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Cuba Libre
Nachts, wenn er sich an mich drängt, wenn seine Wangen feuchte Abdrücke auf meiner Brust hinterlassen, frage ich mich manchmal, wer wir sind. Und ich frage mich, ob er selbst eine Antwort darauf wüsste. Ich höre seine Atemzüge in der Dunkelheit, knapp, zitternd. Sein Körper presst sich an meinen. Er schläft. Er hat keine Ahnung, wie lange ich jede Nacht an die Decke starre und mir wünsche, die Zeit anzuhalten, damit die Zukunft nicht so rasend schnell auf mich zukommt, damit ich noch ein paar Mal Atem schöpfen kann.
Wir hatten uns kennen gelernt, als ich an der Baustelle vorbeiging, auf der er arbeitete. Im Grunde war es entsetzlich banal. Er pfiff mir nach, ich war sicher die zehnte an diesem Tag, bei der er das versuchte, und ich drehte mich um, die Julihitze flimmerte zwischen uns, und ich blickte ihn an. Groß, kräftig, dunkles Haar, er war sicher vier, fünf Jahre jünger als ich. Einer, der immer bereit ist, eine Frau anzusprechen. Einer, der die pinkfarbenen H&M-Mäuschen überzeugen kann, indem er sie anstrahlt. Nicht mein Typ eigentlich.
Aber trotzdem, da war etwas. Ich konnte mich nicht einfach umdrehen und weitergehen. Ich musste zurück und ihn ansprechen.
Und das war der Anfang.
Nachts, wenn ich mich vorsichtig von ihm löse, wenn ich aufstehe und in die Küche tappe, um ein Glas eiskaltes Leitungswasser zu trinken – so hastig, dass es schmerzt -, höre ich den Fernseher. Nur ganz leise, aber ich höre ihn, unter der Wohnzimmertür dringt sein Flimmern hervor, und ich weiß, dass Nadja wieder dort sitzt und sich die Horrorfilme ansieht, die sie aus der Videothek geholt hat. Filme, die ich nicht mag. Filme, die sie früher mit Bernhard angeschaut hat. Manchmal, wenn ich barfuß im Halbdunkel der Küche stehe und mein Glas umklammere, frage ich mich, ob Nadja mit diesen Filmen die Vergangenheit zurückholen möchte. Die Zeit ohne mich.
Anfangs, als er noch auf dem Bau arbeitete, trafen wir uns regelmäßig in der Stadt, im Café Paz, wo er mit seinem nur halbherzig zugeknöpften Hemd und den tellergroßen Schweißflecken seltsam fehl am Platz wirkte. Ich bestellte meistens Capuccino und er Cuba Libre. Weil der Name so schön war, sagte er.
Später, als seine Zeit auf dem Bau zuende ging, wagte er es, mich zu sich nach Hause einzuladen. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal in die Kühle dieser Wohnung hineintrat und mich beim Schuhausziehen umsah. Sie war einfach. Ein bisschen unordentlich. Mir war, als spürte ich die unbestimmte Präsenz von etwas, das nicht mehr da war, an das er selbst nicht mehr denken mochte.
Dann sah ich die kleinen Schuhe im Flur, die knappe Mädchenjacke am Garderobenhaken, vergessene Haargummis auf dem Küchentisch, und mir war klar, dass er nicht alleine wohnte.
„Ja, meine kleine Schwester“, sagte Bernhard, während er hinter mich trat und den Kopf an meine Schulter lehnte. „Unsere Eltern haben uns sitzen lassen, weißt du.“
Nachts steht sie manchmal im Türrahmen, schweigend. Ich höre sie nie kommen und bemerke sie erst, wenn ich das leere Glas in die Spüle stelle und mich zum Gehen wende.
Dann steht sie da, die Arme verschränkt, die Augen schmal, glänzend. Nie sagt sie etwas. Wir blicken uns nur an. Sie schläft nur mit einem T-Shirt, eines, unter dem ich selbst bei diesem Licht ihre sanften Rundungen erkennen kann, ihre Weiblichkeit, die noch so jung ist, so unbestimmt, fast nicht zu erkennen an ihrem knochigen kleinen Körper. Aber ich sehe sie.
Es kostet mich jedes Mal Überwindung, mich an ihr vorbeizudrücken, wenn ich die Küche verlassen will. Sie weicht dann zurück, nur minimal, und lässt ihren Blick nicht von mir. Unversöhnlich.
In diesen Nächten weiß ich, wie sehr sie mich hasst.
Wir trafen uns mittags, wenn Nadja in der Schule war, und manchmal abends, wenn sie einmal zu Freunden ging. Dann rief Bernhard mich an, ich solle mich auf den Weg machen. Er holte mich von der Bushaltestelle ab mit seinem uralten VW, dessen Knattern ich schon von weitem erkennen konnte, obwohl ich von Autos sonst nichts verstand.
Unsere Treffen waren hastig und hatten etwas vom Zauber einer heimlichen Romanze. Alles um uns herum drängte uns seine Grenzen auf, und eben deshalb schien alles möglich. Nur der Freitag, der war ein Tabu.
„Familienabend“, sagte Bernhard einmal, als wir über unser nächstes Treffen nachdachten, als er seinen Kopf auf meine Brust gebettet hatte, wie er es am liebsten tat. „Darauf besteht sie. Jede Woche.“
Nadja durfte mich nicht sehen. Sie durfte nicht einmal von mir wissen.
„Sie hat alle verjagt“, murmelte er mit den Lippen an meinem Hals. „Sie hat keine geduldet. Mit dir soll es nicht passieren.“
Ich strich durch sein Haar und fragte mich, was es bedeutete, die Letzte von vielen zu sein.
Nachts, wenn ich zurück ins Bett krieche und er im Schlaf nach mir tastet, fühle ich mich manchmal schuldig, weil ich an dieses Mädchen denke, das da in der Küchentür steht und ins Leere schaut oder vielleicht schon wieder auf der Couch sitzt und mit der Hand über die Stelle streicht, wo früher eine leichte Kuhle war, angewärmt von dem Körper, der sich jetzt an mich schmiegt. Bernhard umschlingt mich im Schlaf. Ich fahre mit den Fingern sanft über seine Hand, spüre eine kleine Narbe – die stammt von Nadja, die hat sie ihm zugefügt, wie ein Brandmal, das zeigt, er gehört nur ihr. Meine Finger gleiten über seinen Arm, ich spüre seine Muskeln und weiß doch, dass ich stärker bin als er.
Er drängt sich an mich, er hält mich fest.
„Was hältst du davon, wenn wir heiraten?“, fragte er mich.
Das war, als er gerade wieder Arbeit hatte. Als wir uns das erste Mal wieder im Café Paz trafen: Capuccino und Cuba Libre.
Ich blickte in seine Augen. Da war ein Junge, der endlich erwachsen werden, und ein Mann, der endlich wieder Kind sein wollte. An jenem Morgen, als Nadja und er aufgestanden waren und feststellten, dass ihre Eltern wer weiß wohin verschwunden waren, war sein Leben aus den Fugen geraten. Er war zum Mann im Haus geworden. Er konnte sich nicht entscheiden, was er sein wollte.
„Ich liebe dich“, sagte Bernhard und nahm über den Tisch hinweg meine Hand. „Und ich habe es satt, so zu leben. Wenn wir heiraten, wird sie dich respektieren.“
„Ich kann doch nicht einfach bei euch auftauchen und mich als deine Verlobte präsentieren.“
Aber diese Augen. Dieser Blick.
Und ich liebte ihn doch auch.
Nachts, wenn die Leuchtziffern der Digitaluhr unbarmherzig die Zeit zusammenschmelzen lassen, die noch bis zum Morgen bleibt, die ich vielleicht noch schlafen könnte, frage ich mich, warum ich hier gelandet bin. Ich liebe ihn, ja. Zumindest seine Nähe. Seinen Körper. Seinen Blick. Egal, was er ist, egal, welche Rolle er gerade spielt – sein Blick ist immer derselbe. Er gehört dem Kind, das sich an mich schmiegt. Dem Jungen, den ich in den Arm nehmen muss.
Ich sehe ihn auf der Baustelle stehen und seine Muskeln im Sonnenlicht spielen, und ich weiß noch immer, dass ich stärker bin als er.
Dass selbst Nadja es ist.
Einen Moment lang dachte ich selbst, es könnte funktionieren. Oder wollte ich es zumindest denken. Ich sagte es mir immer wieder, während Bernhard mich ins Wohnzimmer schob, wo Nadja im Schneidersitz auf der Couch hockte. Es war das erste Mal, dass ich sie sah. Sie war kein Kind, das sich in die Polster kuschelte, sondern eine kleine Frau, zerrissen wie ihr Bruder. Ihre Augen weiteten sich kurz, als unsere Blicke sich trafen, aber als Bernhard mich auf das Sofa drückte, sah sie weg, blickte ihn an. Überrascht. Verständnislos. Und doch ahnend.
„Wir werden heiraten.“ Bernhard hielt meine Hand hoch, damit sie den Ring sehen konnte. „Ich liebe sie.“
Nadja blickte mich an, und ich fragte mich, wie ich je hatte glauben können, das hier würde einfach sein.
„Wir werden uns gut verstehen“, sagte ich aufs Geratewohl und fühlte meine Wangen brennen. Nadjas Blick hätte geringschätziger nicht sein können. Sie rückte von mir ab. Rechts von mir drängte Bernhard sich an mich.
Ich saß genau zwischen ihnen.
Nachts, früh, wenn ich doch einnicke, wenn ich den Druck auf meiner Brust vergesse, träume ich manchmal von diesem ersten Abend, den ich hier verbracht habe. Gleich nach der Ankündigung. Gleich nach Nadjas erstem hasserfüllten Blick.
Wenn ich träume, finde ich mich wie damals in einem leeren Bett wieder, Bernhards Decke ist zerwühlt, die Schlafzimmertür nur angelehnt, und ich höre ihre Stimme am anderen Ende des Flurs, aus dem Wohnzimmer.
„Ist das ein Scherz?“ Sie klingt schrill, verzweifelt. Ich höre Bernhard nicht antworten, aber ich weiß, dass er dort sein muss. Fast ist mir, als ob ich sie sehen kann, die Geschwister, die im Dunkeln auf der Couch kauern, erhellt einzig vom flimmernden Licht des Fernsehers. Er hat sich dorthin geflüchtet – vor mir, vor Nadja, wer weiß das schon.
„Du kannst mich nicht einfach beiseite schieben! Ich bin deine Schwester!“ Ihre Stimme überschlägt sich. „Ich bin die Einzige!“
Das ist der Moment, in dem ich aufwache und Bernhards Atem spüre. Und jedes Mal frage ich mich, ob es überhaupt ein Traum gewesen ist. Vielleicht schreit sie es wirklich, Nacht für Nacht, während sie im dunklen Flur steht, während Bernhard sich an mich presst. Nie ist er es, der mich in den Arm nimmt. Ich bin die Starke. Ich bin seine Freiheit.