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Dada
Lange hatte ich mich damit gequält und mir mein Hirn zermartert, wie ich mit meinen Eltern sprechen sollte. Ich dachte bis dato, dass meine Ausdrucksmöglichkeiten zu lapidar für die grundlegendsten Formen ihrer Konversation wären, und hatte mich deswegen lange Zeit in ein stilles, beobachtendes Schweigen gehüllt. Als ich schließlich zwei Jahre alt geworden war, da wagte ich es zum ersten Mal. Ich sagte:
“Ich will Bier!“
Diesen Satz hatte ich mir von meinem Vater abgeguckt. Er pflegte damit das Gespräch mit Mutter zu eröffnen, wenn er werktags nach Hause kam. Sie griff danach reflexartig in den Kühlschrank, um mit zwei Flaschen Bier und seinem Essen an den Tisch zu kommen. Auch heute langte sie gedankenverloren an die Tür, um sich dann plötzlich mit einem Ruck nach mir umzudrehen.
“Ich bin heute total bescheuert!“, sagte sie und fasste sich dabei an den Kopf.
Diese Geste erinnerte mich stark an ihre morgendlichen Migräne- und Übelkeitsattacken. Erstaunt blickte sie mich und meine Bauklötzchen an und setzte sich mir gegenüber auf die Knie. Weil ich gerade meinen Turm – eine läppische mathematische Fingerübung, bei der die Würfel zueinander alternierend um die Beträge der ersten sieben Primzahlen verdreht übereinander gestapelt waren – vollendet hatte, zeigte ich in einem Anflug schöpferischen Stolzes mit meiner ausgestreckten rechten Hand darauf. Weil ich aber diesen leblosen Stapel Klötzchen russischer Bauart nicht mit einem Ausdruck wie 'et voilà' verwirren wollte, beschränkte ich die zweite Artikulation meines Lebens auf ein simples:
“Da!“
Irgendwie schien Madame aber meinem Bauwerk auf diesen Ausruf hin keine Beachtung zu schenken. Ich hatte doch nicht in der Eile den falschen Ausdruck für die zeigende Angabe eines Ortes gewählt? Ich fühlte mich plötzlich etwas verunsichert, schließlich war es gerade das erste Mal, dass ich sprach. Um sicher zu gehen wiederholte ich meinen Ausspruch und unterstrich diesen mit einer etwas weiter ausladenden Geste in Richtung Turm:
“Da!“
Ich war wohl etwas zu jugendlich enthusiastisch im Gebrauch mit meiner Gestik, weil ich dabei leicht diesen Wendelstapel touchierte und der infolgedessen in sich zusammenstürzte. Meine Mutter schien selbst das nicht zu bemerken, sondern fixierte mich weiter mit ihren wissbegierigen Augen. Sie fragte mich mit einem ihrer süßlichen Kleinkinderhimmelblicke:
“Da-da?“
'Da-da?' Ich überlegte – dieses Wort war mir nicht geläufig. Sicher wieder eines dieser Fremdwörter, die sie mir gegenüber in ihrer Sprache öfter mal gebrauchten. Sie mischten einfach ein beiläufiges 'Duziduzi' oder 'Düdüdü' unter ihre Worte, und ich war wieder ganz perplex, weil sich mir das Verständnis ihrer Ausdrucksweisen völlig entzog. Ich wollte mir aber nicht sofort zu Beginn meiner Sprechkarriere Fehler oder ein Unverständnis der einfachsten Fremdwörter nachsagen lassen, so legte ich meine Stirn in tiefe Grübelfalten und tat so, als hätte meine Mutter eben nicht zu mir gesprochen.
“Dada?“, sagte sie noch einmal.
Die Ablenkungstaktik schien heute nicht zu greifen. Sie machte es mir wirklich nicht einfach, mit ihr eine vernünftige Konversation zu führen. Was zum Henker konnte dieses eigenartige 'Dada' nur bedeuten? Ich versuchte meine Unsicherheit zu überspielen und schnappte mir einen der Klötze um ablenkend den Bolero aus dem Radio zu synkopieren.
“Scha-atz? Kommst du mal?“
“Was ist denn?“
“Ich glaube, sie hat gerade gesprochen!“
“Wer? Unser kleines Schnuckiputziwacki?“
Jetzt waren es vier große Elternaugen, die mich begafften, als hätte ich gerade unseren Schäferhund verschluckt. Ich rätselte aber noch über das letzte Wortgebilde, das mir gegenüber wieder als Substitution meines Vornamens gefallen war. 'Schnuckiputziwacki'. Die Etymologie dieses Ausdrucks versperrte sich erfolgreich allen Wortstrukturen, die ich in meiner kurzen Lebensspanne bisher aufschnappen konnte.
“Sie hat gerade 'Dada' gesagt“, wiederholte meine Mutter mit einem breiten Grinsen, wobei sie meinen Vater vergnügt in die Seite stupste.
Meine grauen Zellen begannen verzweifelt die Situation zu analysieren: Meine Mutter findet den Ausdruck 'Dada' offensichtlich amüsant. Demnach konnte es also nur etwas Lustiges, etwas Zweideutiges, etwas Anrüchiges sein, oder es war schlichtweg falsch. Mein Vater fand es dagegen nicht gerade lustig, also war es sicher nicht anrüchig. Vermutlich war es also falsch oder – sehr wahrscheinlich – zweideutig. Damit befand ich mich nun wirklich in der Zwickmühle: Ich kannte keine der beiden Bedeutungen. Wie konnte ich diesen Stummel eines Gesprächs zum Glühen bringen, ohne mir dabei selbst die Finger zu verbrennen? Gerade als ich mir noch überlegte, ob ich sie nicht darauf hinweisen sollte, dass ich eigentlich um etwas Bier gebeten hatte, entgegnete mein Vater enttäuscht:
“Nein, sie spricht immer noch nicht.“
“Ich hab aber was gehört! Ganz sicher.“
“Wirklich? Vielleicht hast du es dir nur gedacht. Das mit dem Sprechen kommt schon noch! Bülülülülü.“
Alleine schon der Tonfall dieses letzten Ausdrucks meines Vaters hatte etwas Beruhigendes, Weises, unergründlich Tiefes, so dass ich ohne Kenntnis ihrer Erwachsenensprache sein Verständnis aus diesem lyrisch lautmalenden, in sich geschlossenen Einwortsatz empfinden konnte. Wegen ihres Sprachgefühls musste ich meine Eltern wirklich bewundern.
“Komm, du hörst dich fast schon so an wie unser Kinderarzt: Irgendwann einmal sprechen sie alle ...“
Es war gemein, mich an den Arzt zu erinnern. Bei unserem letzten Termin hatte ich mir kurz überlegt, diesem verständigen Manne ein paar Fragen hinsichtlich meiner weiteren infantilen und präepubertären Entwicklung zu stellen, bis dieser gelangweilt meinte, kleine Kinder gäben zunächst sowieso nur Quark von sich, wenn sie denn endlich einmal sprächen. Meine Eltern sollten sich nicht zu viel von mir als Wunderkind erwarten. Auch wäre es nicht ungewöhnlich, dass ich als Mädchen ständig gegen den Fußball meines Vaters drosch. Auf diesen Dämpfer hin beschloss ich damals, mit meinen kommunikativen Gehversuchen noch etwas zu warten.
Fieberhaft überlegte ich - damals wie heute – ob ich sie nicht mit einem sinntiefen alliterierenden Vers ihrer ungewöhnlichsten Fremdwörter im Hexameter verblüffen sollte, und so die Aussage des Arztes zu konterkarieren. Eigentlich wollte ich die Zeile mit einem 'böböböbö' beginnen, war mir aber nicht mehr ganz sicher, wie oft ich nun mit den Fingern meine Lippen dazu berühren müsste, und vor allem, wie dies in Einklang mit dem Versmaß zu bringen war, als meine Mutter meinte:
“Ach, egal! Unsere Schnuckimausi kriegt jetzt ihr Fläschili zu trinki.“
Fläschili? Also wieder das weiße Zeugs. Flaschi war dagegen ein Synonym für ihren wässrigen Kindertee. Zumindest das hatte ich bereits herausbekommen. Ich kriege also kein Bier? Ärgerlich. Manchmal bekam ich zwar indirekt etwas mit der abendlichen Muttermilch ab, aber gerade deswegen interessierte es mich brennend, wie Bier – genauso wie alles andere, womit Papa sich umgab – in Reinform schmeckte. Etwas wusste ich aber schon: Es musste bitter schmecken und die Blähungen, die man davon bekam, machten einen nachher sehr müde. Leider konnte ich bislang die genaue chemische Zusammensetzung noch nicht mit meinem Mund analysieren. Die meisten anderen Dinge in unserer Wohnung hatte ich dagegen schon einmal getestet.
Aber ehe ich mich versah, war ich schon wieder auf meinen Idiotenessstuhl gehievt, und Mutter schüttelte meine geschmacklose lila Blümchenschnullerflasche mit entsprechendem Inhalt. Ich hatte heute aber wirklich keine Lust, mich mit dieser blöden Pampe abspeisen zu lassen, die genauso fade wie die eigenartigen Obst- und Gemüse-Gläser schmeckte, deren Inhalt ich sonst weitestgehend nach den Prinzipien zeitgenössischer Gestaltungsweisen über unsere weiße Tapete verteilte. So legte ich mir kurz eine passende Formulierung zurecht und begann mit meinem Einwand: “A...“
Weiter kam ich nicht. Mutter erdrückte meine Argumente mit dem Schnuller und ertränkte meine Worte in Milchersatz. Ich stemmte mich dagegen und schaffte es gerade noch, die Flasche von einem tieferen Eindringen in meinen Rachen abzuhalten. Der Brechreiz war ohnehin schon ausgeprägt genug.
“Sieh her, Schatz: Unsere Kleine kann schon ganz alleine die Flasche halten!“
Ich benötigte meine ganze Konzentration, um nicht an dem Gesöff zu ersticken. Auch durfte ich wegen Papi nicht mein Marion Jones Trikot besudeln. Aus dem Wohnzimmer kam jedoch nur ein wissendes 'Ja-a' von Vater, der es schaffte, gleichzeitig Fußball zu gucken und dabei – ohne sich umzudrehen – beobachten konnte, wie ich trank. Manchmal schaffte er dieses Kunststück sogar durch die Wand. Ich bewunderte ihn dafür. Er konnte dies fast mit der gleichen schlafwandlerischen Sicherheit, wie er es schaffte, Mutters Fragen mit Dingen zu beantworten, bei denen ich immer noch keinen direkten kausalen Zusammenhang erkennen konnte, so wie in diesem Moment schon wieder:
“Schatz? Wo steckst du gerade?“
“Ja?“
“Hilfst du mir beim Spülen?“
“Fußball!“
“Bringst du dein Geschirr heraus?“
“Länderspiel, einsnull, noch zehn Minuten!“
Mutter hob mich an und nahm mich auf den Arm, als sie in unser Wohnzimmer ging. Da Vater fern sah, durfte ich nun sicher Zeuge ihrer Meisterschaft werden, Vaters Antworten direkt aus seinem Mienenmikado zu saugen oder aus der orakelhaften Modulation dieses Wortes mit seiner monströsen männlichen Bedeutungsfülle herauszuhorchen.
“Scha-atz?“
“mmmh“
Vater betrachtete regungslos den Fernsehschirm.
“Ich hab heute ein wunderbares Paar Schuhe im Kaufhaus entdeckt, so ein rotes, mit ganz raffinierten Riemchen.“
“mmmh“
“Ach, das hat mir unglaublich gut gefallen. Es würde sicher gut zu meinem Abendkleid passen, findest du nicht auch?“
“mmmh“
“Wenn es nur nicht so teuer wäre! Ich wollte es fast schon kaufen, aber dann ist mir eingefallen, dass wir dieses Jahr sehr knapp sind. Ich glaube, es ist besser, ich warte damit noch ein bisschen, bis nach dem Urlaub, oder?“
“mmmh“
Ich verstand mal wieder Bahnhof. Sie dagegen hatte alle diffizilen Nuancen seiner illustren mmmh's ausgelotet und eindeutig ihrem unmissverständlichen Sinn zugeführt. Angesichts dieser Komplexität begriff ich erneut, dass ich noch eine Menge lernen musste, um in die schwierige Sprachwelt der Erwachsenen eindringen zu können, ohne mich dabei bis auf die Knochen zu blamieren. Vermutlich las meine Mutter nur deshalb gerade Goethes Dramen, um sich später mit mir verständigen zu können, wenn ich endlich so weit war, die einfachsten Dinge zu beherrschen. Für heute aber wollte ich mich mit dem neuesten Fremdwort zufrieden geben, das ich aufgeschnappt hatte. Als ich später endlich alleine war, da wagte ich es, da sprach ich zum ersten Male eines dieser Fremdwörter aus, obwohl ich seine Bedeutung immer noch nicht kannte. Ich sagte einmal leise: “Dada.“