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Cyclophosphamid
Der Mann war schon da, als ich heute eintraf. Mit Sicherheit sind wir uns noch nicht begegnet, das Gesicht hätte ich mir gemerkt. Im Gegensatz zu mir hat er durch die Behandlung seine Haare verloren. Mit seinen wimpernlosen Augen hat er mich bei der Begrüßung eine Spur zu lang gemustert. Sie sind sehr blau, seine Augen. Alles ist groß an ihm, die Nase, der Mund und vor allem die abstehenden Ohren. Die gehäkelte Mütze auf seinem Schädel wirkt wie eine Kippa und seine Hände könnten jemandem gehören, der Blockhütten in Norwegen baut. Im Gesicht ist er genauso bleich wie wir anderen. Frühmorgens verleiht das Cortison manchen Wangen hier noch etwas Blühendes. Das verliert sich aber im Laufe des Tages, bis schließlich die Chemo die restliche Farbe rauszieht.
Sein Handy klingelt leise. Er schaut aufs Display und lächelt.
"Nele! Das ist ja eine Überraschung."
Der aufgeregte Klang von Neles Stimme dringt zu mir, ohne dass ich ihre Worte verstehen kann. Sein Lächeln verschwindet, er schließt kurz die Augen.
"Oh ha", sagt er. "Und? Alles noch dran?"
Heftige Beteuerungen am anderen Ende. Er atmet aus, lässt sie reden, brummt mitfühlend. „Mensch, dann ist doch alles halb so wild.“ Und schließlich: "Ja, und was soll ich da jetzt machen?"
Da ist was Fremdes in seiner Sprache, könnte ein dänischer Akzent sein. Um ihn nicht weiter anzustarren, beschäftige ich mich mit meiner Wasserflasche, wobei ich versuche, den Arm, in dem der Zugang steckt, möglichst wenig zu bewegen. Dann betätige ich den Hebel unter dem Stuhl und drücke mich in Rückenlage. Draußen ziehen nur wenige Wolken über den Januarhimmel. Die gelbe Gardine auf seiner Seite ist halb zugezogen, denn die Zytostatika vertragen keine Sonne, genau wie wir. Mehrmals höre ich ihn „Vollkasko“ sagen. Irgendwie tut mir das gut, alles in Ordnung: Wir haben Vollkasko.
In der großen Baumkrone mit den kahlen Ästen sitzen Krähen, die sich schwarz vor der Hauswand gegenüber abheben. In einigen Fenstern hängen noch Reste der Weihnachtsdekoration. Dort leben Leute, die jeden Tag in die Räume der onkologischen Tagesklinik blicken können, besonders gut am späten Nachmittag, wenn sie kalt erleuchtet sind. Ob der Vermieter sie vorher darauf hingewiesen hat? Bis vor einigen Monaten bin ich diese Straße oft entlanggelaufen, ohne zu wissen, dass das die Rückseite der Klinik ist. Nie habe ich hochgeschaut. Jetzt könnte ich mich vom Fensterbrett abstoßen, in die Baumkrone hineinschweben und von dort hinunter, in meinem alten Leben landen.
Inzwischen hat er sein Gespräch beendet. Als ich kontrolliere, wie weit meine Vorwässerung durch ist, treffen sich unsere Blicke. Er verdreht die Augen.
„Ein Unfall?“, frage ich.
Er nickt. „Meine Tochter. Aber sie ist okay. Zum Glück nur Blechschaden.“
„Gott sei Dank.“
„Ja, kann man wohl sagen.“
„Und wer hat Schuld?“
„Na, sie. Hat sich nicht konzentriert. Wahrscheinlich kriegt sie zu wenig Schlaf, jetzt wo sie den neuen Freund hat.“ Ich muss lächeln, genau wie die alte Frau neben ihm. Der junge Mann mit dem Mundschutz hat Kopfhörer auf und die Augen geschlossen.
Die Frau darf als Erste gehen. Ich döse gerade mit Blick auf meine tröpfelnde Kochsalzlösung vor mich hin, als sich eine noch körperwarme Decke auf mich legt, eine von denen aus dem Wandschrank. Die alte Dame hatte sich damit eingewickelt, und jetzt zieht sie sie mir bis zum Hals, stopft sie ringsum sorgfältig fest. Meinen entgeisterten Gesichtsausdruck deutet sie falsch.
„Schön warm, nich?“
Sie strahlt mich zufrieden an, so dass ich automatisch nicke und danke sage. Der Däne gibt ein prustendes Geräusch von sich, und wenn ich mich nicht täusche, grinst sogar der junge Mann hinter seiner Maske. Dann winkt sie in die Runde und wünscht gute Besserung.
„Man muss dran glauben, dass es hilft, das ist das Allerwichtigste. Immer feste dran glauben. Sie sind ja alle noch so jung!“
Dann ist sie weg. Ich behalte die Decke.
Eine Dreiviertelstunde später ist der Däne eingeschlafen. Die Zeitung auf seinem Bauch hebt und senkt sich langsam im Rhythmus seiner Atemzüge. Wir sind jetzt allein. Ich habe sowohl meine Vorwässerung, als auch den Cocktail gegen die Nebenwirkungen intus, und spüre die Kälte im Unterarm hochsteigen, während das Cyclophosphamid in meine Vene tröpfelt. So was darf man eigentlich nicht in seinen Körper lassen. Ich versuche ruhig zu atmen, denke, es ist nur Wasser, überwiegend Wasser, ich kenn das doch schon, ich werde mich wieder erholen. Nein, es ist nicht nur Wasser. Atme. Es tut nur das, was es tun soll.
Erst nach einer Weile merke ich, dass ich den friedlich schnarchenden Dänen anstarre. In Dauerschleife verfolgt mein Blick seine Kinnlinie bis hoch zum Ohr, wandert die Ohrmuschel ab und weiter, seine Nase hinunter, landet schließlich auf seinem leicht geöffneten Mund, folgt dem Schwung seiner Lippen, um vom Kinn aus erneut zu starten. Ich halte inne. Nach dem Pegelstand in seinem Beutel schätze ich, dass er noch eine Viertelstunde hat. Vorsichtig setze ich mich auf, grabe in meiner Tasche und halte den kleinen Schutzengel mit dem Anhänger in der Hand „Liebe Lisa, gute Besserung und dass du bald wieder bei uns bist! Deine Mäusegruppe.“ Wie weit das alles weg ist, ich weiß nicht mal mehr alle Namen. Endlich finde ich Bleistift und Zettel. Mein Herz klopft, während ich ihn skizziere. Am Ende halte ich mich am längsten mit seinen Ohren auf. Kräftige Augenbrauen würden gut dazu passen, aber ich will bei der Wahrheit bleiben. Halte mich dann doch nicht an meinen Vorsatz, sondern nehme den Kugelschreiber und ziehe die Ohrlinien blau nach. Als ich das fertige Bild betrachte, fühle ich mich, als hätte man mir den Stecker gezogen. Prompt rutscht mir der Bleistift vom Schoß und fällt mit einem hohen Pling auf den Boden. Ich bücke mich und fummele ihn mühsam hinter meinem Sessel hervor. Als ich hochkomme, blicke ich in die geöffneten Augen meines Modells.
„Darf ich mal sehen?“, fragt er und zeigt auf mein Blatt.
„Oh je.“
„Na los.“
Zögernd drehe ich es um.
„Tut mir leid. Ich hätte Sie fragen müssen.“
Er beugt sich vor und zuckt zusammen.
„Oh ha, ja, das bin ich. “
„Also. Es ist mehr eine Karikatur.“
Ich will das Blatt einstecken, aber er hält mich zurück.
„Warten Sie.“
Schweigend starrt er das Bild an. Mir steigt das Blut in den Kopf. Endlich schaut er hoch.
„Blaue Ohren.“
„Ich habe Ihre Augenfarbe auf die Ohren übertragen. Weil, Ihre Augen waren ja zu.“
Sowas Blödes habe ich noch nie gesagt. Er grinst.
„Genial.“
„Echt?“
„Aber Sie lügen.“
„Warum?“
„Sie haben erkannt, dass ich ein Alien bin. Meine Ohren sind normalerweise blau.“
„Ja?“
„Genau.“
„Und das ist gar keine Chemo bei Ihnen?“
„Nein, Treibstoff. Für den Rückflug.“
„Toll.“ Ich kichere und schiebe die Zeichnung schnell in mein Buch. Diesmal hindert er mich nicht, sondern atmet tief durch und lehnt sich zurück. Ich betrachte die fallenden Tropfen in dem kleinen Plastikzylinder. Bis sein Gerät piepst.
„Vollgetankt“, sage ich, aber er lächelt nur abwesend und dann kommt die Schwester herein, um bei ihm umzustöpseln zur Nachspülung.
Während er mit ihr spricht, muss sie zweimal nachfragen, so schlecht ist er zu verstehen. Worauf sie ihn scharf ansieht.
„Alles in Ordnung?“
„Mir ist ein bisschen komisch“, murmelt er.
„Sie haben aber was gegen die Übelkeit bekommen. Und heute Morgen haben Sie das Cortison genommen, oder?“
„Nein, hab ich weggelassen. Beim letzten Mal ging das auch ohne.“
Dann springt er auf, so kraftvoll, dass man den Infusionständer, an dem er hängt, für eine Attrappe halten könnte.
„Wir haben hier auch Tüten“, ruft die Schwester, aber er schiebt bereits Richtung Klo, wobei die Räder blockieren, reißt den Ständer hoch und knallt damit oben gegen den Türpfosten, so dass die Beutel und Flaschen brutal hin und her schlagen.
„Langsam!“ Sie eilt ihm hinterher und schließt die Tür hinter sich. Nach dem, was so durchklingt, hat er es nicht ganz geschafft.
Mir ist nicht schlecht. Einatmen. Mir ist nicht schlecht. Ausatmen. Ich glaube, ich geh mal raus und hole mir einen Anis-Fenchel-Kümmeltee. Draußen studiere ich die Pinnwand, den Tee in der einen, den Ständer in der anderen Hand. Reklame für Kopftücher, Stricken für die Psyche, Malen für die Psyche, Modellbauen für die Psyche, Ernährung bei Krebs. Irgendwann kommt die Schwester raus, berührt mich am Arm und senkt die Stimme.
„Gehen Sie lieber zwei Räume weiter, wenn Sie aufs Klo müssen. Ich schicke jemanden zum Putzen.“
Er lächelt mir schief entgegen.
„Na?“, sage ich.
„Besser.“
„Vielleicht nehmen Sie beim nächsten Mal doch lieber das Cortison.“
„Ja, ja.“
Ich stelle meine Tasse ab und bleibe einen Moment am Fenster stehen. Die Sonne berührt schon fast die Häuser. Er sieht mich von der Seite an.
„Und, ist es schlimm bei Ihnen?“
Im ersten Moment weiß ich nicht, was er meint. Bis mir klar wird, dass das die Frage ist, die wir uns hier ständig gegenseitig stellen, mal mehr, mal weniger direkt.
Ich zucke mit den Schultern.
„Naja, chronisch halt. Aber noch zwei Durchgänge und dann habe ich wahrscheinlich ein paar Jahre Ruhe. Und bei Ihnen?“
„Ich hoffe, ich hab für immer Ruhe, wenn ich mit dem Scheiß hier durch bin. Sie sind nicht heilbar?“
„Nein. Aber auch nicht nächste Woche tot.“
„Na, das wollen wir doch hoffen.“
„Ja.“
Ich setze mich wieder hin. Solange ich stehe, tropft es zu langsam. Für die optimale Wirkung muss die Flüssigkeit innerhalb einer halben Stunde drin sein.
Eine Zeitlang hört man nur das Gepiepe aus den Nebenräumen und die eiligen Schritte der Schwestern auf dem Flur, dann räuspert er sich.
„Zeichnen Sie öfter?“
„Eigentlich nicht. Früher mal.“
„Komisch, was? Jetzt, wo man auf einmal so viel Zeit hat, kommt man auf dumme Gedanken. Ich hab' mir 'ne Dart-Scheibe aufgehängt. Kann ich Stunden mit verbringen.“
„Haben Sie viel gearbeitet?“
„Das kann man wohl sagen. Ich hab gekocht, im Pierrot.“
„Im Pierrot. Echt, da sind Sie Koch?“
„War.“
„Aha.“
Er sieht mich irritiert an.
„Haben Sie da schlechte Erfahrungen gemacht?“
„Nein, nein. Da hab ich mit meiner Schwester gegessen, vor einem Dreivierteljahr ungefähr. Am Abend vor der Diagnose.“
„Oh, ja, da war ich noch da. War wohl so eine Art Henkersmahlzeit was?“
„Um ehrlich zu sein, kann ich mich gar nicht mehr an das Essen erinnern.“
„Macht nichts. Falls ich irgendwann wieder was schmecken kann, koche ich noch mal für Sie. Und wieso haben Sie jetzt ausgerechnet mich gemalt?“
Weil ich spazieren gehen konnte, in seinem schlafenden Gesicht, wie in einer Landschaft.
„Weil Sie so schön stillgehalten haben.“
„Aha, soso, hm.“
Er zeigt auf seine tröpfelnde Flasche.
„Das muss an dem Zeug liegen. Normalerweise schlafe ich nie ein, wenn jemand neben mir wach ist. Selbst bei meiner Ex-Frau habe ich immer gewartet, bis sie eingeschlafen war, und dann konnte ich schlafen.“
„Das klingt aber anstrengend.“
„Ist es auch.“
„Und wissen Sie warum das so ist?“
„Ich glaub, ja.“ Er sieht an mir vorbei auf das große Foto an der Wand, das mit den Palmen und dem Meer. Ich frage nicht weiter. Dieses Gespräch gerät an seine Grenze, denn das Gift schwächt nicht nur unsere Körper. Vielleicht würde er mir seine Geschichte erzählen, aber sie ist bestimmt nicht erbaulich. Und meine Seele krümmt sich zur Zeit weg von allem, was nicht erbaulich ist. Vielleicht sogar weg von allem, was Leben ist.
Er deutet mit dem Finger auf meine Flasche.
„Tropft nicht mehr.“
Der Beutel ist noch halb voll. Ich drehe mein Handgelenk in alle Richtungen, schüttele am Schlauch. Er guckt zu.
„Drehen Sie mal an dem kleinen Rad.“
„Das darf man nicht.“ Ich drücke die Klingel. Wir warten eine Weile, aber niemand kommt. Schließlich beugt er sich vor.
„Ach, probieren Sie's doch. Was soll passieren? Ist schlecht, wenn das Ding leer läuft.“
Ich drehe bis zum Anschlag, aber es hilft nicht.
Als die Schwester kommt, versucht sie es auch zuerst am Rad und wirft mir einen irritierten Blick zu. Dann fummelt sie eine Weile rum, bis es wieder tropft.
„Na bitte, wer sagt's denn.“
Bevor sie geht, befreit sie ihn von seinem Zugang und knipst das Licht an. Wenn die Sonne hinter den Häusern versunken ist, wird es schnell dunkel. Jetzt wirbeln Schneeflocken gegen das Fenster. Er geht aufs Klo. Immer eine Wohltat, nicht mehr mit dem Infusionsständer hantieren zu müssen. Ich ziehe die Decke ein Stück höher. Das Licht strengt meine Augen an, und ich kann nicht mehr richtig denken.
Als er wiederkommt, greift er nach seinem Mantel und zögert.
Ich lächle mein „Na, dann alles Gute für Sie“-Lächeln und will ihm alles Gute wünschen, aber er bleibt stehen und holt sein Smartphone raus.
„Kann ich noch ein Bild machen von Ihrer Zeichnung?“
„Ich würde sie Ihnen ja schenken, aber auf der Rückseite sind meine Blutwerte.“
„Schenken Sie sie mir. Sie kriegen bestimmt bald wieder neue Blutwerte. Bessere.“
„Ja vielleicht, aber ...“
„Halten Sie das Blatt mal hoch.“
Ich ziehe die Zeichnung aus meinem Buch, halte sie ihm hin und er tippt auf den Auslöser. Schwankt er?
„Blaue Ohren.“ Er lacht leise. „Was wollen Sie denn haben für das Original?“
„Das ist doch bloß eine Skizze.“
„Ich hätte sie aber gerne. Das ist echt 'ne gute Zeichnung. Also, sagen Sie ruhig."
„Nein, ich will nichts dafür, ich schenk sie Ihnen.“
Als er weg ist, lasse ich mich nach hinten sinken und betrachte die fallenden Tropfen im Glaszylinder. Ich denke an den Dänen und wie er sich gefreut hat über das Bild. Obwohl es ihm nicht gerade geschmeichelt hat. Vielleicht hätte er mir noch Gesellschaft geleistet, aber dann hat ihn ein Freund abgeholt. So einer in Jack Wolfskin-Jacke, der wahrscheinlich die drei Stockwerke mit federnden Schritten hochgelaufen ist. Er roch nach geschmolzenem Schnee und hatte es eilig hier rauszukommen. Jetzt ist es ziemlich ruhig auf der Station. Vereinzelt hört man es piepsen. Bestimmt bin ich die Vorletzte oder so. Ich könnte mein Buch rausholen. Könnte. Meine Augen brennen. Hoffentlich dauert das gleich nicht so lange mit dem Taxi. Das tropft wieder zu langsam. Wie dunkel das draußen ist. Tropf doch schneller. Wie hieß er eigentlich? Scheppern vom Flur. Sie räumen die Getränke weg. Ein leiser Aufschrei. Etwas zerschellt am Boden. Dann werden Scherben zusammengekehrt.