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Dachfragen
Sie stand mit dem Rücken zu mir am Rand des Daches. Leicht vorgebeugt sah sie hinunter auf die Straße und dachte in sich hinein. Zu gern hätte ich ihr Gesicht gesehen.
Mit Sicherheit lag wieder dieser prüfende, skeptische Ausdruck darin, den ich so gern an ihr sah. Wahrscheinlich biss sie sich jetzt gerade auf den Lippen herum. So sah sie immer aus, wenn sie auf einem Gedanken brütete. Wenn die Gedanken ein gutes Ende nahmen, dann floss meist unvermittelt ein triumphierendes Lachen über ihr Gesicht und sie sagte Sachen wie "Ja, ich glaube, so ist es" oder "Ich habe es gefunden". Ganz klassisch. Und dann schlossen sich ihre Lippen meist – gerade so, als würden sie sich nie wieder öffnen wollen. Das war immer das Zeichen für mich, dass es zu diesem Thema nichts mehr zu sagen gab. Es war mir nicht immer leicht gefallen, ein Thema so abrupt zu beenden, aber ich hatte mich an ihre Art gewöhnt.
Manchmal, wenn es kein Happyend gab, kam sie auch einfach rüber zu mir und setzte sich auf meinen Schoß. Dann wirkte sie immer ganz verunsichert, beinahe verletzt. Ein kleines Mädchen, das nicht bekommen hatte, wonach es gelüstete. Eine Lösung. Ein kleines Mädchen, das nicht verstehen konnte, warum man manche Gedanken nicht auflösen konnte. Sie brauchte viel Nähe, wenn sie die Gedanken nicht hatte besiegen können. Fühlte sich hilflos. Klammerte sich dann immer wie ein kleines Äffchen an mich.
Wenn das Denken kein glückliches Ende nach sich zog, schlief sie nicht mit mir. Immer, wenn sie sich in ihre Gedankengemächer zurückzog, hoffte ich, sie würde eine Lösung finden, denn ich schlief gerne mit ihr. Umso mehr, wenn sie gerade eine Lösung erobert hatte. Dann gab sie sich mir im Bett mit einer triumphierenden Gewissheit hin und ich konnte Dinge mit ihr tun, die sie sonst ablehnte.
Am Anfang hatte ich nicht verstanden, was in ihr vorging. Warum sie es so persönlich nahm, wenn sie Fragen nicht beantworten konnte. Mehr als einmal waren uns diese Nächte anfangs entglitten. Mehr als einmal hatte es Tränen und Streit gegeben. Doch je besser ich sie kennen lernte, desto genauer wusste ich, wann sie was aus welchem Grund fühlte. Sie hatte der Welt nach ihrer eigenen Ansicht nicht viel entgegenzusetzen. Genau genommen nur ihren Geist, ihren Kopf. Eine Frage nicht beantworten, sich keine Erklärung überlegen zu können, war für sie ein Versagen vor der Welt. Sie war ein Boxer und die Welt war ihr Ring. Unbeantwortete Fragen, das bedeutete für sie gefährliche Aufwärtshaken. Und vor diesem Hintergrund konnte ich sie begreifen. Meine kleine Boxerin. So furchtlos, so unerschrocken, stürzte sich in jeden Kampf und kehrte dann verletzt und verwundert zu mir zurück, wenn sie einen Schwinger abbekommen hatte.
Wo der heutige Abend enden würde. Ich wusste es nicht. Gut möglich, dass ich am Ende der Nacht ein verwirrtes Häufchen Elend auf dem Schoß hatte. Sie war in ein seltsames Thema gerutscht. Physik. Eins ihrer Lieblingsthemen. Manchmal sah sie von dem Stück Fleisch auf ihrer Gabel zu mir herüber und begann, mir von den Newtonschen Axiomen und Vektoren zu erzählen. Ich hörte ihr gerne zu, hatte aber meistens nicht viel entgegenzusetzen. Meine Physikerfahrungen beschränkten sich auf die Schulzeit und die lag fast zwanzig Jahre hinter mir. Auf einer schicken Party hätte ich jedenfalls niemanden mit meinen Kenntnissen beeindrucken können.
Nach dem Essen waren wir mit dem Wein auf die Dachterrasse umgezogen. Die Luft war mild und wir brauchten keine Jacken. Es hatte sie nicht lange auf dem ausgeblichenen, hölzernen Liegestuhl gehalten, sie hatte sich bewegen müssen. Schlenderte auf der Terrasse hin und her, "um ihrem Kopf die Möglichkeit zu geben, sich die Gedanken von allen Seiten anschauen zu können", wie sie einmal gesagt hatte. Das machte sie immer so.
"Na, ich weiß nicht so recht. Bist Du sicher?", fragte ich und füllte unsere Gläser auf.
"Verstehst Du überhaupt, was ich Dir sage?" Sie drehte sich abrupt zu mir um und ihr Gesicht hatte diesen unwirschen Ausdruck, den es immer bekam, wenn ich nicht schnell genug war. In meinem Kopf ging ein Alarm an. Jetzt nur nichts Falsches sagen, sonst wurde nicht aus dem Sex. Und ich war ausgesprochen scharf drauf, dass daraus etwas wurde. Wirklich. Den ganzen Abend schon hatte ich Lust auf sie und diese unverhoffte Gedankentour kam mir nicht gelegen. Sie sah hinreißend aus in ihrem dünnen Hemdchen, durch das man ihre Brustwarzen sah, und der engen Jogginghose. Ich überlegte, was ich sagen könnte, um die Kurve zu kriegen. Die vorsichtige Nummer schien mir am ungefährlichsten.
"Nein, vielleicht verstehe ich es wirklich nicht. Erklär' es mir noch mal."
Sie wurde ungeduldig. "Was gibt es denn da nicht zu verstehen?! Das ist der Energieerhaltungssatz!"
Oh, natürlich! Der Energieerhaltungssatz! Wie hatte ich den nicht verstehen können? Ich fühlte mich wie ein Schuljunge und das gefiel mir nicht.
"Ist doch ganz einfach! Wenn ich vom Dach falle, wird beim Aufprall Energie frei. Und die Energie wird dann zu Wärme oder so. Irgendein Verwendungszweck findet sich schon für den Energieabfall, der aus meinem zermatschten Körper quillt. Die Energie ist jedenfalls nicht weg. Bleibt immer erhalten."
Sie hatte sich wieder umgedreht und legte sich jetzt auf den Bauch. Das Weinglas stand neben ihr und ihr Kinn ruhte auf ihren Händen, die flach auf dem Dach lagen. Ihre Nasenspitze ragte über den Rand des Daches und sie sprach wieder ruhiger.
"Die Welt ist doch ein geschlossenes System. Da geht nichts verloren. Ist wie ein Ameisenstaat in einem luftdicht verschlossenen Einweckglas. Da stirbt mal eine Ameise und eine andere lässt einen Furz. Die Ameise hat durch den Furz etwas verloren, aber es bleibt immer alles im Glas. Die Energie, die frei wird, wenn sich mein Körper in Mus verwandelt, könnte einer Blume beim Wachsen helfen. Oder der Kuh, die die Blume frisst, beim Milchgeben. Oder dem Kind, das die Milch trinkt, beim Hausaufgabenmachen. Verstehst Du, Baby? Nichts vergeht. Alles ist immer da."
"Entschuldige, Süße, dass ich hier unterbreche, aber Du wärst vergangen, wenn Du Mus wärst. Für mich wärst Du weg. Und – mit Verlaub – ich hätte etwas dagegen. Wie willst Du erhalten bleiben, außer in Form einer Erinnerung?" Ich zündete mir eine Zigarette an, betrachtete ihren Po und überlegte mir, wie ich sie gerne nehmen würde.
"Du musst das doch viel globaler sehen, Schätzchen. Natürlich wäre ich für Dich gewissermaßen weg, aber die Energie meines Körpers wäre noch da. Nicht sichtbar, natürlich, aber sie wäre noch da. Sie würde eingetauscht werden. Ja, ich glaube, so kann man das sagen. Energie als Währung. Das ist so einfach, Du musst das jetzt, bitte, verstehen, ja?" Und sie drehte den Kopf, sah mich an mit diesen großen, erwartungsvollen Augen, als würde sie auf ein "April, April" meinerseits warten. Ein Zeichen, dass ich bislang nur so getan hatte, als hätte ich nicht verstanden, was sie mir zu sagen versuchte.
Und das Schlimme daran war, dass es genau so war. In ihrer kindlichen Naivität waren für sie viele Dinge so einfach, die für mich unbegreiflich waren. Für einen kurzen Moment flackerte ein Bild vor meinem geistigen Auge auf. Ihr zerschmetterter Körper, ihr zarter, kleiner Kinderkörper, acht Stockwerke tiefer auf dem Bürgersteig. Die Menschen, die vorübergingen, würden nach dem Rettungswagen schreien. Mein Magen fühlte sich an, als wühle eine große Faust darin herum, und ich wischte mir mit der Hand über die Stirn, um das Bild zu verscheuchen.
"Ich will mir Dich aber in keiner anderen Form vorstellen. Du sollst genauso wie Du bist bei mir sein und bleiben." Ich wurde trotzig. Das Bild in meinem Kopf hatte mir eine trockene Kehle gemacht und ich wollte diese Diskussion zu einem Ende bringen. In diesem Moment wäre es mir sogar recht gewesen, wenn sie als Elend auf meinem Schoß endete. Ich wollte sie bei mir haben. Die zwei, drei Meter, die uns in diesem Moment trennten, schienen mir viel zu viel. Sie sollte in meiner Nähe sein. Ich wollte sie riechen können, meine Nase in ihrem langen Haar vergraben und mich vergewissern, dass sie kein Glas Milch oder eine Blume geworden war.
Sie lächelte mich kurz an und das unangenehme Gefühl in mir wurde erträglich.
"Ich bin doch auch da, Baby. Und ich habe auch nicht vor, das so schnell zu ändern. Aber trotzdem – vielleicht ist alles nur eine Frage des passenden Substituts."
Ich musste an den alten Song "Substitute for love" denken. "Was meinst Du damit schon wieder?", fragte ich.
Sie schaute wieder auf die Straße hinunter, diesmal auf die Ellenbogen gestützt.
"Ist doch ganz einfach." Oh, wie ich es hasste, wenn sie das sagte. Ja, für sie war immer alles ganz einfach. "Wenn sowieso alles aus derselben Energie besteht, ist es doch eigentlich egal, wer an unserer Seite ist, oder? Ja, schon gut, es ist natürlich nicht völlig egal. Ich würde keinen anderen an meiner Seite dulden als Dich. Aber rein theoretisch. Der Energieerhaltungssatz relativiert doch eigentlich alles. Salopp gesprochen sind wir alle aus derselben Pampe. Meine Energie wäre also nach meinem Tod nicht mehr konzentriert in meinem Körper, sondern überall gleichermaßen. An jeder Ecke könnte Dir meine Energie begegnen. Du könntest Dir auch eine neue Frau nehmen, weil meine Energie ja bei Dir bleibt. Sie bleibt auch bei dem Postboten und bei Deinem Auto und bei dem Elefant im Zoo." Sie schaute mich eine Sekunde an, zweifellos in Erwartung einer geistreichen Bemerkung. Doch die blieb aus und so brummte sie nur und schaute wieder über den Dachrand.
"Weißt Du, woran ich dabei denken muss?" Ich musste mich zusammenreißen, um auf ihre Frage zu reagieren, weil mir das Thema nicht behagte. Also fragte ich nur "Hm?".
"Ich finde diese Fragen fast religiös. Meinst Du, dass Religion am Ende nichts weiter ist als schnöde Physik? Oder dass der Energieerhaltungssatz möglicherweise der Sehnsucht nach Glauben entsprungen ist?"
Großartig. Sie war bei dem philosophischen Dessert angekommen. Der Abend war gelaufen. Aus der Traum von berauschendem Sex, in dessen Verlauf ich meinen Kopf zwischen ihren Schenkeln zu vergraben gedacht hatte. Auf philosophische Fragen gab es keine Antwort, und hierin lag zweifellos der Grund, warum ich mit der Philosophie nie warm geworden war. Ich wollte nicht mehr. Wollte ihrem Geist nicht mehr folgen. Es gibt eine Zeit für den Geist und eine Zeit für den Körper, und meine Körperzeit war jetzt.
"Komm her", sagte ich und streckte ihr die Hand hin. Sie stand auf und ihr Gesicht verriet, dass ihr jetzt nicht nach körperlicher Nähe zumute war. Aber sie ließ sich von mir auf meinen Schoß ziehen.
Ich vergrub mein Gesicht in ihren Haaren, die nach Mandel dufteten. Betrachtete eine Weile ihr Profil und strich ihr einzelne Strähnen aus dem Gesicht. "Was machst Du eigentlich, wenn ich Dich irgendwann langweile?"
Sie stand auf, hob ihr Weinglas vom Dach und setzte sich in ihren Lehnstuhl. Nahm einen Schluck Wein. Zündete sich eine Zigarette an. Sah mich an.
"Etwas anderes", sagte sie.
Ich nickte und wir rauchten schweigend und schauten auf die Lichter der nächtlichen Stadt.
Sie ist in dieser Nacht nicht vom Dach gefallen. Nicht in dieser.