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Cindy
Sie stand vor dem Spiegel und zupfte ihre Augenbrauen. Ein rohes, ungeschminktes Gesicht blickte ihr unsicher entgegen, ein Gesicht wie das kahle Zimmer im Hintergrund: die dunkelgrüne Bettwäsche, das hölzerne Nachtkästchen, auf dem nur der Wecker und die zweckdienliche Leselampe standen. Das einzige persönliche - ein Poster von Madonna. Vater und Mutter dachten wohl, Daniel wichste bei ihrem Anblick, doch sie war Cindys Idol. Wehmütig drängte sich ihr der Vergleich mit Claudias Zimmer auf: die rosa Vorhänge, die große Kommode voller Kosmetiksachen und schmuckem Krimskrams, die Plüschtiere auf dem Bett ... Nichts wie raus hier und zu Claudia. Raus aus ihrem Loch und rein in ihre Haut.
Cindy prüfte noch einmal, ob die Tür versperrt war, dann holte sie den alten Lederkoffer unter ihrem Bett hervor. Aufgeregt öffnete sie ihre Schatztruhe und wühlte zwischen ihren Lieblingskleidern. Das eine oder andere fischte sie heraus und ließ es sinnlich durch ihre Hände gleiten. Sie hielt bei dem roten Minikleid inne, das letzten Samstag die Blicke auf sie gezogen hatte. Wie ein Filmstar hatte sie sich gefühlt, als sie den Club betrat und aller Augen auf ihr ruhten, auch Martins.
Die Aufmerksamkeit der Menge erregte sie und füllte sie mit Stolz, auch wenn es eine schmutzige Gier war, mit der die Männer nach ihr verlangten. Cindy hatte die Blicke beobachtet, die sie Claudia und den anderen Mädchen zuwarfen. Bei ihr war es nicht dieselbe, unbeschwerte Art zu flirten. Cindy spürte, wie sich die Faszination ihrer Bewunderer mit einem gewissen Unbehagen vermischte, oft unter der Maske von Spott und Verachtung. Sie war kein gewöhnliches Mädchen, keine Frau für sie. Es war eine verdrängte Lust, mit der hungrige Augen sie verschlangen, ein neugieriger Reiz, der die geheimsten Fantasien entblößte. Martins Fantasien wollte sie befreien. Sie wollte ihn.
Cindy entschied sich für das schwarze Samtkleid, dazu die Schuhe mit Bleistiftabsätzen. Elegant, nicht leichtfertig, wollte sie sich heute präsentieren. Sie kramte noch eine passende Handtasche hervor, in die sie Schminkzeug, Zigaretten und Geldbörse steckte, und packte ihre Sachen in die blaue Sporttasche. Dann schlüpfte sie in ihren engen Tanga und verstaute alles sorgfältig darin. Ihr Blick im Spiegel schweifte nach oben und sie seufzte wieder einmal über ihre viel zu breiten Schultern. Wahllos nahm sie ein ausgeleiertes T-shirt und eine Jeans aus dem Schrank und zog sich eilig an.
An der Zimmertür angelangt, drehte sie sich ein letztes Mal um und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Er fiel auf die Pinzette, die noch auf dem Schreibtisch lag, und sie steckte sie hastig in die Schublade.
Im Wohnzimmer lief wie gewöhnlich der Fernseher. Der Vater war in ein Spiel zwischen Barcelona und Milan vertieft. Die Mutter sah vom Bügelbrett auf.
“Wo geht denn heute die Post ab?”
Cindy glaubte, eine kaum greifbare Unruhe in ihrem Blick wahrzunehmen, als stünde ein Fragezeichen hinter der Pupille. Sie schlang die Sporttasche lässig über die Schulter und zupfte an ihrem T-shirt.
“Im Club.”
“Gehst du mit Claudia?”
Auch der Tonfall ihrer Fragen schien eindringlicher als sonst. Cindy griff sich instinktiv an die Augenbrauen, ertappte sich aber im letzten Augenblick und kratzte stattdessen verlegen ihre Stirn.
“Wie immer.”
“Na dann, viel Spaß!”
"Tschüs, Dani.", ließ sich der Vater kurz vom Bildschirm ablenken.
Auf dem Weg durch den Flur spürte sie die Augen der Mutter im Rücken und bemühte sich verkrampft, breite Schritte zu machen und nicht die Hüften zu schwenken.
“Hey, Cindy!”
Claudias Mutter war anders.
“Claudia ist noch im Bad. Möchtest du was trinken?”
“Nein, danke! Ich mach’ mich schon mal fertig.”
“Hör mal, Prinzessin ...”
Der Spitzname, den sie bei Claudia zu Hause trug, erhellte ihr Gesicht ein jedes Mal. Er war an Claudias elftem Geburtstag entstanden, als sie beide sich im Schlafzimmer verkleidet und Claudias Mutter sie ertappt hatte.
“ ... Da breitet sich ganz schön viel Geschwätz in der Stadt aus. Vielleicht solltest du zu Hause mal was anklingen lassen. Du weißt ja, wie die Leute sind.”
“Ich weiß!”, stammelte sie, ein Bisschen zu trotzig.
Es war gut gemeint. Lange konnte das nicht mehr so weitergehen.
“Danke für den Tip!”
Schnell verdrängte sie den Gedanken, verschwand in Claudias Zimmer und zog sich um. Das Kleid stand ihr gut. Sie war zufrieden mit ihrer Figur.
Cindy war gerade dabei, die Konturen ihrer Lippen so breit zu malen, wie sie sie gerne hätte, da kam Claudia, in ein Handtuch gewickelt, ins Zimmer.
“Wow, da werden Martin aber die Glubscher aus dem Gesicht fallen.”
“Hi Süße! Glaubst du, das Rot ist zu grell?”
“Nein, das sitzt, aber den Lidschatten würde ich nicht so dick auftragen.”
Cindy tupfte mit einem Wattebausch ihre Augenlider ab, bis die Schattierung unaufdringlicher wirkte.
Bei Claudia ging das ruck-zuck. Sie verwendete wenig Schminke, ein Bisschen Wimperntusche, einen Touch von Rouge auf ihren Wangen, eilig noch den Lippenstift draufgeschmiert – fertig. Auch bei der Auswahl ihrer Kleidung schien sie sorglos vorzugehen. Was auch immer sie anzog, sie wusste, dass es saß.
“Robert kann uns heute nicht abholen. Seine neue Flamme macht ihm sonst die Hölle heiß.” Claudia grinste schelmisch.
“Bernie kommt wohl auch nicht als Chauffeur in Frage?”
“Verdammte Scheiße! Er hat gestern drei Mal angerufen. Was habe ich mir da nur eingebrockt?”
Cindy zupfte noch immer an ihrer Frisur, dann fiel ihr Blick im Spiegel neidisch auf die vollen Brüste ihrer Freundin und sie rückte ihren eigenen, ausgestopften BH zurecht.
“Manchmal wünschte ich mir, es würde auch mal einer total auf mich stehen, weißt du, so richtig verliebt sein.”
Ihre falschen Wimpern klimperten sehnsüchtig. Claudia sah sie einen Augenblick lang ratlos an. Dann zwinkerte sie ihr zu.
“Du siehst umwerfend aus, Prinzessin.”
“Du liebe Zeit! Kann ich euch zwei tatsächlich so aus dem Haus lassen?”
Claudias Mutter protestierte wieder einmal schmunzelnd.
“Verursacht mir ja keinen Verkehrsunfall oder eine Schlägerei, wenn ihr so provokant unterwegs seid.”
Die beiden kicherten, während Claudia in ihre Stöckelschuhe schlüpfte und Cindy die Haustür öffnete.
In der grellen Eingangsbeleuchtung starrte ihr ein entsetztes Augenpaar entgegen. Cindy fiel noch auf, dass die Mutter den schicken Mantel nur hastig über den Jogginganzug geworfen hatte. Darunter lugten die Pantoffeln hervor, als ginge sie den Müll raustragen.
Mutter und Kind schwiegen einander erschrocken an. Dann wich die Ungläubigkeit des vertrauten Gesichts einer schmerzverzerrten Grimasse, die Cindy zornig anschrie:
“Wie hast du dich bloß zugerichtet? Zieh das sofort wieder aus! Was soll das denn, um Himmels Willen? Daniel!?”
Cindy sah, wie die Mundwinkel der Mutter zitterten und die Augen sich mit Tränen füllten.
Ein krampfartiges Gefühl tief aus dem Bauch stieg durch ihre Brust hoch und schien nun in ihrem Hals zu sitzen. Ihr Mund stand offen, doch die Worte wollten nicht herauskommen. Als sie dicke Tropfen über die eigenen Wangen laufen spürte, musste sie an ihre Schminke denken. Gerade jetzt wollte sie schön sein, noch mehr als für Martin. Schließlich hörte sie sich sagen:
“Ich bin jetzt Cindy.”