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Chrissy (11): Das Jahr der Pilze
Am Abend, bevor Weitoma uns besuchte, schickte Mama mich ins Dorf, um Papa zu holen. Ich ging zuerst in den Hirsch und hatte Glück, er war dort.
„Da kommt meine Große, willst du eine Limo? Ich trinke noch ein Bier, danach gehen wir nach Hause.“ Papa klopfte auf den freien Stuhl neben sich. Zu gerne hätte ich eine Limo getrunken, die gab es bei uns nie. Doch, Mama würde sauer werden. Wir mussten sparen und Papa sollte mitkommen. Ich schüttelte den Kopf und Papa bestellte trotzdem ein Bier.
Auf dem Nachhauseweg streichelte er mir über das Gesicht, „Chrissy, du bist mein bestes Mädchen. Du sagst der Mama doch nicht, dass ich noch ein Bier getrunken habe!“, Papa lächelte mich an und seine Stimme klang leise und sanft.
Ich schüttelte den Kopf.
„Hast du den Brief?“
Wieder schüttelte ich den Kopf. Alle zwei Wochen brachte Frau Kohler die blauen Briefe mit dem Fensterchen. Papa wollte, dass ich sie vor Mama verstecke, damit sie sich nicht aufregen musste. Doch diesen Dienstag war kein Brief gekommen.
Papa starrte mich mit rot glänzenden Augen an. „Warst du überhaupt zu Hause und hast aufgepasst?“ Ich zuckte zusammen. Er klang laut und zornig.
„Den ganzen Nachmittag!, „Mama hat mich nach draußen geschickt. Martin war im Hof und wollte mit mir in den Wald zum Schatz suchen. Ich habe nein gesagt und ihn überredet, mit mir Ball zu spielen. Wir haben Zehnerle geübt, aber die Frau Kohler ist nicht gekommen.“
Papa wühlte sich mit einer Hand durch die Haare, er zitterte dabei wie Opa.
Als wir nach Hause kamen, fehlte Mama. „Sie holt Grumbeeren“, erklärte Marie.
Bevor es dunkel wurde, ging sie oft auf die Felder und suchte nach den Kartoffeln, die bei der Ernte vergessen wurden. Damit Papa nicht mehr wütend auf mich sein konnte, zog ich mein Nachthemd an und bin ins Bett gegangen.
Am anderen Tag ist dann Weitoma gekommen. Als ich von der Schule nach Hause kam, saß sie mit Mama in der Küche. Auf dem Tisch lag ein Kuvert mit Fensterchen. Mama stützte ihren Kopf auf die Hände und starrte auf ein Schreiben. Ich traute mich nicht zu fragen, woher der Brief war. Weitoma nahm mich in den Arm und drückte mich. Ich mochte das nicht, denn sie roch immer so seltsam, ein bisschen schimmelig.
Oma Anna hatte nie so gerochen; sie roch nach Kuchen, Marmelade und nach Lavendel.
„Chrissy, möchtest du Kartoffeln essen?“ Mama schaute mich an. Unter ihren Augen waren dunkle Ringe und sie waren rot, wie beim Zwiebelschneiden. Ich wollte nichts essen und schüttelte den Kopf.
„Wenn du keine Kartoffeln willst, geh Pilze suchen!“, schlug Mama vor. Sie kramte eine Plastiktüte aus der Schublade und gab mir ein Messer. „Pass auf das Messer auf!“
Ich nickte, und weil ich ihr eine Freude machen wollte, fragte ich, ob ich meine Schwestern mitnehmen sollte.
„Die sind bei eurer Tante, deine Mama und ich müssen etwas bereden.“ Weitoma drückte ihre Augen zusammen und nickte mir zu.
Früher ging Mama zu Oma Anna, um zu reden. Doch ihre Mutter war im Frühling gestorben. Als es Maipilze gab. Die haben Mama und ich unter Wacholdersträuchern und versteckt zwischen Heidegras und Silberdisteln gefunden.
Mama hatte mir alle Pilzplätze gezeigt, auch die auf der Kuhwiese. Vielleicht wäre sie mitgekommen, wenn sie nicht so traurig gewesen wäre. Bestimmt wegen Papa. Sicher hatte er bei Frau Kohler Geld abgehoben, um Bier zu kaufen.
Einmal im Monat gingen Mama und ich in unsere Dorfsparkasse. Jedes Mal ermahnte sie mich, an der Zimmertüre stehenzubleiben und zu warten. Auf Frau Kohlers Tisch stand ein Tresor. Damit er aufging, musste sie an einer kleinen Scheibe mit Ziffern drehen. Ich hatte immer Angst, dass sie die Zahlen einmal vergessen würde und wir dann kein Geld bekämen. Das war auch schon passiert, aber nicht, weil Frau Kohler die Zahlen vergessen hatte, sondern weil auf Papas Konto kein Geld mehr war. Irgendwie bekam ich immer schwitzige Hände, wenn ich an der Tür stand und die beiden Frauen beobachtete. Inzwischen wusste ich, wenn Frau Kohler Mama traurig ansah und den Kopf schüttelte, dann bekamen wir nur wenig Geld. Mamas Mund öffnete sich dann, wie wenn ihr die Luft ausgehen würde. An diesen Tagen stritten meine Eltern.
Als ich die Kuhweide erreichte, staunte ich. So viele Pilze hatte ich noch nie gesehen. Ich schnitt und schnitt einen Pilz nach dem anderen. Voller Begeisterung packte ich sie ein. Mama würde sich riesig freuen. Mit voller Tüte rannte ich nach Hause. Strahlend streckte ich sie ihr entgegen. Mama nahm die Pilze und legte sie auf den Herd. „Du musst doch sicher Hausaufgaben machen, geh ins Wohnzimmer!“
Klar musste ich welche machen. Seit ich nicht mehr in die Grundschule ging, sondern jeden Morgen mit dem Bus in die Hauptschule fahren musste, bekamen wir viele Aufgaben auf. Wütend knallte ich die Schulbücher auf den Tisch. Sollte Mama doch nächstes Mal selbst Pilze suchen!
Als ich fertig war und meinen Schulranzen neben die Garderobe stellte, kamen meine Schwestern nach Hause. Mama lief zur Bushaltestelle, um Papa abzuholen. Das würde Streit geben, dachte ich besorgt. Papa gefiel es gar nicht, wenn er abgeholt wurde und nicht mehr in die Wirtschaft konnte.
„Chrissy, du gehst mit deinen Schwestern ins Kinderzimmer!“ Omas faltiger Hals drehte sich und ihr Kopf deutete zu unserem Zimmer.
„Macht Mama dann meine Pilze?“ Ich schluckte bei dem Gedanken an die leckere Pilzpfanne.
„Bestimmt.“ Oma verschwand in der Küche.
Folgsam gingen wir vier ins Kinderzimmer. Ich schnupperte, sogar hier roch es nach Pilzen, nach Erde und ein wenig nach Mandeln. „Was wollt ihr spielen?“, fragte ich die drei und gruschtelte in der Spielkiste. Annas einbeinige Puppe ragte über den Rand. Vier nackte Barbiepuppen lagen übereinander. Legosteine flogen aus der Kiste. Viel zu wenige, um etwas Größeres zu bauen. Ich griff nach dem einzigen Buch und wir setzten uns auf den Boden. Während ich ihnen vorlas, hörte ich unsere Eltern nach Hause kommen.
„Du hättest nicht herfahren müssen!“ Papas Stimme war laut.
„Wir waren heute auf der Sparkasse, so kann es nicht weitergehen“, antwortete Oma. Ebenfalls, ohne Papa zu begrüßen.
Bestimmt hatten sie den Brief heute in der Stadtsparkasse bekommen, schoss es mir durch den Kopf.
„Das ist mein Geld, und ich kann damit machen, was ich will!“, brüllte Papa, dabei schlug er so laut auf den Tisch, dass Mama aufschrie.
„Sigi, denk doch an die Kinder!“, bat ihn Oma und ich hörte, wie die Küchentüre geschlossen wurde.
Jetzt verstanden wir nicht mehr, was die Erwachsenen miteinander redeten. Erkannten an ihren wütenden Stimmen, dass sie miteinander stritten. Ich las vor, so laut ich konnte.
Dann kam Papa ins Kinderzimmer. Er nahm meine jüngste Schwester auf den Arm. „Tschüss, meine Kleine, bleib schön brav!“, er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und setzte sie wieder ab.
Er beugte sich zu Marie, die neben mir saß. und streichelte ihr über den Rücken. „Du musst auch brav sein, hörst du, Papa muss jetzt gehen.“
Lotte war inzwischen unters Bett gekrochen. Papa zog sie hervor und sie begann zu weinen. „Du brauchst doch keine Angst zu haben. Ich will mich nur von dir verabschieden.“ Lotte weinte weiter, und Papa drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
Dann nahm er mich in den Arm. Papa weinte. Und ich musste auch weinen. „Meine Große, ich muss gehen und du wirst auf deine kleinen Schwestern aufpassen.“ Er drückte mich so fest, dass es weh tat und ich fast keine Luft mehr bekam.
„Papa, warum gehst du weg? Bleib hier!“, kreischte ich, als er mich losließ. Er ging. Ich wollte ihm hinterherlaufen, doch Mama kam und schob mich zurück.
„Lass mich los! Ich will zu Papa!“
Sie drückte die Türe zu und schloss ab. Weil ich fürchterliche Angst hatte, begann ich zu schreien: „Lass mich raus!“ Ich schlug mit den Fäusten gegen die Tür. Ich weiß nicht, ob meine kleinen Schwestern zu schreien anfingen, weil ich ihnen Angst machte, oder weil Papa weg war. Vielleicht auch, weil es so schrecklich laut in unserem Zimmer wurde. Anna, die mit ihren sechs Jahren schon lange trocken war, pinkelte auf den Boden. Rotz lief ihr aus der Nase und ihr Gesicht war rot vom Schreien. „Papa“, bettelte Anna, „Papa“, während sie ihr verpinkeltes Röckchen in die Höhe hob.
„Mama!“, rief ich, „Mama, bitte mach doch auf, Anna hat in die Hose gemacht!“
Ich lauschte, sie kam aus der Küche und schloss auf. Mama nahm Anna auf den Arm und ich rannte an ihr vorbei aus dem Zimmer, durch die Wohnungstür in den Keller. In den Raum, in dem ich immer die Briefe mit den Fensterchen versteckte. Papa hing da. Ich wollte schreien, doch erst als ich meine Hand ausstreckte und ihn berührte, bekam ich Luft und schrie. Ich weiß nicht mehr, wie sie meinen Vater abgeschnitten haben. Er lag auf dem Kellerboden und Oma kniete sich neben ihn. Sie schlug ihm ins Gesicht. „Du dummer Bub, du“, ihre Stimme klang nicht wütend.
Wie bei Oma Anna, wenn ich mich verletzte und sie dann sagte: „Kind, du musst doch besser aufpassen!“
Mama schüttelte mich.
„Lass mich los, du hast Schuld!“, schrie ich sie an. „Warum hast du mich nicht zu Papa gelassen!“
Mama schüttelte weiter.
„Du musst Doktor Müßig anrufen, sag ihm, dass Papa sich aufgehängt hat. Geh, lauf zu Frau Rinter!“
Ich rannte los. In meinem Kopf war es laut, wie in unserem Kinderzimmer. Wenn ich den Doktor anrufen musste, dann war Papa vielleicht gar nicht tot? Tote Menschen haben doch immer die Augen auf? Papas Augen waren beide zu gewesen. Ich zählte eins … rannte weiter. Zwei … rannte weiter … fünf Häuser; im sechsten hatte Frau Rinter ihren Getränkehandel. Sie war die einzige, die in unserer Straße ein Telefon besaß. Ich klingelte Sturm. Keiner öffnete. Vielleicht hatte sie mich gesehen und dachte, ich wollte ein Bier holen. Papa hatte mich die letzten beiden Male anschreiben lassen. Vielleicht war sie auch nicht zu Hause. Ich musste zur Telefonzelle. Bis zum oberen Dorf waren es viel mehr Häuser.
Mein Hals brannte und meine Seite tat weh, als ich außer Atem die Glastüre der Zelle aufdrückte. Erst jetzt fiel mir ein, dass ich kein Geld hatte. Gegenüber der Telefonzelle war Papas Lieblingswirtschaft. Die Wirtin kannte mich. Ich würde sie fragen, ob sie mir 20 Pfennig gab.
Ich riss die Tür zum Schankraum auf. „Wo ist Frau Hirsch?“, rief ich in den Gastraum.
„Die ist oben und füttert ihren Vater, sie kommt gleich wieder“, antwortete einer der Männer, die am Stammtisch saßen.
„Bitte, ich brauche schnell 20 Pfennig für die Telefonzelle!“, schrie ich die Männer an.
„Kind, warum denn so dringend?“, fragte mich einer freundlich, während er seinen Geldbeutel aus der Hosentasche zog.
„Ich muss den Arzt anrufen, mein Papa hat sich aufgehängt.“ In meinem Kopf dröhnte es, während in der Wirtschaft Stille herrschte. Der Mann sprang auf und ging mit mir zur Telefonzelle. „Was ist mit deinem Papa, ist er tot?“, fragte er mich.
Ich schüttelte den Kopf.
Der Mann suchte im Telefonbuch nach der Nummer. Er wählte und reichte mir den Hörer. Meine Hand zitterte, ich spürte, wie er seine Hand über meine legte.
Der Arzt versprach sofort zu kommen.
Ich glaube, ich habe mich nicht einmal bedankt. So schnell ich konnte, rannte ich zurück nach Hause. Papa war nicht tot, der Arzt konnte ihm bestimmt noch helfen. Ich betete den ganzen Weg lang. „Ein Vater unser“, ein „Gegrüßet seist du, Maria“ und dann wieder ein Vater unser …
Während ich klingelte, hielt das Auto von Doktor Müßig vor unserem Haus.
Mama öffnete die Haustür. „Geh nach oben, zu deinen Schwestern!“, ihre Stimme war leise, doch sie betonte jedes Wort, während sie mich anstarrte. Ich traute mich nicht zu widersprechen.
Meine Schwestern und ich gingen am anderen Morgen in die Schule. Wir wollten nicht zu Hause bleiben, wo Mama und Oma saßen und weinten. Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass es noch nicht alle gewusst hätten. Doch als ich an diesem Morgen in den Bus einstieg, stellte sich ein Junge vor mich hin und hängte sich pantomimisch einen Strick um den Hals. Legte den Kopf auf die Seite und ließ die Zunge heraushängen. Ich setzte mich schnell auf einen freien Platz. Meine Freundin rutschte neben mich und legte den Arm um meine Schultern. „Den hat sein Vater dumm geprügelt, mach dir nichts draus!“ Tröstend streichelte sie meinen Arm.
An diesem Tag fragte mich keiner nach dem Tod meines Vaters, auch nicht an den Tagen, die folgten. Ich kann mich nicht mehr an die Beerdigung erinnern oder wann Oma wieder nach Hause reiste, um nie wiederzukommen.
Im neuen Jahr gingen Mama und ich in den Hirsch. Gleich nach der Beerdigung hatten sie Mama die Schuldscheine gezeigt. Von den vier Wirtschaften, in denen Papa Schulden gemacht hatte, wollten zwei Wirtinnen ihr Geld haben. Sie vereinbarten mit ihr, dass sie erst im neuen Jahr, zahlen musste, wenn die Beerdigung beglichen war.
Mutter riss aus einem alten Heft zwei leere Seiten; auf einer schrieb sie „Gasthaus Hirsch“ und auf die andere „Gasthaus Bruck“. Damit gingen wir an jedem Ersten im Monat zu den Wirtinnen. Mama zahlte ihnen fünf DM zurück. Sie schrieben das Datum und ihre Unterschriften darauf.
Vor ihrer Hochzeit war meine Mutter Näherin in einer Fabrik gewesen. Jetzt nahm sie Schneiderarbeiten an. Flickte Hemden, kürzte Hosen und Kleider und hatte keine Zeit mehr. Ich musste alleine in die Wirtschaften gehen. Jedes Mal druckste ich vor den Gaststätten herum, bis ich genügend Mut gesammelt hatte, um hineinzugehen. Blickte dann verschämt in die Gaststube und wenn viele Gäste an den Tischen saßen, ging ich wieder. Wartete bis weniger darin waren. Achtzehnmal.