “It’s the end of the world as we know it,…”
Auf Kanal 13 finden die beiden statt eines Senders nur Bildrauschen mit einer digitalen Zeitangabe. Sie ist soeben bei 42:19 angelangt und rückläufig.
„Was’n das?“, fragt Mark.
„Keine Ahnung!“, antwortet Patrick.
Der Faszination dieses ablaufenden Zeitlimits können sich die Beiden jedenfalls nicht entziehen. Weder weiß jemand der beiden, was es mit dem Zeitlimit auf sich hat noch hat jemand eine Ahnung, was nach Ablauf desselbigen geschieht. Also beginnen Mark und Patrick über diese Fragen zu spekulieren. Mark imitiert den bayerischen Dialekt des „Kaisers“ und meint: “Ja, is’ denn scho’ Silvester?”. Patrick lacht und meint scherzend, es könne ja eventuell sein, dass dieser Kanal und sein Countdown das Ende der Welt und seiner Bewohner verkünde. Mark summt den Anfang der gruseligen Titelmusik von „Twilight Zone“ und beide müssen laut loslachen.
Kaum ist das Lachen verstummt, macht sich in den Köpfen der beiden etwas bemerkbar. Denn Patrick hat mit dieser scherzhaft gemeinten Behauptung eine schleichende Angst nach dem „Was wäre, wenn…“-Prinzip ausgelöst. „Was, wenn Patrick mal ausnahmsweise Recht hätte? Rechthaberisch war er schon immer… allerdings auch oft zu Unrecht. Was, wenn nun in gut einer halben Stunde tatsächlich dieser Planet und die Menschen untergingen?“ Beiden kommt dieser Gedanke wohl zeitgleich, denn sie schauen sich mit einer latenten Furcht gegenseitig fragend an. Dann verwandeln sich ihre Gesichter wieder in lachende Mienen. Sie können kaum glauben, was für einen unsinnigen Gedanken sie da doch für einen kurzen Moment gehabt haben.
Demonstrativ schalten sie den unheimlichen Kanal weg und zurück auf MTV. Dort spielt man den Videoclip „The End“ von The Doors. „…Of our elaborate plans, the end; Of everything that stands, the end…“ Schnell wechseln sie wieder den Kanal. Auf irgendeinem Sender sehen sie einen Atombombenpilz: „Terminator 2“. Das Nachtjournal berichtet von ernsten Spannungen zwischen den USA und Nordkorea.
Patrick zappt wieder auf Kanal 13 und beide starren gebannt auf die Uhr im Vordergrund des Fernsehschnees. Er versucht cool zu bleiben und meint, Mark könne doch wohl nicht im Ernst an so ein Hirngespinst glauben. Er erklärt ihn, er gehe sich jetzt in aller Ruhe sein (betont) „letztes“ Bier aus dem Kühlschrank holen und warte damit den Ablauf des Limits entgegen. Mark ist da schon tief in Gedankenspielerei versunken und denkt an all die Dinge, die man(n) noch mal unbedingt machen möchte, bevor dann sprichwörtlich „das Licht ausgeht“. Sex mit Patrick’s Freundin, eine letzte Konzert- und Sauftour mit den Stones, dem dämlichen Spacken von nebenan einfach so mal eine runterhauen,… Aber noch gerade mal 17 Minuten und 43 Sekunden ist einfach viel zu wenig Zeit, um sich noch alle letzten Wünsche zu erfüllen.
Selbst an eine Flucht ist im Falle eines Weltuntergangs nicht zu denken… wohin sollte man denn bitteschön auch flüchten, wenn die gesamte Welt am Abgrund steht? Zwar lebt man mittlerweile im 21. Jahrhundert, aber ein Raumschiff im Garten, mit dem man sich im Notfall ins All verpissen könnte, hat noch nicht einmal der Präsident der USA. Daran haben bloß die Sci-Fi-Spinner des letzten Jahrhunderts geglaubt. Die glaubten dann auch, dass 2005 Autos durch die Städte fliegen. Nun ja, inzwischen haben wir 2005. Aber haben wir auch fliegende Autos? Nein! Mark fährt nach wie vor einen uralten Gebrauchtwagen, der ihn fast alle 2 Monate horrende Reparaturkosten und fast jede Woche arschteure Spritkosten beschert. Heute ist nicht die Zukunft von Gestern! Das Gestrige ist auch das zukünftige Heutige! Apropos Glauben und Spinner: Was hatte Patrick da grade zu Mark gesagt? Egal! Patrick ist nämlich mittlerweile schon wieder aus der Küche zurück und sitzt nun wie versprochen mit einem frischen Bier in der Hand neben Mark und schaut auf den Bildschirm.
Mark fragt Patrick: „Willst du nicht mal Cindy anrufen und sie fragen, was sie auf Kanal 13 empfängt?“ Patrick, der seinen guten Kumpel in und auswendig kennt, weiß selbstverständlich nur zu gut von Marks heimlicher Schwärmerei für Cindy. Insgeheim ist er ja einerseits auch stolz darauf ein so extrem hübsches Mädchen als Freundin zu haben, welches sein Kumpel auch liebend gerne an seiner Seite hätte, andererseits findet er es auch ganz schön bekloppt und versteht nicht, warum Patrick nicht anderweitig nach einer Partnerin Ausschau hält. Deshalb antwortet er genervt: „Ruf du sie doch an, wenn du unbedingt möchtest… Hier, mein Handy!“ Mark ist von Patricks Reaktion ziemlich verblüfft und schafft es prompt nicht, das lässig geworfene Handy zu schnappen. Gottseidank landet es weich in der Couch.
Patrick, der das alles mitbekommt, hakt nach: „Na, was ist denn jetzt?“ Mark nimmt das Handy, sucht darin Cindys Nummer und wählt:
„Tuuuuut!“, Tuuuut!“, „Tuuuuut!“, Tuuuu…Hey, Schatz!“, hört Mark Cindys Stimme.
„Hi, Cindy! Ich bin’s… Mark!“
„Mark? Warum hast du Patricks Handy und warum rufst du mich damit an? Was ist passiert?“
„Eigentlich nichts Schlimmes… naja, jedenfalls bis jetzt noch nicht!“
„Was soll das denn heißen, Mark? Was ist hier los?“
Patrick verfolgt das Ganze mit und amüsiert sich über die offensichtliche Erklärungsnot von Mark.
„Äääähm, was machst du grade, Cindy? Schaust du grade Fernsehen?“
„Nee, Mark! Ich hab grade meinen besten Sex seit langem… mit einer Banane!“,
Mark verschlägt es die Sprache, doch dann hört er Cindy leise kichern.
Patrick, der zum Belauschen neben Mark gerückt war, übernimmt das Telefongespräch für den immer noch verwirrten Mark: „Scheiße, Cindy! Ich hab dir doch schon mal gesagt, du sollst Mark nicht so verarschen!“
„Tschuldigung! Aber jetzt mal Klartext! Wieso der Anruf?“
„Schalt mal den Fernseher an und zapp dich durch zu Kanal 13!“
„Ich versteh noch immer nicht, was das Ganze soll, aber wenn du’s unbedingt willst… Was läuft denn da grad Interessantes?“
„Sag mir einfach, was du siehst, Schatz!“;
„Da läuft grad so’ne Polizeiserie. Na super! Du weißt doch, dass ich so’n Quatsch nicht gern guck! Warum also?“
„Ach, nix! Erklär ich dir später mal… Bis nachher!“
„Habt ihr zwei wieder gesoffen? Das darf doch nicht wahr sein…!“
„So’n Quatsch!“, lügt Patrick, der gerade sein siebtes Bier killt und prompt das Gespräch mit Cindy beendet.
Mark guckt Patrick fragend an. „Was guckste mich so blöd an!? Sie hat natürlich keine Halluzinationen oder Paranoia wie wir!“
Dann starren beide wieder auf die Mattscheibe. Der Countdown läuft noch immer und ist mittlerweile bei 12 Minuten und 4 Sekunden angelangt.
„Also, ich glaub, die Nordkoreaner werden heut Nacht einen nuklearen Erstschlag verüben…“, sagt Mark, „…oder aber ein riesiger Meteorit kracht auf die Erde, wie damals bei den Dinos.“
Patrick belächelt nur müde die Phantasterei von Mark. In seinem Kopf spielen sich aber auch schlimme Gedanken ab. Er erweitert die „Was, wenn…“-Formel um eine weitere Komponente, nämlich „Was, wenn…dann…“.
Was, wenn er nun wirklich in knapp 11 Minuten sterben müsste, dann wären seine letzten Worte an Cindy ein so gar kein liebevolles „So’n Quatsch!“ gewesen!
Patrick greift wieder nach seinem Handy, als er sieht, wie Mark zum Fernseher geht und ihn einfach ausschaltet.
„Sag mal, bist du bescheuert!? Schalt gefälligst das Ding wieder an! Ich will sehn, wenn es vorbei ist!“ Mark meint, sie würden es auch so früh genug merken, wenn ES geschieht oder auch nicht.
Doch Patrick, in dessen Wohnung sich die beiden befinden, besteht darauf, dass der Fernseher wieder eingeschaltet wird. Also steht Mark auf und macht den verhängnisvollen Kanal wieder drauf.
Patrick hat indessen Cindys Nummer gewählt. Doch die geht nicht mehr ran. Offenbar ist sie doch mehr beleidigt über den vorherigen Anruf, als Patrick angenommen hat.
„Na toll!“, denkt Patrick laut.
„Was is?“ fragt Mark.
„Geht nicht ran, die blöde Olle!“
„Wer?“
„Na Cindy, du Spacko!“
„Wieso willst du denn noch mal anrufen?“
„Ach, vergiss es! War sowieso ’ne bescheuerte Idee von dir…“, sagt Patrick.
„ Jetzt mal halblang, Alter!“, kontert Mark, „erstens ist Cindy keine blöde Olle sondern DEINE Freundin…“
„Ja, genau! MEINE… und nicht DEINE, MARK!“
„Ich glaub’s nicht! Du bist jetzt echt eifersüchtig!?“
„Glaubst du denn wirklich, ich merk’s nicht, wie du Cindy immer angaffst? Scheinbar merkst du dabei aber gar nicht, dass ihr absolut nix an Loser-Typen wie dir liegt. Und noch etwas: wenn wir gleich nicht alle hier draufgehen, kannst du Cindy meinetwegen gerne haben… Kann mir im Gegensatz zu dir ja jederzeit ’ne andere geile Schnecke besorgen!“;
Mark weiß nicht, was er sagen soll… Hat ihn da tatsächlich gerade sein bester Freund entlarvt, übelst beleidigt und ihm außerdem noch seine umwerfende Freundin angeboten? Der muss doch total bescheuert sein…
„Einverstanden!“, sagt Mark gespielt lässig. „Du musst dir ja ziemlich sicher sein bei dieser Sache…“
„Bin ich mir auch!“, sagt Patrick, „Weißt du nicht mehr, wo wir das Teil…, ich mein den Receiver, gekauft haben?“;
„Im Internet… bei e-Bay!“
„Mhm! Und erinnerst du dich auch noch an den Verkäufer?“
„Nee, keine Ahnung! Worauf willst du denn hinaus, verdammt noch mal?“
„Der Verkäufer hieß damals Clairvoyant…“
„Komischer Name, aber was…?“;
„Ja, komischer Name! Darum kann ich mich auch noch daran erinnern. Aber jetzt kommt’s: Clairvoyant ist Französisch und heißt übersetzt Hellseher!“
Marks Erstaunen ist filmreif: „Du willst mich verarschen, Patrick!“
„Würd ich nie tun!“, beteuert Patrick. „Jedenfalls fast nie! Aber was ich dir grade sagte ist die Wahrheit.“
„Du meinst, der Vorbesitzer von diesem Teil konnte wirklich die Zukunft voraussehen… und seine Vision hat sich in diesem Gerät bei uns durch diesen Countdown manifestiert?“
„Wie ich sehe, denkst du mit… Genau so hab ich mir das gedacht!“
„Das ist doch Quatsch!“
„Ach ja? Noch nie was von Telekinese oder Psychokinese gehört? Ist sogar schon wissenschaftlich getestet worden.“
„Und wieso sollte unser Hellseher den Weltuntergang nicht stoppen wollen? Er wird ja wohl dann wissen, wie es mit den Menschen zu Ende geht…“
„Vielleicht, weil ihm keiner glauben würde oder auch, weil er die Welt und die Menschen hasst…“
Während dieser kleinen Diskussion haben die beiden den Countdown nicht mehr beachtet. Als Mark als erster wieder zum Fernseher sieht, durchfährt es ihn wie ein Blitz. Nur noch 49 Sekunden! Jetzt hat auch Patrick wieder seine Aufmerksamkeit auf den Fernseher gerichtet und erschrickt ebenso heftig. In ihren Köpfen macht sich ein gigantisches Chaos breit. Keiner der beiden ist mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn, einen solchen noch zu formulieren. Erstarrt sitzen beide nun stumm da und schauen zu, wie die letzten Sekunden verstreichen. 26… 25… 24… 23… 22… 21… 20… 19… Wie von Sinnen springt Mark jäh auf, schnappt sich Patricks E-Gitarre, läuft zum Fernseher und schlägt mit voller Wucht die Bildröhre ein. Mark schaut zuerst auf den implodierten Fernseher, der seiner Überzeugung nach nun keine Gefahr für die Menschheit mehr darstellen kann. Dann schaut er rüber zu seinem Kumpel, um zu sehen, wie dieser auf seine „Heldentat“ reagiert hat. Er sieht einen apathischen Patrick, der im Geiste durchgezählt hat und halblaut die verbliebenen, nun nicht mehr sichtbaren (dafür jetzt hörbaren) Sekunden runterzählt: „6… 5… 4… 3… 2…1…!“