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Che
Während unseres gemeinsamen Guatemalatrips hatte ich mir ordentlich die Haut verbrannt. Ich hatte mich gehäutet wie eine Schlange.
Jetzt heilte meine Haut langsam ab, ich war braun wie Bronze, meine Haare waren ausgebleicht und ich fühlte mich so leicht und beschwingt, dass ich Bäume hätte ausreißen können.
Es ist schon eine merkwürdige Zeit, diese Zeit nach dem Studium, bevor man seinen Beruf beginnt, eine merkwürdige Schwebezone, in der man das Gefühl hat, zum letzten, zum allerletzten Mal richtig frei zu sein.
Es waren noch zwei Wochen, bis ich endlich in einer kleinen Kinderklinik als AIP anfangen würde. Nur noch zwei Wochen freie Zeit. Zwei Wochen. Mehr nicht...
Es klingelte an der Tür und ich wurde sehr unsanft aus dem Schlaf gerissen. Was hatte ich geträumt? Ich wusste es nicht mehr, aber es war nichts Gutes gewesen. Ich grunzte zornig. Hatte ich Susanne nicht gestern erzählt, dass ich heute ausschlafen würde?
Ich kämpfte mich aus den Federn und tapste ungelenk und wütend zur Tür.
Ich öffnete und Ben stand vor mir. Auch sein Gesicht noch braun und verbrannt wie meines. Er hielt einen Sixpack Bier in der Hand und grinste mich an.
"Como andas, che?" fragte er mich.
Ich konnte nur den Kopf schütteln und lachen.
Ich kurbelte das Fenster des Autos herunter und ließ die kühle Luft in mein Gesicht wehen und meine Hand im Fahrtwind tanzen.
Ben hatte den Kassettenrekorder angemacht. Er war immer ein großer Beatlesfan gewesen. Auf der Rückbank lagen jede Menge Bier, ein kleiner Grill, Steaks, Brötchen, Milch, Tee, Nutellacreme, ein kleiner Gaskocher, Teller und Besteck und das alte, kaputte Zelt, das uns beide schon durch Guatemala begleitet hatte.
Wir hatten beschlossen, einfach ein wenig aus der Stadt raus zu fahren, ins Grüne, dort unser Zelt aufzuschlagen und dann einen gemütlichen Abend zu verbringen, im Freien, so wie wir es in Guatemala oft getan hatten. Einfach unter dem Himmel sitzen, die frische Luft tief in die Lungen saugen und reden bis spät in die Nacht.
Ben hatte mit mir zusammen studiert, war mit mir zusammen durch die zweite Anatomieprüfung gerasselt und wollte Radiologe werden (der Langweiler).
Er saß am Steuer und war etwas schweigsam und die Beatles sangen It won’t be long.
Es fing gerade an zu dämmern, dunkles Grau überzog den vormals blassblauen Himmel und es wurde etwas kälter. Wir hatten den Grill ausgemacht, aber er war immer noch ziemlich warm.
Ben lehnte an einen Baum und öffnete unter lautem Zischen eine weitere Dose Bier, als ich mich zu ihm gesellte, mich neben ihn setzte und meine Dose an die Lippen führte. In der Ferne des Waldes hörten wir das Knistern von Holz, mit dem der Wind spielte.
"Dein Hosenschlitz ist offen", sagte Ben.
"Scheiße", sagte ich. Ich fuhr mit meinen Fingern nach unten, stellte aber fest, dass Ben gelogen hatte.
Er kicherte. "Wie läuft es mit Susanne?" fragte er, nachdem ich ihm einen Knuff gegen die Schulter gegeben hatte.
Ich sah ihn an. "Gut, ganz gut", sagte ich.
"Wolltet ihr nicht zusammen ziehen?"
Ich zuckte mit den Schultern. "Ich weiß nicht", meinte ich. "Ist vielleicht noch etwas früh."
Ben nickte und nippte an seinem Bier.
"Denkst du noch an Guatemala?" fragte er.
Ich sah ihn überrascht an. "Natürlich."
"Ich auch", sagte er.
Dann lehnte er seinen Kopf gegen den Baum und schloss die Augen. Ich genoss es, so neben ihm zu sitzen. So wie jetzt war es oft gewesen. Wir schwiegen eine Weile, ohne das die Stille uns unangenehm gewesen wäre. Hin und wieder trank ich von meinem Bier. Schließlich hörte ich, wie eine weitere Dose zischte, als Ben sie öffnete.
Er spielte mit dem Blechrand herum und sah auf seine Knie.
"Anna hat mich angezeigt", sagte er schließlich.
Ich wusste gar nicht, ob ich richtig verstanden hatte, was er gesagt hatte. Ich drehte den Kopf langsam in seine Richtung und sah ihn an. Ben betrachtete weiter seine Knie und nahm schließlich einen weiteren Schluck Bier.
"Kannst du das glauben?" fragte er mich.
"Warum sollte Anna dich anzeigen?" fragte ich, noch immer ganz perflex.
Er schwieg. Nur eine seiner Augenbrauen zuckte, sonst war er völlig ruhig.
"Warum?" fragte ich erneut.
"Es ist meine Schuld", sagte er.
"Was ist deine Schuld?" fragte ich.
Ben lächelte und zum ersten Mal sah er mich an. Ich sah in seine tiefen braunen Augen und konnte einfach nicht begreifen, was er gesagt hatte.
"Was ist deine Schuld?" fragte ich ihn.
"Sie hat Fotos machen lassen", sagte Ben leise und schüttelte den Kopf.
"Welche Fotos?" fragte ich. "Scheiße, Ben, was redest du da?"
"Ihre Freundin hat ihr geholfen", erzählte Ben weiter, meine Fragen einfach ignorierend. Ich wusste nicht, ob das am Bier lag oder daran, dass er mir einfach nicht zuhörte. "Diese Tina. Sie hat die Fotos gemacht, da möchte ich wetten."
"Ben, Scheiße, was redest du da eigentlich?" schrie ich. "Sag mir endlich, worum es geht."
Ich merkte, wie mein Herz zu rasen anfing, wie mein Puls in die Höhe schoss, wie Adrenalin in meine Venen gepresst wurde. Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, wusste, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, ahnte, dass er mir gleich etwas Schreckliches gestehen würde.
Und dann kam seine Geschichte. Und sie veränderte alles.
Es ist nun elf Jahre her. Neulich erst, da habe ich mir wieder einmal eingebildet, dass ich Ben gesehen habe. Im Kaufmarkt. Ich sah ihn am Stand für Armbanduhren stehen und die Schaukästen betrachten.
Ich war starr vor Schreck und unfähig mich zu bewegen.
Meine kleinen Tochter zog an meinem Arm und fragte, was mit mir los sei. Als ich meinen Blick kurz auf sie richtete, auf ihr kleines Gesicht, da verlor ich Ben aus den Augen. Falls es denn wirklich Ben gewesen ist.
Ich kaufte meiner Tochter ein Eis und wir gingen gemeinsam heim.
Es gibt immer wieder Momente, wo ich glaube, Ben zu sehen. Manchmal ist es schmerzhaft und ich bin sehr traurig, darüber, dass ich ihm nicht helfen wollte, nicht helfen konnte, manchmal bin ich aber auch sehr froh.
Ich bin einfach nur froh und weiß nicht, warum.
Ben kicherte. Er verschüttete etwas Bier.
"Diese blöde Kuh", sagte er.
"Was ist?" rief ich. "Meinst du Anna? Was ist mit Anna?" Ich packte Ben an der Schulter, doch er schien meine Hand gar nicht zu spüren. "Was ist mit Anna?"
"Sie war schwanger", sagte Ben.
"Was?"
"Und sie hat es wegmachen lassen", sagte Ben. "Als wir in Guatemala waren. Einfach so. Ohne mir was zu sagen."
"Was...? Scheiße... Was...? Es tut mir leid, Ben..."
"Ich habe sie geschlagen. Ich konnte nicht aufhören, verstehst du?" Er sah mich an, die Angst in seinen Augen, seine Hand ballte sich zur Faust. Wieder kicherte er. "Verstehst du?"
Damals, als Ben mit mir an jenem Baum lehnte, die Dose Bier in der Hand und ich neben ihm, da sprach er diese Worte und ich wusste nicht mehr, wer er war.
Ich sah ihn an, starrte ihn einfach nur an. Und konnte kein Wort sagen.
Manchmal, wenn ich in meinem Bett liege und Susanne neben mir längst eingeschlafen ist, da denke ich wieder an Ben.
Ich sehe das ruhige Gesicht meiner Frau an, das ungeschminkt wenige Zentimeter neben meinem liegt. Ich höre ihren Atem, ich sehe wie ihre Haarsträhnen hin und her zittern. Und dann erinnere ich mich daran, dass auch ich oft unglaublich wütend auf sie war, dass auch ich oft die Faust ballte und dann vor mir selbst erschrak.
Und manchmal frage ich mich, wie viel fehlt. Und wie ähnlich ich Ben immer war.
Und dann höre ich wieder sein Kichern.