Was ist neu

Chinesische Zimmer

Seniors
Beitritt
12.02.2004
Beiträge
1.229
Zuletzt bearbeitet:

Chinesische Zimmer

Seit einiger Zeit sitzen hinter den Schaltern der kleineren Bahnhöfe wieder Menschen. Die neuen Mitarbeiter der Bahn werden nach und nach die Fahrkartenautomaten in den Hauptbahnhöfen ersetzen.

Wie kann das sein? Hat die Führung der Bundesbahn begriffen, dass sie etwas gegen die Arbeitslosigkeit tun kann, indem sie Leute einstellt? Vermutlich nicht. Die Neuen Mitarbeiter sind nur billiger als ihre Kollegen oder technische Geräte.

In einem viel beachteten Beschluss hat die Regierung Tausende Green Cards für Angehörige der chinesischen Landbevölkerung ausgestellt, die sich für zwanzig Jahre verpflichten, hier zu arbeiten, vorzugsweise im Kundendienst der Bundesbahn, und zwar gegen Kost, Logis und Taschengeld. Nach dieser Zeit bekommen sie eine Urkunde verliehen, und kehren zurück in ihre alte Heimat.

Nun könnte man einwenden, dass das zwar gut und vernünftig klingt, und sicher gut funktionieren wird - wenn diese ArbeitsmigrantInnnen (wie sie in den Prospekten der Bahn heißen) perfekt unsere Sprache sprechen können.

Mitnichten, sagte der Kanzler in der Fragestunde vor dem Parlament, und verwies darauf, dass die Fahrkartenautomaten das ja auch nicht konnten.

* * *​

Ich trat also mit großen Erwartungen an den Schalter, hinter dem eine junge Chinesin in adretter Uniform saß, und mich anlächelte. Sie fragte: "Was kann ich für Sie tun?"

Sie sprach mit kaum wahrnehmbarem Akzent, und intonierte die Worte sorgfältig.

Ich sagte: "Einmal mit Vorteilskarte nach A.!"
Sie sagte: "Wenn Sie eine Vorteilskarte haben, zeigen Sie sie bitte."

Was ich tat.

Mit derselben beruhigenden Stimme bat sie mich, den Kaufpreis von 18 Euro zu bezahlen, und sagte abschließend: "Ich wünsche Ihnen eine angenehme Fahrt!"

Ich sagte: "Danke! Ich hätte nie gedacht, dass sie unsere Sprache so gut beherrschen."

Sie lächelte, sagte "Bitte!" und "Auf Wiedersehen" und schon trat der nächste an den Schalter.

Bezaubert schleppte ich meinen Koffer zum Bahnsteig. Es war derselbe alte Bahnhof wie immer, mit seinem Zeitschriftenstand, seinen Obdachlosen, seinen Arbeitern in gelben Latzhosen und all den Reisenden.

Erst im Zug fiel mir auf, dass hier etwas nicht stimmte.

* * *​

Die Rückfahrkarte nach B. kaufte ich in A. Die Chinesin hinter dem Schalter fragte: "Was kann ich für Sie tun?"

Diesmal wollte ich es schlauer anstellen, um zu bestätigen, was ich inzwischen vermutete. Ich begann mit den Worten: "Darf ich Ihnen eine Frage stellen?"

Sie erwiderte: "Bitte!" begleitet von einem aufmunternden Lächeln.

"Könnten Sie mir wohl das neue Tarifmodell erklären? Ich verstehe da nämlich einiges nicht."

Es schien sie nicht aus dem Konzept zu bringen. Sie fragte: "Was wollen Sie wissen?"

"Die Tarife," sagte ich, "Sie sind so verwirrend."

(So schnell wusste ich keine bessere Frage)

Sie überreichte mir ein Prospekt, und verwies mich an den Informationsschalter. Ich gab mich geschlagen.

Es folgte der Verkaufsdialog, der wortwörtlich dem in B. entsprach, und abschließend wünschte sie mir eine gute Fahrt.

Auf dem Weg zum Bahnsteig kam mir die Idee, wieder einmal ins China-Restaurant in der Nachbarschaft essen zu gehen, und den Besitzer um etwas zu bitten.

* * *​

Her W. trat an meinen Tisch, und sagte: "Schön, dass Sie mich wieder einmal beehren, Herr S.!"

Ich kam gleich zur Sache, und begann mit dem Hinweis, dass Herr W. doch Chinese sei. Er bejahte stolz.

Ich fragte, ob es ihm möglich war, mit den neuen Angestellten der Bahn in deren Muttersprache zu reden, und äußerte einen Verdacht, der so seltsam und beunruhigend war, dass Herr W. sich setzen musste.

Er versprach schließlich, so bald wie möglich zum Hauptbahnhof zu gehen, dort Nachforschungen anzustellen, und mir danach Bescheid zu geben.


* * *​

Ich saß auf der Toilette, als Herr W. anrief: "Es ist genau, wie Sie vermutet haben," sagte er, während ich die Knöpfe an meiner Hose zumachte.

Nach und nach setzte er mir auseinander, was er erfahren hatte: Das Rekrutierungsbüro der Bundesbahn in China suchte nach Leuten mit Talent für die Aussprache fremder Wörter und einem guten Gedächtnis; nach Leuten, die außerdem jung waren und gut aussahen. Diese Kriterien treffen auf etwa ein Prozent der chinesischen Landbevölkerung zu.

Für einen Vorauswahltest müssen die Bewerber eine Reihe stehender Wendungen für den Schalterbetrieb auswendig lernen. Diejenigen, die sich dabei besonders geschickt anstellen, bekommen eine spezielle Arbeitserlaubnis für 20 Jahre; allerdings unter der Bedingung, dass sie keine Versuche machen, die Sprache zu lernen.

* * *​

Nach dem Telefonat versuchte ich, die Arbeitsweise des chinesischen Schalterpersonals zu rekonstruieren: Es musste Kombinationen von Situationen, Wörtern und Handlungen, die daraus folgten, auswendig lernen:

WENN ("Ältere_Person" UND "Fahrkarte_Inland"){Frage("Seniorenkarte");}

Dabei kam mir in den Sinn, dass unsere Eigennamen für ihre Ohren sehr guttural und seltsam klingen müssen. Außerdem gibt es, soviel ich weiß, in ihrer Sprache keine Artikel, Pronomen, Zeitformen und dergleichen. Also würden sich die Dialoge des Schalterpersonals in der Übersetzung etwa so anhören:

"Ich möchten Pause. Gehen jetzt!"
"Gehen Pause später. Jetzt zuviel Kunde."

Und gleichzeitig würde sich eine Anforderung dieser Art stellen:

WENN(Kunde=="Mann") {Lächeln();}

WENN (Reiseziel=="Unverständlich"){

Wiederholen("Wohin möchten Sie fahren, bitte?");
Zuhören();

WENN (Verständlich=="OK"){Karte_ausgeben();}
SONST {Eingabe_schriftlich("Können Sie den Namen bitte hier eintippen?");}
}

// usw.

* * *​

Ich fuhr noch eine Weile fort, diese Unglücklichen zu bedauern. Sie leben in unserer Gesellschaft, und können sich nicht artikulieren. Ein Artikel in der Zeitung belehrte mich schließlich eines besseren: Das Bundeskanzleramt hat seit letzter Woche eine neue Pressesprecherin. Sie ist eine von jenen Chinesinnen.

In den Abendnachrichten sah und hörte ich dann dasselbe Lächeln und dieselbe akkurate Aussprache wie an den Fahrkartenschaltern.

Diese Frau schafft es tatsächlich, mit einem Minimum an Sprachverständnis beträchtliches zu leisten. Sie bewältigt ihre Aufgabe sogar besser als ihr Vorgänger. Das liegt zum Teil daran, dass sie freundlicher zu Journalisten ist.

Sie kann nämlich nicht verstehen, was sie sagen...

 

Super!


Hat mich gefreut; die Konsequenzen sind klar, ich habe mir ein Maschinenmenschenhandbuch besorgt und bin dabei, meine Gefühle zu kastrieren. Vielleicht kriege ich wieder einen Job.

 

Hallo Fritz,

das ist so cool! Die Idee ist bestechend: Du karikierst die Rationalisierung, indem Du demonstrierst, dass ein Mensch, programmiert wie eine Maschine noch billiger ist, als eine wirkliche Maschine zu bauen. Du veralberst gekonnt das Problem des Fahrkartenerwerbs, das sicher jeden von uns schon auf die Palme getrieben hat. Du erklärst quasi nebenbei das Paradoxon des chinesischen Zimmers und den Turing-Test.

Wow! Dafür gibt's eine Empfehlung. :thumbsup:

Einziger Schwachpunkt ist die Syntax der Programmcodes. Als C-Programmierer habe ich da natürlich keine Probleme, aber ich denke, für unsere "normalen" Mitbürger könntest Du einige {} und ; weglassen.

Grüße,
Naut

 

Danke für Eure schnellen Reaktionen!

Sie freuen mich besonders, weil Ihr beide zu meinen Lieblingsautoren auf der Site gehört!

@Naut: Die Aufzählung meiner "Leistungen" entspricht ziemlich genau dem was ich wollte. :) Ich habe diese Geschichte gestern einfach mal niedergeschrieben, und sie ist nicht ganz so ausgefeilt geworden wie in meier Vorstellung. Aber das ist immer so.
Was programmierst Du denn so?

Eine inspirierende Site, die sich mit dem Turing-Test beschäftigt, ist http://www.jabberwacky.com

@Flic: Die ökonomische Situation der meisten Menschen ist fast immer scheiße. Heutzutage kommt dazu, dass eine bestimmte Art von Finanzkapitalismus die Leute dazu treibt, sich ganz besonders idiotisch zu verhalten. Mir gehts auch nicht gut damit.

Die Idee, so etwas wie ein verbales Karate zu erfinden, beschäftigt mich schon lange. Denkt mal an die Vorbereitung auf eine bestimmte Situation: Man könnte alles was passieren kann vorwegnehmen, und dafür einen "Text" vorbereiten.

Christoph Grissemann hat in der Radiosendung "Salon Helga" mal bei einem Fitness-Studio angerufen, und ein paar Sachen gefragt. Während des Gesprächs hat er seine Stimme aufgenommen. Dann hat er bei einem anderen Fitness-Studio angerufen, und dem Menschen am Telefon das Band vorgespielt. Es hat fast bis zum Ende des Gesprächs gedauert, dass dieser Gesprächspartner gemerkt hat, dass er es mit einem Band zu tun hatte.

Der größte Teil des Alltags lässt sich sowieso bewältigen, ohne zu denken. Wozu also wissen, was man sagt? ;)

Die Grundidee zu einer Geschichte wie dieser kam mir vor fünf Jahren in Litauen. Ein Freund dort wollte mir ein paar stehende Wendungen auf Litauisch beibringen, und wir wollten ausprobieren, wie lange es dauern würde, bis die Leute merkten, dass ich kein Litauisch kann. (Hat nicht funktioniert)

Freundliche Grüße,

Fritz

 

DerGuteFritz schrieb:
Was programmierst Du denn so?
Meinst Du was für Sprachen oder was für Programme?
Sprachen: Hauptsächlich C/C++ und Java, aber viele andere Sachen
Programme: größtenteils numerische Sachen (FEM), früher auch alles andere (Treiber, Games, Anwendungen)

 

Hallo GuterFritz!

Im Chinesischen gibt es Pronomen, vielleicht nur nicht so, wie wir sie verstehen. Das wird beim zählen sehr kompliziert... ;)

Ansonsten witzige und nachdenkliche Geschichte!

Liebe Grüsse
sirwen

 

Hi sirwen,

das "Chinesische" in der Geschichte ließe sich durch das "Indische" oder "Nigerianische" ersetzen. Es geht mehr um das Exotische, und darum, dass Menschen aus materieller Not bereit sind, die unmöglichsten Dinge zu tun.

Die andere Seite ist die des Kunden beim Fahrkartenverkauf, der so oft das Gefühl hat, dass den Leuten am Schalter scheißegal ist, was er von sich gibt. Daher war der Gedanke naheliegend, dass sie es nicht verstehen können. Weil sie eine andere Sprache sprechen. Zum Beispiel Chinesich :)

 

WOW!

Ich fands sehr amüsant und geistreich, und ich gratuliere herzlich, toll gemacht!

Hab mich köstlich unterhalten, und was will man mehr?


tf

 

Hallo gbwolf und tintenfüller,

schön, dass es Euch gefallen hat!

Das Chinesische Zimmer ist ein Gedankenexperiment des Philosophen John Searle... (usw.)

@gbwolf:

Bitterböse und zynisch. Alles wird besser, weil der Mensch jetzt schematisiert ist, statt sebst zu denken. Natürlich werden die "Chinesen" irgendwann auch an Aufgaben scheitern, so wie man in jedem Programm einen Bug findet, aber die meiste Zeit über funktionieren sie.

Was Du hier über die "Chinesen" schreibst, trifft auch auf Betriebswirte, Unternehmensberater und andere Gruppen zu, die den Erfordernissen der New Economy mit Positivem Denken begegnen wollen. :)

 

Na ja, gut geschrieben. Obwohl ich keine Philo erkennen kann.
Ausserdem(mit scharf s) wird schon von Anfang an klar, was die "Aufloesung" ist.
Das mit dem B.Amt fand ich aber sogar witzig und gut.
Tserk

 

Hey Tserk,

wie schön für mich!

Die Philo besteht im Nachdenken über die Frage, was "Verstehen" bedeutet.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Guter Fritz!

Du hast da gute Ideen in deiner Geschichte eingearbeitet. Die schriftstellerische Umsetzung ist nicht so gut. Ich sagte, Sie sagte, Ich saß, Ich möchte usw.
Bis auf das Verstehen ist es eher eine gesellschaftlich orientierte Geschichte, das Verstehen müßte mehr im Vordergrund stehen.
Aber: Interessanter Mix, diese Themen.

aquata

 

...das Verstehen müßte mehr im Vordergrund stehen.
Damit auch der oberflächlichste Leser begreift, worum es geht?

Du hast Recht: Die Dialoge könnten eleganter sein. Wenn Du aber glaubst, dass es ein besseres Wort als "sagte" gibt, liegst Du falsch.

Fritz

 

Wenn Du aber glaubst, dass es ein besseres Wort als "sagte" gibt, liegst Du falsch.

Ob man da falsch liegt, kommt ganz auf die Anforderungen an, denen man sich stellen will.

aquata

 

Was verstehst Du denn unter einem gut geschriebenen Dialog?
Meiner Meinung nach können die Worte in der direkten Rede für sich selbst stehen.

 

Hallo Fritz,
diese Geschichte habe ich vor ein paar Tagen zufällig entdeckt (war wohl vorn) und gelesen. Die Idee ist super, der Titel (und damit der Zusammenhang zur Philosophie) auch, nur bei der Umsetzung wiederholt sich einiges.

Der Erzähler hat ein Erlebnis (gut dargestellt) und stellt eine Theorie auf, die er dann von einem chinesischen Restaurantbesitzer überprüfen lässt. Ich fände es spannender, diesen Prozess mitzukriegen, wenn also der Chinese ein Freund wäre, und der Erzähler erstmal mit ihm zum Schalter geht und Sätze ausprobiert, die dann ins Leere laufen ...Oder so. So wird mir zuviel doziert, auf Kosten der Spannung.

Es ist klar, dass du dir den Aufbau sorgfältig überlegt hast und auch die Programmierung mit einbringen wolltest. Ich würde mich freuen, wenn du das noch lebendiger schaffen würdest.

Gruß, Elisha

 

Hallo Elisha,

ich komme sicher wieder in eine Phase, in der ich lebendiger schreiben kann. Um die Wahrheit zu sagen, gibt es im Moment andere Geschichten von mir, die eine Überarbeitung dringender nötig haben. ;) Danke für die ehrliche Kritik!

Modrige Grüße,

Fritz

 

Hi GuterFritz!

So, ich glaub da gab es ein Mißverständnis wegen der Dialoge. Meine es ganz simpel, die gleichen Satzanfänge (Ich plus Tätigkeit) sind ungünstig. Habe immer noch Compi-Probleme, deshalb die späte Reaktion.

aquata

 

Hi aquata,

vielleicht ist das bei mir eine seltsame Vorliebe für diese Art von Monotonie. Ich werde mal darüber nachdenken.
Falls die Computerprobleme etwas mit Viren, Schwierigkeiten mit der Hardwarekonfiguration oder dauernden Systemabstürzen zu tun haben, versuchs mal mit einem Mac. ;)

Fritz

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom