Was ist neu

Chinesische Zimmer

Seniors
Beitritt
12.02.2004
Beiträge
1.230
Zuletzt bearbeitet:

Chinesische Zimmer

Seit einiger Zeit sitzen hinter den Schaltern der kleineren Bahnhöfe wieder Menschen. Die neuen Mitarbeiter der Bahn werden nach und nach die Fahrkartenautomaten in den Hauptbahnhöfen ersetzen.

Wie kann das sein? Hat die Führung der Bundesbahn begriffen, dass sie etwas gegen die Arbeitslosigkeit tun kann, indem sie Leute einstellt? Vermutlich nicht. Die Neuen Mitarbeiter sind nur billiger als ihre Kollegen oder technische Geräte.

In einem viel beachteten Beschluss hat die Regierung Tausende Green Cards für Angehörige der chinesischen Landbevölkerung ausgestellt, die sich für zwanzig Jahre verpflichten, hier zu arbeiten, vorzugsweise im Kundendienst der Bundesbahn, und zwar gegen Kost, Logis und Taschengeld. Nach dieser Zeit bekommen sie eine Urkunde verliehen, und kehren zurück in ihre alte Heimat.

Nun könnte man einwenden, dass das zwar gut und vernünftig klingt, und sicher gut funktionieren wird - wenn diese ArbeitsmigrantInnnen (wie sie in den Prospekten der Bahn heißen) perfekt unsere Sprache sprechen können.

Mitnichten, sagte der Kanzler in der Fragestunde vor dem Parlament, und verwies darauf, dass die Fahrkartenautomaten das ja auch nicht konnten.

* * *​

Ich trat also mit großen Erwartungen an den Schalter, hinter dem eine junge Chinesin in adretter Uniform saß, und mich anlächelte. Sie fragte: "Was kann ich für Sie tun?"

Sie sprach mit kaum wahrnehmbarem Akzent, und intonierte die Worte sorgfältig.

Ich sagte: "Einmal mit Vorteilskarte nach A.!"
Sie sagte: "Wenn Sie eine Vorteilskarte haben, zeigen Sie sie bitte."

Was ich tat.

Mit derselben beruhigenden Stimme bat sie mich, den Kaufpreis von 18 Euro zu bezahlen, und sagte abschließend: "Ich wünsche Ihnen eine angenehme Fahrt!"

Ich sagte: "Danke! Ich hätte nie gedacht, dass sie unsere Sprache so gut beherrschen."

Sie lächelte, sagte "Bitte!" und "Auf Wiedersehen" und schon trat der nächste an den Schalter.

Bezaubert schleppte ich meinen Koffer zum Bahnsteig. Es war derselbe alte Bahnhof wie immer, mit seinem Zeitschriftenstand, seinen Obdachlosen, seinen Arbeitern in gelben Latzhosen und all den Reisenden.

Erst im Zug fiel mir auf, dass hier etwas nicht stimmte.

* * *​

Die Rückfahrkarte nach B. kaufte ich in A. Die Chinesin hinter dem Schalter fragte: "Was kann ich für Sie tun?"

Diesmal wollte ich es schlauer anstellen, um zu bestätigen, was ich inzwischen vermutete. Ich begann mit den Worten: "Darf ich Ihnen eine Frage stellen?"

Sie erwiderte: "Bitte!" begleitet von einem aufmunternden Lächeln.

"Könnten Sie mir wohl das neue Tarifmodell erklären? Ich verstehe da nämlich einiges nicht."

Es schien sie nicht aus dem Konzept zu bringen. Sie fragte: "Was wollen Sie wissen?"

"Die Tarife," sagte ich, "Sie sind so verwirrend."

(So schnell wusste ich keine bessere Frage)

Sie überreichte mir ein Prospekt, und verwies mich an den Informationsschalter. Ich gab mich geschlagen.

Es folgte der Verkaufsdialog, der wortwörtlich dem in B. entsprach, und abschließend wünschte sie mir eine gute Fahrt.

Auf dem Weg zum Bahnsteig kam mir die Idee, wieder einmal ins China-Restaurant in der Nachbarschaft essen zu gehen, und den Besitzer um etwas zu bitten.

* * *​

Her W. trat an meinen Tisch, und sagte: "Schön, dass Sie mich wieder einmal beehren, Herr S.!"

Ich kam gleich zur Sache, und begann mit dem Hinweis, dass Herr W. doch Chinese sei. Er bejahte stolz.

Ich fragte, ob es ihm möglich war, mit den neuen Angestellten der Bahn in deren Muttersprache zu reden, und äußerte einen Verdacht, der so seltsam und beunruhigend war, dass Herr W. sich setzen musste.

Er versprach schließlich, so bald wie möglich zum Hauptbahnhof zu gehen, dort Nachforschungen anzustellen, und mir danach Bescheid zu geben.


* * *​

Ich saß auf der Toilette, als Herr W. anrief: "Es ist genau, wie Sie vermutet haben," sagte er, während ich die Knöpfe an meiner Hose zumachte.

Nach und nach setzte er mir auseinander, was er erfahren hatte: Das Rekrutierungsbüro der Bundesbahn in China suchte nach Leuten mit Talent für die Aussprache fremder Wörter und einem guten Gedächtnis; nach Leuten, die außerdem jung waren und gut aussahen. Diese Kriterien treffen auf etwa ein Prozent der chinesischen Landbevölkerung zu.

Für einen Vorauswahltest müssen die Bewerber eine Reihe stehender Wendungen für den Schalterbetrieb auswendig lernen. Diejenigen, die sich dabei besonders geschickt anstellen, bekommen eine spezielle Arbeitserlaubnis für 20 Jahre; allerdings unter der Bedingung, dass sie keine Versuche machen, die Sprache zu lernen.

* * *​

Nach dem Telefonat versuchte ich, die Arbeitsweise des chinesischen Schalterpersonals zu rekonstruieren: Es musste Kombinationen von Situationen, Wörtern und Handlungen, die daraus folgten, auswendig lernen:

WENN ("Ältere_Person" UND "Fahrkarte_Inland"){Frage("Seniorenkarte");}

Dabei kam mir in den Sinn, dass unsere Eigennamen für ihre Ohren sehr guttural und seltsam klingen müssen. Außerdem gibt es, soviel ich weiß, in ihrer Sprache keine Artikel, Pronomen, Zeitformen und dergleichen. Also würden sich die Dialoge des Schalterpersonals in der Übersetzung etwa so anhören:

"Ich möchten Pause. Gehen jetzt!"
"Gehen Pause später. Jetzt zuviel Kunde."

Und gleichzeitig würde sich eine Anforderung dieser Art stellen:

WENN(Kunde=="Mann") {Lächeln();}

WENN (Reiseziel=="Unverständlich"){

Wiederholen("Wohin möchten Sie fahren, bitte?");
Zuhören();

WENN (Verständlich=="OK"){Karte_ausgeben();}
SONST {Eingabe_schriftlich("Können Sie den Namen bitte hier eintippen?");}
}

// usw.

* * *​

Ich fuhr noch eine Weile fort, diese Unglücklichen zu bedauern. Sie leben in unserer Gesellschaft, und können sich nicht artikulieren. Ein Artikel in der Zeitung belehrte mich schließlich eines besseren: Das Bundeskanzleramt hat seit letzter Woche eine neue Pressesprecherin. Sie ist eine von jenen Chinesinnen.

In den Abendnachrichten sah und hörte ich dann dasselbe Lächeln und dieselbe akkurate Aussprache wie an den Fahrkartenschaltern.

Diese Frau schafft es tatsächlich, mit einem Minimum an Sprachverständnis beträchtliches zu leisten. Sie bewältigt ihre Aufgabe sogar besser als ihr Vorgänger. Das liegt zum Teil daran, dass sie freundlicher zu Journalisten ist.

Sie kann nämlich nicht verstehen, was sie sagen...

 

Hey Berg,

jetzt habe ich aber ganz tief in den KG.de-Schubladen gewühlt und ich muss Dir sagen, die "Geschichte" gefällt mir. Ist ja sehr minimalistisch, aber es passt so hübsch zum Inhalt. Was soll es da mehr Wörter geben, als die Fahrkartenverkäufer "verstehen". Mochte auch sehr die Seitenhiebe auf die Sparmaßnahmen und die Pressesprecherin.

Kurzweilig, unterhaltsam und doll böse! Hat mir in dieser Schlankheit sehr gut gefallen.
Und wieder was gelernt - das chinesische Zimmer - war neu für mich. Spannend das :read:.

Lieben Gruß, Fliege

 

Hey Fliege,

danke fürs Ausgraben! Der Plot ist eine der besten Spontan-Ideen die ich je hatte. Philosophische Gedankenspiele sind manchmal spannend, ja. ;)

Lieben Gruß zurück,

Berg

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom