D-Day
Es war Punkt 17.00, als Friedrich Steiner seine schicke Villa in der Claudiastrasse verließ und den Motor seines silberfarbenen Cadillacs startete. „D – Day“, sagte er beinahe schon laut zu sich selbst und setzte sich in Richtung Innenstadt in Bewegung.
***
Die HYPO – Bank am Bozner Platz liegt etwa 30 Gehminuten von Peter Ritters kleiner Wohnung in der Fritz – Pregl Strasse entfernt. Dennoch hatte Herr Ritter sich dazu entschlossen, diese Strecke zu Fuß zurückzulegen, schließlich wollte er auch mit seinen 45 Jährchen noch entsprechend in Form bleiben und wenn man es sich so recht überlegte, wäre er in diesem Verkehrslabyrinth zur Stoßzeit mit dem Auto wahrscheinlich gar nicht einmal wesentlich schneller gewesen.
Trotzdem: Wäre Anna nicht gewesen, hätte Peter wohl nicht die erforderliche Konsequenz an den Tag gelegt. Anna, für die er schon so viele Opfer gebracht, die er über so viele Jahre hindurch verehrt hatte ohne je ein Wort darüber zu verlieren, ohne eine Miene zu verziehen und ohne seinen brodelnden Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Ein Anflug von Wut überkam ihn jetzt, als er daran dachte, dass er all diese Verrenkungen für ein menschgewordenes Schwein gemacht hatte, für dieses elenden Schwein, das er für seinen besten Freund gehalten und das sich als brutaler Schläger entpuppt hatte.Angewidert vom alleinigen Gedanken daran schloss er seinen großen Tresor in der Hauptbank und machte sich auf den Weg in Richtung Fritz - Preglstrasse.
***
Mit Ausnahme des Verkehrsstaus, den er ein paar Minuten später erwartet hätte, passte alles genau in Friedrich Steiners Plan. So wie er es gewohnt war. So wie er es überall in seinem Leben erwartete. In der Arbeit, bei seinen Geschäften und auch in der Liebe. In der Liebe… ja, da war es ihm zum Verhängnis geworden. Aber auch nur wegen dieser Arschgeige von Peter, die nach über 10 Jahren einfach in seine Ehe geplatzt war und dann noch die Frechheit besaß, sich als sein Freund auszugeben! Das würde er ihm heimzahlen, diesem Schuft! Das würde er ihn büßen lassen. Lange genug hatte er auf diesen Moment der Rache gewartet. Heute war endlich der Tag dafür da.
***
Giovanni und Luca saßen in ihrem schwarzen Trans am mit getönten Scheiben und starrten auf die fast menschenleere Strasse hinaus. Mit ihren Armani – Anzügen, Goldringen und Ray – Ban Sonnenbrillen wären sie für die Hauptrollen im „Paten“ prädestiniert gewesen. Beide trugen schwarze Lederhandschuhe und hielten unter den beiden Zeitungen, in die sie vorgaben, vertieft zu sein, jeweils eine Beretta mit Schalldämpfer versteckt. Sie warteten auf die Übergabe. Noch genau 10 Minuten lang.
***
Zuerst würde er die Sache mit Karl erledigen. Das wäre am Einfachsten. Dann kämen die Nudelbrüder in der Adamgasse an die Reihe. Bei der Hauptpost würde er seinen Cadillac gegen einen Opel eintauschen und dann, wenn er sich sicher sein konnte, dass er für die beiden Spaghettifresser nicht mehr auffindbar war, könnte er endlich seine alte Rechnung begleichen. Der alleinige Gedanke daran ließ sein Herz wahre Purzelbäume schlagen. Und der Adrenalinstoß, der ihn überkam, als er an jetzt an der HYPO - Bank vorbeizischte, hatte beinahe schon etwas Orgiastisches.
***
Peter Ritter machte wie jeden Tag nach seiner Arbeit noch einen kurzen Abstecher zu seiner Anna. Trotz sechsmonatiger Beziehung waren die beiden noch nicht zusammengezogen, woran sich so schnell auch nichts ändern würde. Anna war einfach vorsichtig geworden. Verständlich. Sie wollte nicht noch einmal dasselbe Martyrium erleben.
Langsam und leise, fast wie ein Schatten, schlich sie jetzt zur Tür und winkte ihren Peter zu sich herein. Lange hatte sie auch nach der Trennung noch Angst vor ihrem Ex – Mann gehabt, Namensänderung, Wohnungs-, – und sogar Ortswechsel überlegt. Und doch hatte Friedrich sich überraschend ruhig verhalten. Keine Drohungen, keine Anrufe, noch nicht einmal ein verändertes Verhalten ihrem gemeinsamen Kind gegenüber hatte sie ausmachen können. Und wenn sie ehrlich war, war es genau das, was sie jetzt so beunruhigte.
„Schatz, du hast ja noch nicht einmal mein Geschenk ausgepackt“ Peter schien ein wenig enttäuscht zu sein.
„Es, es … tut mir leid“ stammelte sie. „Du weißt schon, der Karl … und dann noch der Stress auf der Arbeit“
„Ist ja gut“ Er nahm sie sanft in den Arm.
„War der Fred schon hier?“ Ein Schatten huschte über ihr Gesicht.
„Kommt erst am Samstag wieder“
„Na dann ist ja gut“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
Ja, sie hatte noch Kontakt zu ihrem Ex – Mann. Er kam sogar noch ab und zu auf Besuch. Wegen Karl, ihres gemeinsamen Sohns.
Als ob er die Last auf ihrer Seele spüren würde, setzte Peter hinzu:
„Du weißt ja, ich werd’ heute daheim sein. Nur die übliche, kleine Runde mit der Sylvie drehen, dann hau’ ich mich hin. Wenn magst, kannst mich ja anrufen“
Peter gab ihr einen dicken Kuss, gefolgt von einem intensiven, zärtlichen Blick und einem beinahe unmerklich gehauchten „Ich liebe dich“. Dann verschwand er ebenso rasch durch das Gartentor wie er gekommen war.
Anna konnte die Erleichterung darüber förmlich spüren. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, geborgen zu sein. Zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, wirklich geliebt zu werden. Lange noch, nachdem Peter schon wieder verschwunden war, blieb ihr sehnsüchtiger Blick am Fenster hängen.
Gerade als sie sich wieder umdrehen wollte, um die Glückstränen ais ihrem rechten Wangengrübchen zu wischen, sah sie den Schatten. Und gleich darauf ging der Motor an.
***
Das war ja gerade noch einmal gut gegangen! Friedrich Steiner rieb sich die Hände, als er jetzt in die Adamgasse einbog und an der vereinbarten Stelle den schwarzen Trans am entdeckte. Jetzt nur keinen Fehler machen! Langsam, beinahe geräuschlos hielt er an und kurbelte die rechte Autofensterscheibe hinunter. In der linken Hand hielt er den Geldkoffer bereit, seine Rechte umklammerte zitternd einen Revolver. Nur für den Fall, dass die beiden Probleme machen sollten. Im Grunde war alles genau durchdacht. Trotzdem begann er jetzt zu schwitzen, als die Mafiosi ihrerseits die Fensterscheibe herunterkurbelten. Was, wenn sie das Spiel durchschauten? Hektisch blickte er um sich. Die Adamgasse erschien ihm wie ausgestorben.
Mit einer kurzen, nervösen Handbewegung wischte er seinen letzten Gedanken beiseite und streckte vorsichtig den schwarzen Koffer aus dem Wagen. Sein Atem ging flach, das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Die wenigen Sekunden vom herausgestreckten Koffer bis zur Übernahme durch den Unterweltboss erschienen ihm wie eine kleine Ewigkeit. Dann sah er, wie der Empfänger seinem Kumpel das Zeichen gab, den Inhalt zu prüfen. D – Day. Jetzt half nur noch auf seinen Informanten zu vertrauen. Oder zu schießen. Er entschied sich für Ersteres. Der Stein, der ihm vom Herzen fiel, als der neue Kofferbesitzer ihm zunickte und die Fensterscheibe wieder schloss, hätte wohl in keinen größeren See mehr gepasst. Nahezu im selben Augenblick trat Friedrich Steiner das Gaspedal durch und raste in Richtung Stadtzentrum zurück. Er fühlte sich wie ein Marathonläufer ein paar Meter vor dem Ziel mit einem neuen Weltrekord vor Augen. Was er nicht wusste: Die Armani - Brüder hatten bereits die Verfolgung aufgenommen.
***
Für Friedrich gab es jetzt nur noch das eine Ziel: Rache. Egal, wie die Dinge sich später entwickeln, er würde seine offene Rechnung begleichen und dann die Stadt verlassen. Die Vorkehrungen dafür hatte er schon vor Wochen getroffen. Ein paar Tage bei einem alten Bekannten in Mailand unterschlupfen und dann ins Zentrum. Nahtlos an alte Zeiten anknüpfen.
Er musste beinahe kichern, als er jetzt ein paar hundert Meter vor dem Haus seiner Ex – Frau anhielt. Miss Ahnungslos! In 10 Jahren Ehe hatte sie nicht die Spur von seinem Doppelleben bemerkt und heute würde sie wohl sogar denken, dass er ihre Liaison mit diesem Penner akzeptiert hätte.
Er lachte sich ins Fäustchen, erhob sich und stieg kurz aus dem Auto, um Luft zu schnappen. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze. Fast wäre er versucht gewesen, in seinem Übermut noch ein zweites Mal mit dem Feuer zu spielen. Nahe genug an ihrem Haus wäre er gewesen. Aber dann gewann doch die Vernunft, seine gute alte Bekannte, wieder die Oberhand, ließ ihn umkehren und mit seinem frisch gestohlenen, grünen Opel Corsa in Richtung Preglstrasse düsen.
***
Als Peter Ritter in seiner Dachgeschoßwohnung ankam, begrüßte ihn seine Hündin Sylvie mit einem herzhaften Schwanzwedeln. „Da, schnapp!“ Peter warf ihr ein Hundekeks zu, stellte seine Aktentasche ab und setzte sich an den Schreibtisch. Wie immer um diese Zeit war es in seiner Gegend bereits recht ruhig und die einzigen Nachbarn, das wusste er, waren beide letzte Woche in Urlaub gefahren. Einem gemütlichen Fernsehabend stand also nichts mehr im Wege. Er kochte sich einen Tee, vergewisserte sich anschließend, dass die Herdplatte abgeschaltet war und widmete sich in aller Ruhe den Fernsehnachrichten.
***
Friedrich Steiner hatte das Haus seines Ex – Kollegen über 12 Wochen hindurch beobachtet. Er kannte dessen Gewohnheiten in der Zwischenzeit wahrscheinlich besser als seine eigenen Lieblingsspeisen und das hatte was zu bedeuten, denn in der Regel befasste sich Freidrich Steiner noch immer am Liebsten mit sich selbst. Dienstag, so schloss er aus seinen Aufzeichnungen, würde Peter wie auch in den vorangegangenen Wochen aller Voraussicht nach zu Hause bleiben, um kurz vor 23.00 seinen obligaten Abendspaziergang zu unternehmen. Der Unterschied: Diese Woche waren seine Nachbarn nicht da. Und: Diese Woche würde es beim Vorsatz bleiben. Der Gedanke daran bescherte Friedrich ein neuerliches Hochgefühl. Jetzt hieß es nur noch Geduld haben und warten.
***
Um Punkt 23.00 ging das Licht in der Dachgeschoßwohnung aus. Friedrich Steiner stand keinen halben Meter von der Haustür Ritters entfernt, gedeckt durch hochgewachsenes, riesiges Buschwerk und seine Pistole mit Schalldämpfer im Anschlag. Er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Die Luft um ihn herum schien trotz der relativen Kälte elektrisch aufgeladen.Er schnaufte ein letztes Mal tief durch und richtete dann seine ganze Aufmerksamkeit auf die Schritte im Treppenhaus.
***
Das Erste, das Peter Ritter hörte, als er das Licht ausmachte und seine Wohnungstür abschloss, war ein leises Knacken. Ein kurzes, leises Knacken, als ob jemand einen Zweig abgebrochen hätte. Er hielt kurz inne, dann drehte er sich wieder um, nahm seine Hündin an die Leine und führte sie durchs Treppenhaus hinunter. Etwa auf halber Höhe, 14 Stufen vor dem Ziel, ein neuerliches, kurzes Knacken und dann Schritte. Er zuckte zusammen. Jemand war auf seinem Grundstück unterwegs. Sollten die Nachbarn schon von ihrem Urlaub zurück sein? Irgendetwas irritierte ihn, doch war er nicht imstande, seinen Gedanken Form zu geben.
Vorsichtig, beinahe lautlos, schlich er mit Sylvie zur Haustür.
Dann ging alles sehr schnell. Ein Windstoß, fast wie ein tiefes Luftholen. Daraufhin ein dumpfer Schlag Und noch einer und noch einer.Der Schuss, der eine Millisekunde später folgte, erschien ihm bereits wie die Botschaft aus einer anderen Welt. Peter Ritter schaffte es gerade noch, die Haustür zu öffnen, dann kippte er vornüber in den Garten. Als Sylvie über seinen rechten Oberschenkel hinweg sprang, ergoss sich sein Mageninhalt bereits über die gesamte Einfahrt und machte auch vor der Leiche seines Freundes Friedrich Steiner nicht Halt.
***
Hauptkommissar Jürgen Sprenger vom Morddezernat saß in seinem gepolsterten Ohrsessel und blies kleine, blaue Rauchwölkchen in die Luft. Er fühlte sich ein wenig wie ein elegant gekleidetes Sherlock Holmes - Double, obwohl er weder Detektiv war noch einen kniffligen Fall gelöst hatte.
Das Glück, dass sich ein Täter eines fast perfekten Verbrechens am nächsten Tag den Polizeibeamten stellt, hat man vielleicht einmal in seiner Karriere. Manche werden es wohl nie erleben. Und doch war er sich beinahe sicher, dass er diesen Fall nicht hätte aufklären können.
Gut, die Verbindung zu den beiden Italienern herzustellen, wäre ihm vielleicht noch geglückt. Dann hätte er die Kontobewegungen untersucht, die ihn mit etwas Glück auf den Mafiaring gebracht hätten. Mit noch mehr Glück hätte er vielleicht vom Falschgeld erfahren, aber wie bitte schön, wie hätte er auf die Frau kommen sollen?
Er hätte sie bei einer Routineüberprüfung vernommen. Das ja. Um zu sehen, was sie von den Verbindungen ihres Ex- Manns wusste. Da hätte sie sich verraten können. Aber nie, so wenig er sich bei seiner Ermittlungsarbeit auch von seinen Gefühlen leiten ließ, nie hätte er diesem Häufchen Elend von sich aus einen Mord zugetraut – umso weniger, als das Sorgerechtsverfahren auch noch ganz zu ihren Gunsten verlief.
Und doch hatte sie den Mord gerade gestanden.
„Ich wollte das Glück nicht schon wieder verlieren“ hatte sie wie ein bedrohtes Hundewelpen gewimmert. Und „Ich wusste, dass er ihn umbringen wird. Ich kannte ihn. Ich durfte noch nicht einmal mit dem Briefträger reden, als wir noch zusammen waren“
Warum sie nicht zur Polizei gegangen sei während all der Jahre. Sie schaute ihn entgeistert an. Ein Kind, ein verschüchtertes Kind. Die Blutflecke auf ihrem Pullover wirkten im fahlen Licht der Halogenlampe wie ein unschuldiger Farbklecks.
Woher sie die plötzliche Kraft genommen habe. Für so wuchtige Schläge mit einem Baseballschläger brauche es ja ein gewisses Quantum an Kraft. Tränenschwangere Blicke. Sie schien es selbst nicht genau zu wissen.
„Ich habe geschlagen. Einfach nur geschlagen. Immer wieder auf ihn eingeschlagen“ hatte sie mir vor einer halben Stunde gesagt. „Und dabei nicht einmal bemerkt, dass der Peter in seinem Schock bewusstlos neben mir gelegen ist“ Fast wäre ihr auch der noch weggestorben.
Warum sie ausgerechnet gestern zum Peter gefahren sei. „Gefühl. Weibliche Intuition. Und dann habe ich da natürlich diesen Schatten gesehen und das Auto. Ich war nicht einmal sicher, dass er es war und schon gar nicht hätte ich daraus ableiten können, dass er ihn umbringen wollte, aber ich wusste in dem Moment, wenn auch nur die Möglichkeit einer Gefahr bestand, musste ich eingreifen. Er hatte mir schon genug zerstört“
Was sie gefühlt habe als sie den Ex – Mann am Grundstück vom Peter erblickt hat.
„Ekel … Ekel und Hass. Und so ein Er oder Ich – Gefühl“
Ob sie gewusst habe, dass er sie bemerken und umbringen hätte können. „Nein, daran habe ich im Moment nicht gedacht. Und wenn, dann wäre es mir, glaube ich, egal gewesen. Ich wollte einfach nur mein Glück retten.“ Und dann fast trotzig: „Außerdem hat er die ganze Zeit auf die Türe gestarrt. Mit einem Blitzangriff von hinten hat der gar nicht gerechnet “
Ihre Stimme klang brüchig. Ob sie wisse, was das jetzt für sie bedeute. Ein kurzer Moment des Innehaltens. Dann klappt sie zusammen und heult los. Wie ein Kind schluchzt diese 45 - jährige Frau im Vernehmungszimmer vor sich hin, hemmungslos und als gäbe es kein Morgen.
Hauptkommissar Sprenger schließt die Tür und zündet eine Kerze an. Er wünscht sich weg. Weit, weit, weg. Draußen beginnen die Regentropfen zu fallen.